24.11.2003. Der Ramadan geht zu Ende. Kairo sieht festlich aus. Aber irgendwas stimmte nicht: Warum kommen die Galabiyyas aus China? Muss der Imsakiyya wirklich per SMS geschickt werden? Und die Schwarze Wolke stört auch.
Zwei
Phänomene beschäftigen die Kairener dieser Tage. Beide gehören zum Standardrepertoire des Jahreskalenders der 17-Millionen-Metropole, beide haben nichts miteinander zu tun. Ihr zeitliches Zusammentreffen ist zufällig, aber in diesem Jahr begegneten sie einander an einer sehr empfindlichen Schnittstelle: Der Himmel war weg. Ausgerechnet an jenem so bedeutsamen Tag Ende Oktober, an dem die Scheichs der erhabenen
Al-Azhar in Kairo die Sichel des Neumondes am Himmel sichten wollten, die das eine Phänomen, den Fastenmonat
Ramadan, einläutet, breitete sich das andere Phänomen, die
Schwarze Wolke, über Kairo aus. Den Würdenträgern blieb nichts anderes übrig, als die Stadt zu verlassen und dorthin zu gehen, wo der Himmel klar und der Mond zu sehen war, unter anderem in die Nähe von Marsa Matrouh am Mittelmeer. Der vierwöchige Ramadan konnte beginnen.
Ramadan wie Schwarze Wolke ereignen sich jährlich, mit
schicksalhafter Regelmäßigkeit. Der Fastenmonat wandert dem kürzeren Mondjahr entsprechend durch den gregorianischen Kalender und verschiebt sich in jedem Jahr um zehn bzw. elf Tage, durch alle Jahreszeiten hindurch (eine etwas ältere, aber spannende Beschreibung des komplizierten Rituals der Bestimmung des Ramadanbeginns finden Sie
hier). Die Schwarze Wolke kommt immer zur selben Zeit in die Stadt, etwa in den Herbstmonaten Oktober/November, für ungefähr sechs Wochen. Seit 1999 erst ist das so, aber Jahr um Jahr verlieren die Leute ein Stückchen der
Hoffnung, sie könnte eines Tages ausbleiben.
Dem Fastenmonat hingegen wird überwiegend mit großer, ja nervöser Vorfreude begegnet. Selbst viele säkulare oder nachlässige
Muslime, die das Jahr ganze Jahr über nie beten und regelmäßig Alkohol trinken, fasten mit, wenigstens in den ersten Wochen. Der
Faszination Ramadan kann sich kaum jemand entziehen, und fast scheint es, als würden viele Kairener in diesen 30 Tagen besonders fromm sein wollen, um ein ganzes Jahr der kleinen und großen
Sünden wettzumachen. Im islamischen Monat Ramadan, so wird es tradiert, hat Gott die Tafel mit dem kompletten Koran auf den untersten Himmel hinabgelassen, und im Ramadan wurde dem Propheten Muhammad die erste Sure offenbart. Seit mehr als 13 Jahrhunderten ist den Kairenern der Fastenmonat deshalb heilig, viele
Standardrituale haben sich seit ewigen Zeiten kaum verändert. Und wie das so ist, wenn alles wie immer ist: Plötzlich treten die Veränderungen besonders deutlich und beunruhigend hervor. Als hätte jemand einen alten nostalgischen Film, den alle lieben, angehalten und beim genaueren Anschauen des Standbildes wird einem die ganze Misere klar. Es ist
dicke Luft in Kairo, und das nicht nur wegen der Schwarzen Wolke.
