Post aus Kairo

Wieviel Zentimeter Gesicht?

Von Mariam Lau
14.11.2006. Wenn man in Kairo durch die Straßen geht, gewinnt man den Eindruck, dass diese seltsame Form der Scholastik, dieses fanatische Nachdenken über den Schleier, und wieviel Zentimeter Gesicht, und ob ein Handschuh sein muss, einfach eine Art Massenhysterie ist, eine gefahrlose Weise, über Sex zu reden, wenn man schon keinen haben kann.
Die Metro, die unermüdlich durch Kairo kachelt, hat inzwischen ein Frauenabteil. Dort wird gekichert, geschlafen, werden fremder Leute Kinder gestreichelt und Witze quer durch die Reihen gebrüllt; man sieht hier Gesten und Lebhaftigkeit, die sich Frauen auf der Straße nicht herausnehmen. Aber inzwischen, keiner kann genau sagen seit wann, sind praktisch alle verschleiert. Immer häufiger sieht man auch den saudi-arabischen Dress-Code: kohlrabenschwarzer Niqab - Ganzkörperschleier mit Augenschlitzen, dazu mittlerweile sogar Handschuhe. In einem Abteil mit etwa achtzig Frauen stehen vielleicht noch vier Unverschleierte. Sie scheinen unbeeindruckt, und niemand starrt sie an, und trotzdem erzeugen die Verhüllten eine charakteristische Art von Druck, dem man sich auch als Touristin nicht völlig entziehen kann: Dort die Nutten, hier die Reinen. Wir beobachten euch.

Eine maulig aussehende Dame weist ein junges Mädchen zurecht, dem eine Strähne am Hinterkopf herausschaut. "Früher konnte man die Ägypterinnen auf Pilgerfahrt in Mekka daran erkennen, dass sie bunte Tücher trugen, rot, grün, smaragd, eigensinnig", meint Mai Halef, Archäologin und Reiseführerin, die inzwischen eine ziemliche Wut auf die frommen Mitbürgerinnen entwickelt hat. "Sie können ganze Tage damit verbringen, darüber zu schnattern, wie viel Zentimeter Haar in welcher Form zu sehen sein dürfen. Was aus uns wird, aus Ägypten, aus dem Islam, dazu haben sie nichts zu sagen."

Wenn man hier durch die Straßen geht, hat man den Eindruck, dass diese seltsame Form der Scholastik, dieses fanatische Nachdenken über den Schleier, und wieviel Zentimeter Gesicht, und ob ein Handschuh sein muss, einfach eine Art Massenhysterie ist, eine gefahrlose Weise, über Sex zu reden, wenn man schon keinen haben kann.

Eine schwere Wolke von Testosteron liegt über der Stadt, Trauben von jungen Männern in Cafes im Straßenstaub, die keiner braucht. "Die Leute werden so etwa mit elf, zwölf geschlechtsreif", erklärt der Psychiater Ahmad Abdallah, der hier eine Jugendabteilung leitet und obendrein die Website IslamOnline (englische Seite)betreibt. "Dann dauert es aber manchmal weitere fünfzehn oder zwanzig Jahre, bis sie offiziell Sex haben dürfen, weil die Eltern keiner Heirat zustimmen, bevor der Junge nicht eine ordentliche Arbeit hat, am liebsten Ingenieur oder Anwalt, und eine Wohnung, oder wenigstens das Geld, eine Familie zu ernähren." Aber es gibt kaum Arbeit. Das Volk der Ägypter wächst jedes Jahr um 1,5 Millionen - das bisschen Reform, das die Regierung Mubarak im Bildungs- und Gesundheitswesen eingeleitet hat, wird von diesem "Youth Bulge" einfach aufgefressen.

