Post aus Köln

Was heißt da Pfusch?

Von Frieder Reininghaus
18.02.2010. Bisher war das fröhliche Köln nicht zu erschüttern, höchstens sein Stadtarchiv. Doch der Bau der U-Bahn wird mit gleicher Sorglosigkeit weiterbetrieben. Aber geht es hier wirklich nur um Pfusch am Bau oder um konzertierte Sabotage mit womöglich katastrophalen Folgen? Ein Entsetzensschrei aus dem noch nicht ganz eingestürzten Köln.
Köln ist nicht wirklich zu erschüttern. Da müsste den höheren Mächten schon mehr einfallen als das Historische Archiv der Stadt. Und tatsächlich: außer am 3.3.2009, an den man sich in der rheinischen Metropole am liebsten nicht mehr erinnern möchte, hätt et noch immer jot jejange. Der Schaden an Menschenleben, Sach- und Kulturwerten beim "Vorfall" an der Serverinstraße wurde ebenso in aller Ruhe betrachtet wie der Superlativ der geschätzten Schadenssumme. Für sie kommen fraglos die Steuerzahler auf. Die Zahl der vital oder substantiell Betroffen ist tatsächlich eher gering. Und Kulturwerte? Die Kölner scheinen genug davon zu haben. Sie regen sich nicht auf, zucken mit den Achseln (ausgenommen einige Leserbriefschreiber).


Mit freundlicher Genehmigung der titanic

Niemand wollte im vergangenen März vorschnell Schuldzuweisungen vornehmen, auch wenn nach wenigen Stunden sich die mutmaßliche Täterschaft abzeichnete: Ein Konsortium aus Städtischen Verkehrsbetrieben (KVB) und kaum beaufsichtigten Baufirmen wie Bilfinger Berger & Co. hatte das siebenstöckige Gebäude, in dem älteste Urkunden, viele Nachlässe von Kunst- und Geistesgrößen und singuläres Material zur Sozialgeschichte des Landes untergebracht waren, unterwühlt, zu Fall gebracht und versenkt. Doch auch im seither vergangenen Jährchen ist die Benennung von evidenten Unfallursachen und Verantwortlichkeiten unterblieben. Die Untersuchungen und Ermittlungen verliefen, freundlich formuliert, schleppend. Jetzt erst ist etwas Bewegung in die Aufarbeitung gekommen: täglich rücken die Betreiber der Katastrophe neue Details über massenweise abgezweigtes Baumaterial, gefälschte Protokolle oder Abrechnungen und den vorsätzlichen Verzicht auf die notwendigen Qualitätskontrollen heraus. Scheibchenweise.

Die Betontransporter zur "Verfüllung" und Stabilisierung des großen schwarzen Lochs rollten gleich nach dem großen Crash recht zügig heran. Hilfe von vielen Seiten bei der Evakuierung der überwiegend in kläglichen Zustand verfallenen historischen Materialien wurde ebenso freundlich dankend in Anspruch genommen wie die Bekundung von Mitgefühl.

"Wir sind überwältigt über die Solidaritäts-Adressen", sagte Robert Kretzschmar vom Verband deutscher Archivare am 6.3. im Deutschlandfunk (und meinte es auch so). Die politische und Verwaltungsspitze der Stadt konnte und wollte, was naheliegend gewesen wäre, nach dem Vorfall keinen Baustopp durchsetzen. Es wird unverdrossen weiter unter der historischen Altstadt und durch die "Gedächtnisschicht" der Stadt hindurch ein Schacht getrieben für eine U-Bahnlinie, die weder sinnvoll noch nötig ist. Die (Wieder-)Inbetriebnahme handlicher und häufig verkehrender Straßenbahnen wäre weit preiswerter und kundenfreundlicher.

Lediglich der vor einem Jahr amtierende Oberbürgermeister, ein Lateinlehrer, durfte auf Betreiben des Vorsitzenden der Landes-CDU und Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers nicht mehr zur Wiederwahl antreten - nicht wegen der Fehler in der Hauptsache, sondern wegen schlechter Presse hinsichtlich seines "Krisenmanagements". Der für das Archiv zuständige Kulturdezernent Georg Quander, vormals Daniel Barenboims Frühstücksdirektor an der Berliner Staatsoper, ging gleich nach dem Aufbrechen des Kraters auf Tauchstation (kam gelegentlich andernorts wieder zum Vorschein, um sich als Theaterdirektor zu bewerben).

Die örtliche Presse, fest gebündelt in den Händen einer kleinen Familie, ging nach einer ersten Erregungswelle wieder zur Tagesordnung über. Erst in den letzten Wochen erwachte sie wieder aus ihrem Dämmerzustand und reicht Behördenwissen weiter: Streckenweise kam wohl mehr als 80 Prozent der Eisen-Armierung nicht wie vorgesehen in die Tunnelwände, sondern in den zweiten Wirtschaftskreislauf. Überhaupt wurde das Wunderwerk der Kostenexplosion weniger stabil angelegt, als von den Statikern gewünscht: "Neue Spur führt zu Pfusch bei Betonarbeiten" - und zu all den Vertuschungen, die dergleichen in einem hoch entwickelten Land nun einmal nachzieht.