Jeder Kairener weiß, wie der Fastenmonat vor einem, zwei, zehn oder 50 Jahren war. Er kann sich an die Atmosphäre erinnern, an das, was auf den Tisch kam und womit die Leute den heiligen Monat verbrachten. Äußerlich ist auch in diesem Jahr alles normal. Die Straßen sind geschmückt. In Hauseingängen strahlen
Lichterketten. Kinder haben
Ramadanlaternen aufgehängt, die sogenannten Fawanies (Singular: Fanus). Besonders in den ärmeren Vierteln baumeln sie oft zwischen den Häusern, mitten über den schmalen Gassen zwischen bunten
Girlanden. Einsam blinken
Schwippbögen noch weit nach Mitternacht in den Fenstern und tauchen den Staub der Fassaden in ein romantisches Licht. Kairo im Ramadan ist an vielen Orten wie verzaubert. Der Fastenmonat hält das Geschehen in dieser Riesenstadt fest im Griff.
Am Nachmittag verstopft ein einziger großer Superstau alle Straßen, weil die Leute nach Hause eilen, um rechtzeitig beim Sonnenuntergang zum
Iftar, dem täglichen Fastenbrechen, am Tisch zu sitzen. Auf Plätzen und Bürgersteigen werden die
Mawa'id ur-Rahman gedeckt, die Tische des Barmherzigen, an denen private Spender mittellose Kairener mit dem Iftar versorgen, oft mehrere Tausend Portionen pro Abend und Ort. Anderthalb Stunden nach dem gemeinsamen Essen ertönt leises Gemurmel aus allen Moscheen, wenn das traditionelle
Tarawih-Gebet stattfindet. Es dauert mindestens eine Stunde, da an jedem Abend ein Dreißigstel des Korans rezitiert wird. Mehr Männer als sonst tragen die eher unüblich gewordene Galabiyya, das weite traditionelle Kleid, das bis an die Knöchel runterreicht. Zeitgleich kehrt abends das Leben zurück in die Stadt. Die Geschäfte öffnen ein zweites Mal, oft bis weit nach Mitternacht. In den Kaffeehäusern und den speziellen
Ramadan-Festzelten ist es laut, bei Tee und Wasserpfeife verbringt man die Zeit bis zum
Sohour, dem letzten Mahl vor Sonnenaufgang. Alles wie gehabt.
Trotzdem, irgendwas stimmt nicht. Die Ramadanlaternen, eine urägyptische Erfindung und eigentlich die Domäne Kairoer Handwerker,
kommen heutzutage zu einem großen Teil aus
Taiwan, China oder Indonesien und krächzen auf Knopfdruck auch internationale Popsongs. Die Galabiyyas, wenn sie denn erschwinglich waren, wurden in
China produziert.
Vodafone Egypt und
MobiNil senden den
Imsakiyya, der exakt die vom Stand der Sonne abhängigen Uhrzeiten für Iftar und Sohour angibt, als SMS aufs Handy. Die Festzelte werden von
Pepsi,
Persil,
Hewlett-Packard,
Nestle und Co. gesponsert. Die Lokalpresse beklagt, dass das vierwöchige TV-Festprogramm zu einem Großteil aus westlichen Formaten besteht, aus Game- und Talkshows, die krachig, albern und ziemlich unkomplentativ für weltliche Skandale sorgen, unterbrochen von
ellenlangen Werbepausen für Tausendundeinen Klimbim. Nun bleibt Folklore auch noch Folklore, selbst wenn die alte Ramadanweise "Wahawi Ya Wahawi" als
Klingelton für Nokia-Handys daherkommt, aber für die meisten Kairener ist der Ramadan mehr als ein folkloristisches Spektakel. Sie spüren instinktiv, dass dem heiligen Monat inmitten trötenden Konsums und Kommerzes langsam die Seele entweicht. Irgendwo ist eine undichte Stelle.