Wer das Sex-Verbot durchbrechen will, muss sich auf das Auto oder schlicht den Straßenstaub verlegen. An manchen Abenden sieht man einen alten Citroen hinter dem anderen auf dem Zwischenstreifen nahe dem ägyptischen Museum stehen. Die Jugendlichen, die in amerikanischen Filmen Zärtlichkeiten sehen und auch dahin schmelzen wollen, handeln sich leicht den Vorwurf ein, Verräter zu sein, und schleichen sich in die hysterischen Soap Operas aus Bollywood oder die ägyptischen Eigenproduktionen mit den Kajal-Augen und dem ständigen Drohen und Schreien, das hier für Leidenschaft steht.

Aber was ist am Morgen nach der Liebe auf dem Rücksitz? Beziehungen sind unmöglich. Kann das in irgend etwas anderem enden als in gegenseitiger Verachtung? Mai sagt, sie hat vor zwei Jahren beschlossen, ihre Gefühle abzuschalten. Wenn sie 40 ist, so hat sie ihrer Mutter versprochen, dann wird sie ausziehen; vorher geht es nicht, das wird nicht akzeptiert.

IslamOnline hat 400.000 Page Impressions täglich, weil die Website gläubige Jugendliche nicht nur gegen Israel aufhetzt - ein beliebtes Ventil für die eigene Wut und Hilflosigkeit - sondern vor allem, weil sie über Ehe, Liebe und Sex auf islamkompatible Art spricht. "Mission impossible - die stressfreie ägyptische Ehe", heißt beispielsweise eine sehr beliebte Rubrik. "Die islamische Antwort auf die Notlage der Jugendlichen hier", so ergänzt Abdallahs (verschleierte) Kollegin Yosra Mustafa, "ist eine Bitte an die Eltern: seid gnädig - und nicht so materialistisch - mit euren Forderungen an die Söhne." Eine Frau sei heute oft einfach keine Frau mehr, weil sie immer auch ein Mann sein müsse, findet Yosra, die perfekt Englisch spricht und nicht wirkt, als sei es nur kalter "Materialismus" gewesen, der sie zu Ausbildung und Auslandsreisen getrieben hat.Sie hat London gesehen, New York gesehen, in Washington studiert, aber sie zieht es vor, sich in die grauen Tücher zu hüllen. Kann es dafür irgend eine andere Erklärung geben als größte Schwierigkeiten mit der Rolle als Frau unter freien Erwachsenen?

Die Diskrepanz zwischen dem Traum von ägyptischer Größe in der Region ("we built da Pyramids!") und der tristen Realität überbrückt die Mehrzahl der Leute hier mit einer verblüffenden Lethargie. Niemand empört sich darüber, dass die Lehrer, die nicht von ihrem Einkommen leben können, den Kindern bewusst nicht beibringen, was sie für die Prüfung brauchen, damit sie Nachhilfeunterricht geben können - in Klassen von etwa dreißig Kindern (normalerweise sind es siebzig). Die Friedfertigkeit hat Geschichte: alle Eroberer Ägyptens wurden schnell ägyptisiert, wurden selbst Pharaonen, es gab links und rechts des Nils so viele menschenleere Landstriche, dass alle leicht Platz fanden - ganz anders als im Irak, wo permanente Eroberungen stets blutig abliefen. "Als hier der König verabschiedet wurde", erzählt ein deutscher Diplomat, der im ganzen Nahen Osten gearbeitet hat, "da wurde der König mit einer langen, feierlichen Fahrt auf dem Nil verabschiedet. In Bagdad schleifte man ihn hinter einem Auto her."

Wie in vielen Nachbarländern auch hat man in Ägypten die Wahl zwischen Autokratie a la Mubarak, der seit dreißig Jahren mit harter Hand und einigen hauchzarten Reformansätzen regiert, und der Islamisierung: Gäbe es freie Wahlen, so die einhellige Meinung, würden die Muslim-Brüder auf mindestens dreißig bis vierzig Prozent der Stimmen kommen. Freie Wahlen haben deshalb unter den christlichen Minderheiten hier und vielen säkularen Liberalen sehr an Ansehen verloren. Ein zuverlässiger Rechtsstaat wäre ihnen lieber.