Nun breitet sich aber doch eine gewisse Nervosität aus. Der Rosenmontagszug, Höhepunkt des geselligen Lebens, ging über die Baustelle weg und vorüber, ohne dass auch nur einer von mehr als einer Million Jecken eingebrochen wäre. Aber die Nagelprobe für die Standfestigkeit des abschnittsweise rasch mit Stahlplatten und einer Schleuse gesicherten Schachts kommt erst mit der Schneeschmelze, wenn der Pegel des Rheins von jetzt 2,70 Meter auf acht, neun oder gar zehn Meter steigt und der Druck entsprechend zunimmt.

Pfusch? Dass auf Baustellen das eine oder andere abhanden kommt, wissen alle. Und nicht erst seit heute. Wahrscheinlich wurde schon beim Turmbau zu Babel geklaut beziehungsweise unterm Druck der Zeitvorgaben an einigen Ecken zu wenig oder zu schlechtes Material verbaut und das Aufsichtssystem ausgehebelt (das Resultat dürfte bildungsweise bekannt sein, auch seine Deutung). Die Gangart derer, die derzeit Deutungshoheit durch ihre Berichterstattung und Kommentierung vor Ort wahrnehmen, gibt die auf Beschönigung hin angelegte Gangart der "Bewältigung" vor: Pfusch! Handelt es sich nicht eher um Sabotage mit tödlichen Folgen? Um ein bandenmäßig bewerkstelligtes Diebstahls-, Fälschungs- und Tötungsdelikt? Und sollte es in diesem Zusammenhang wirklich keinerlei Formen von Vorteilsnahme gegeben haben? Es wäre zumindest völlig atypisch.

Ein zuständiges Kölner Gericht wies derweil Schadensersatzklagen gegen die Stadt fürs erste ab (und nicht einmal aus Gründen der Überlastung, wie dies sonst häufiger vorkommt, sondern aus ehrlicher Überzeugung). Dat läuf. Wie der Karnevalszug. Nichts Ernsthaftes ist bezüglich eines raschen Neubaus für die verbleibenden beziehungsweise in jahrzehntelanger Restaurierungsarbeit zu "rettenden" Archivmaterialien zu Tage getreten.

Die "Bewältigung" des Tunnelbau- und Krater-Problems ist beileibe nicht die einzige Herausforderung für die hoch verschuldete Stadt Köln. Das nächste Desaster ist programmiert. Es findet etwas weiter nördlich statt: Die fällige Sanierung des Theaterquartiers am Offenbachplatz lässt sich (aus Kostengründen) nicht wie vorgesehen durch eine Generalüberholung des Opernhauses und den großzügigen Neubau eines Schauspielhauses (für den ein besonders klotzig-poppiger Entwurf gewählt wurde) bewerkstelligen, sondern nur in radikal "abgespeckter" Form.

Diese ökonomische Kompromiss-Variante wird wohl immer noch teurer und schlechter ausfallen als eine Renovierung des jetzigen Gebäudekomplexes und nach Fertigstellung zu einer deutlichen Absenkung des bereits jetzt für die gesteckten kulturpolitischen Ziele unzureichenden Theateretats führen. Gegen die ästhetisch mehr als fragwürdige und ökonomisch eigentlich besonders unverantwortliche "mittlere Lösung" mobilisiert ein Bürgerbegehren. Aber die politisch Verantwortlichen und der bislang wenig glücklich agierende neue Opernintendant Uwe-Eric Laufenberg suchen sie weiterhin durchzudrücken nach dem Motto "Augen zu und durch". Die Theaterdirektorin Karin Beier schwankt.

Noch ist die Schlacht um die Zukunft des Offenbachplatzes nicht entschieden. Doch alles deutet darauf hin, dass in ihr die selben Kompetenzen und Mechanismen den Ausschlag geben wie bei der Nord-Süd-Bahn. Nach derzeit geltendem Recht kann den Betreibern einer Stadt die Betriebsgenehmigung für diese nicht entzogen, diese nicht einmal unter Zwangsverwaltung gestellt werden (übrigens böte beides keine Garantie dafür, dass zweckdienlicher entschieden und weniger "geklüngelt" wird). Auch das den Renaissance-Städten zu Gebote stehende Mittel der Verbannung von Familien und Banden, die dem Gemeinwesen schweren Schaden zufügten, wurde aus guten Gründen abgeschafft und sollte nicht reaktiviert werden, da es erfahrungsgemäß meist die Falschen trifft. Abhilfe ist also nicht in Sicht. Nicht einmal der Wille, über sie nachzudenken. Et es, wie et es - will und wird auch so bleiben. Hand drop!

Wer in Köln mit Kultur noch etwas im Sinn und im Herzen hat, dem bleiben wenig Alternativen. Wahrscheinlich nur eine: Abwandern. Die Migranten werden freilich im Stadtbild nicht fehlen.