"Wer im Ramadan fastet und am Ende nur
Hunger und
Durst hatte", bezieht sich der Buchhalter Saad Ibrahim auf den Propheten Muhammad, "der hat nicht kapiert, worum es geht." Aber Besinnlichkeit und spirituelle Einkehr haben es in diesem Jahr ohnehin schwerer als sonst. Vor zehn Monaten wurde der Wechselkurs der Landeswährung freigegeben, seitdem verliert der ägyptische Pfund ständig an Wert. Alle Importe wurden teurer, ebenso alle Produkte, die im Lande mit importierten Maschinen oder Rohstoffen hergestellt werden - also im Grunde alles, durchschnittlich um 20 bis 50 Prozent. Das betrifft auch
Brot, denn Ägypten ist einer der größten Getreideimporteure weltweit. Allerdings hat man sich damit beholfen, die Laibe einfach deutlich kleiner zu backen, anstatt ihren Preis zu erhöhen. Die
Krise ist also an den
Essenstischen angekommen, ein besonders sensibler Ort im Fastenmonat. Auch bei
Yamiesch, den Trockenfrüchten und Nüssen, die ein Muss in allen traditionsbewussten Ramadanhaushalten sind, explodierten die Preise. Mustafa Zaki, Funktionär der Förderation der ägyptischen Handelskammern,
erklärt, dass die Großhändler aus Angst davor, auf dem teureren Yamiesch sitzen zu bleiben, nur ein Viertel der üblichen Menge importiert hätten.
Und ausgerechnet zum Beginn des Fastenmonats, wenn auch die Fleischpreise steigen, sorgte ein seltsamer Fund für Aufregung: Südlich der Abbas-Brücke in Giza entdeckten Passanten Schädel und Gebeine von
Eselskadavern in einem Abfallcontainer. "Wo sind all die Esel hin?" fragte die
Egyptian Gazette geheimnisvoll. Und alarmierte Kairener schworen, so lange kein Fleisch mehr zu kaufen, bis sich der Fall aufgeklärt hätte. Die Schuldigen, Angestellte des Zoos, wurden später
ermittelt, aber erstens trauen die Leute den Behörden ohnehin selten, und zweitens zeigt die Aufregung um diesen Vorfall gut, wie die Stimmung in diesem Ramadan ist. Jeder, den man spricht, ist verunsichert und ahnt, dass irgendwelche gesellschaftlichen Veränderungen passieren müssen, aber wenige wissen genau was und ob sie sich das, was dann passiert, auch wirklich wünschen sollen. So kuscheln sich die meisten Kairener in die liebgewonnenen Ramadan-Gewohnheiten ein und versuchen, das Gefühl des
Unbehagens zu verdrängen.
Und über allem schwebt die
Schwarze Wolke. 1999 tauchte sie das erste Mal auf, seitdem haben die Leute in jedem Herbst etwa sechs Wochen lang nach Einbruch der Dunkelheit einen
Aschegeschmack auf der Zunge, ihre Augen brennen, und sie können das Ende der Straße nicht mehr sehen. Asthmatiker verfallen in Panik, und Mediziner raten alten Leuten, am Abend das Haus nicht mehr zu verlassen. Die Ursachen sind vielfältig, je nachdem, welchem Politiker man zuhört. Der Bürgermeister von Kairo beschuldigt die Bauern des Nildeltas, das nördlich von Kairo beginnt, den Smog mit dem Verbrennen von
Reisstroh nach der Ernte herbeizuführen. Die Delta-Gouverneure sagen, die Wolke sei hausgemacht, verursacht durch die hauptstädtischen Abgase von Millionen von Autos, von Manufakturen, Bleischmelzen, Industriebetrieben und durch das Verbrennen von
Müll. Umweltminister Mamdouh Riyad wurde seit seinem Amtsantritt vor knapp zwei Jahren damit zitiert, dass die Schwarze Wolke wahlweise entweder im nächsten Herbst garantiert nicht wiederkäme bzw. bis zum Jahr 2007 erhalten bliebe bzw. dass sie ein ganz "
natürliches Phänomen" sei, bedingt durch ungünstige Konversionswetterlagen in den Monaten Oktober und November.