Einen Zusammenhang zwischen der Rückständigkeit der gesamten Region wie im UN-Human Developement Report gezeigt, und dem Islam sehen aber die wenigsten. "Ähnlich wie bei der Hamas ist sehr die Frage, ob man den Muslim-Brüdern ein Scheitern ihrer Sozialpolitik wirklich selbst zur Last legen, oder ob man es nicht viel mehr mit dem 'Imperialismus' und der Unterdrückung des Islam erklären würde," meint der Diplomat. Bei den letzten Parlamentswahlen im Mai, wo bezahlte Schläger und Zivilpolizisten viele am Betreten der Wahllokale hinderten, die so aussahen, als würden sie Islamisten wählen, sah man gelegentlich Richter mit Wahlurnen aus dem Fenster springen, um die Stimmzettel zu retten.

Das Regime hat in jenen Tagen mit einer Praxis begonnen, die die Leute hier um Luft ringen lässt, so empört sind sie: Männer wie Frauen, auch verschleierte, werden zu Einschüchterungszwecken von Sicherheitskräften sexuell missbraucht, auf offener Straße. Bei den Muslim-Brüdern ist diese Form der Misshandlung deshalb so wirksam, weil sie aus Scham nicht darüber sprechen wollen, dass ihnen ein Besenstil in den After gerammt worden ist. Eine Journalistin, die über den Wahlbetrug für eine islamische Zeitung berichten wollte, war auf der Polizeiwache vergewaltigt und später nackt auf die Straße geworfen worden. Leute, die ihr helfen wollten, wurden weggescheucht: "Lasst sie liegen, sie ist eine Prostituierte!"

Aber das Regime hat nicht mit der frisch erblühten Blogger-Szene gerechnet. Wenige Stunden nach der Verhaftung des zwanzigjährigen Aktivisten Alaa Ahmad Seif waren Menschenrechtsorganisationen aus aller Welt im Bilde. "Anders als die chinesische Regierung ist das System hier nicht in der Lage, unseren Internet-Zugang zu kontrollieren", berichtet Seif. "Diese Branche wird von Technokraten betreut, die letztlich alle auf unserer Seite sind."

Ganz Kairo politisiert. In vielen der alten Villen aus der Kolonialzeit - der das Land sein rudimentäres Rechtssystem ebenso verdankt wie die Konservierung von Tut-ench-Amun - fädeln europäische Stiftungen kleine Fluchten ein, gemeinsame Projekte unter dem Radar der Demokratisierungsparolen, die hier gründlich in Verruf geraten sind. So hat die Hamburger Designerin Susanne Kümper (mehr hier) vor ein paar Jahren mit dem Rückhalt eines tapferen Dekans und dem Sponsoring der Firma Olsen angefangen, ägyptischen Studenten Malen, Zeichnen und schließlich die Anfertigung eigener Objekte und Entwürfe beizubringen.

Freies Fantasieren, sich selbst ausdrücken, und schließlich auch noch Geld damit zu verdienen - das hat eine Gruppe von zwanzig jungen Leuten hier ganz aus der Reserve gelockt. Sie arbeiten jetzt fieberhaft an einer Kollektion mit Beduinen, die ihre bunten Stickereien auf städtischen Kostümen anbringen. Es sieht herrlich aus, ganz eigen, rot, lila, smaragd auf weichem schwarz. Kümper will damit an große europäische Modehäuser herantreten, und die Chancen stehen nicht schlecht. Sie verdient, die Designerinnen verdienen, und das ist nicht Entwicklungshilfe, obwohl EU-Gelder die Startbasis waren. Die Deutsche Botschaft, ein Hort des Pragmatismus wie es nur wenige in Kairo gibt, unterstützt sie nach Kräften. Einige der Studentinnen sind in Hamburg gewesen und haben dort sich und ihre Entwürfe präsentiert. Wenn das Imperialismus ist, kann die Region gar nicht genug davon bekommen.

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Mariam Lau ist Parlamentskorrespondentin der Tageszeitung Die Welt.