Unterdessen können die Ägypter nur die Hoffnung in ihre Ramadan-Gebete mit einschließen, dass dieses
Theater nicht die Blaupause dafür ist, wie auch alle anderen Krisen des Landes bewältigt werden sollen. Zur Halbzeit des Fastenmonats schrieb der bekannte Kolumnist Said Sonbol in der großen ägyptischen Tageszeitung Al-Akhbar: "Soviel ist sicher: Politik in Ägypten entzieht sich jeder
Logik, und die Öffentlichkeit hat keine Ahnung davon, in welche Richtung dieses Land geht." In die Debatten drängt deshalb immer häufiger das Wort
Reform. Während Publizisten, Menschenrechtler, religiöse Würdenträger und islamistische Ideologen uneins darüber sind, ob die Reformen nun von
innen oder außen kommen sollten und inwieweit sie auch den
Islam erfassen müssten, hat die Regierung den ziemlich gekünstelten »nationalen Dialog" wieder ausgekramt und in eine neue Runde geschickt.
Seit eh und je kündigt im Ramadan in Kairo allabendlich zum Sonnenuntergang ein
Kanonenschuss das Ende des langen Fastentages an. Derweil hierbei natürlich nicht scharf geschossen wird, schlug in diesem Jahr vier Tage vor Beginn des heiligen Monats eine wirkliche
Bombe ein. Bei der feierlichen Verleihung des angesehenen Arabischen Erzählerpreises, der jährlich durch Ägyptens Hohen Kulturrat während der Arabischen Konferenz für Kreativität vergeben wird und mit umgerechnet 13 000 Euro dotiert ist, bestieg Preisträger
Sonallah Ibrahim das Podium. Das Publikum, einschließlich des Kulturministers Faruk Hosni, erwartete vermutlich eine Dankesrede, aber Ibrahim lehnte die Entgegennahme des Preises ab. "Ich habe keinen Zweifel darüber", sprach der Preisträger, einer der angesehensten Schriftsteller der arabischen Welt, "dass jeder Ägypter sich des Ausmaßes der
Katastrophe, die unser Land betrifft, bewusst ist. Sie betrifft nicht nur die Bedrohung unserer Ostgrenze durch das israelische Militär, nicht nur die amerikanischen Diktate oder die Schwäche der Außenpolitik unserer Regierung - sie betrifft alle Aspekte unseres Lebens. Wir haben kein Theater, kein Kino, keine wissenschaftliche Forschung mehr, sondern nur noch Festivals, Konferenzen und falsche Fonds. ?
Korruption und
Plünderung grassieren. Jeder, der sich dagegen wendet, riskiert, geschlagen oder gefoltert zu werden. ? Alles was mir bleibt, ist jenen zu danken, die mich für diesen Preis auserkoren haben, aber ich muss Ihnen mitteilen, dass ich ihn nicht annehmen kann von einer Regierung, die - meiner Meinung nach - nicht glaubwürdig genug ist, ihn zu verleihen."
Eine Weile noch
diskutierten die Intellektuellen erhitzt diesen unerhörten Vorfall in den Zeitungen, aber
Ahmed Normalverbraucher auf der Straße war bereits mit der Mühsal des Ramadan-Einkaufes beschäftigt sowie bald darauf mit den großen und kleinen
Überraschungen des Fastenmonates. Zu letzteren gehörte in diesem Jahr, dass in Kairo des öfteren Misaharatis auf Fahrrädern gesichtet wurden. Seit Jahrhunderten schlendert der
Misaharati zu Fuß in den Nachtstunden durch die Stadtviertel der arabischen Welt, schlägt die Bazza, eine kleine Trommel, und singt dazu Refrains wie "Dein Sohour o Fastender, wach auf o Schlafender". Damit erinnert er die Gläubigen daran, die letzte Mahlzeit vor Sonnenaufgang nicht zu verpassen, und erhält am Ende des Fastenmonats Spenden von den Bewohnern. Ein Misaharati auf dem
Fahrrad klingt natürlich nicht so schön wie ohne, da er versuchen muss, gleichzeitig zu lenken, zu trommeln und zu singen, aber er ist schneller und schafft größere Viertel. Die älteren Kairener schütteln darüber nur
ungläubig den Kopf.