Post aus London

Der 'Spectator' wird 175 Jahre alt

Von Henning Hoff
"Hart, aber unfair" - Die britische Zeitschrift The Spectator wird 175 Jahre alt und macht eine Million Pfund Gewinn im Jahr.
Mit Logik ist es in der politischen Presse Großbritanniens nicht weit her. Während die britische Konservative Partei nach sechs Jahren Opposition immer noch daniederliegt und aus Verzweifelung vor kurzem ihren Parteiführer stürzte, strotzt das konservative Wochenmagazin The Spectator vor Vitalität, und das im stolzen Alter von 175 Jahren.

Das 1828 gegründete Blatt hatte schon ganz andere Zeiten gesehen. Als 1978 das 150. Jubiläum anstand, dümpelte die Auflage bei 14.000 Stück. Das Heft galt als hoffnungslos rückwärtsgewandt und bescherte seinen Eigentümern Jahr für Jahr herbe finanzielle Verluste. Heute liegt die Auflage bei über 60.000, der Jahresgewinn bei einer Million Pfund. Der Chefredakteur Boris Johnson, Journalist und gleichzeitig konservativer Unterhaus-Abgeordneter, ist mit seinem lausbübischen Äußeren (Bild) eine nationale Berühmtheit und eine wandelnde Werbefigur für das Blatt.

Kurz: Es ist ein Juwel im Imperium des konservativen anglo-kanadischen Medienunternehmers Lord Black of Crosshabour. Dort ist im Moment allerdings nicht alles gut bestellt. Eine Finanzkrise drückt den Konzern, die jenseits des Atlantiks ansässige Hollinger-Gruppe. Zu ihr gehören nicht nur Großbritanniens auflagestärkste, seriöse Tageszeitung Daily Telegraph und ihre Sonntagsschwester Sunday Telegraph, sondern auch die Chicago Sun-Times und die Jerusalem Post.

Kürzlich trat Lord Black als Vorstandsvorsitzender von Hollinger wegen etwas nebulöser Zahlungen zurück. Die amerikanische Finanzaufsicht SEC untersucht nun den Fall. Spekulationen schießen ins Kraut, ob Hollinger, um wieder flüssig zu werden , den Telegraph verkaufen könnte, der im Preiskampf mit Rupert Murdochs Times in letzter Zeit an Boden verloren hat und jüngst unter die Auflagenzahl von einer Million rutschte.

Umso strahlender steht der Spectator da. Die Gründe für den Erfolg sind nicht leicht auszumachen. Der Höhenflug des "Speccie", wie ihn Liebhaber nennen, deutet darauf hin, dass Partei-ungebundender Konservatismus in Tony Blairs "Neu-Labour"-Land floriert. Es kann kein Zufall sein, dass das Pendant des Spectator, die linke Wochenzeitschrift New Statesman, derzeit recht alt aussieht. Das Magazin füllt eine Leerstelle, die eine schwache Opposition geschaffen hat, und das mit Leidenschaft. Das inoffizielle Motto - "hart, aber unfair" - verrät dabei die eigene Streitlust.

Der Spectator war stets eng mit den britischen Konservativen, den "Tories", verbunden, aber nie sonderlich parteitreu. In den sechziger Jahren übernahm der ausgebootete, ehemalige Minister Iain MacLeod das Blatt und berichtete in einer Artikelserie, wie er durch parteiinterne Intrigen um das Amt des Premierministers gebracht worden war. Für damalige Verhältnisse war das ein unerhörter Vorgang. Nicholas Ridley, Handelsminister in Margaret Thatchers Kabinett, musste 1990 zurücktreten, nachdem er in einem Interview mit dem Magazin Helmut Kohl mit Adolf Hitler verglichen hatte.

In der langen Geschichte mischt sich das Reaktionäre mit dem Progressiven. In der glänzenden Sondernummer zum 175. Geburtstag kann man nachlesen, dass der Spectator ein früher Verfechter der Briefmarke und weitsichtig gegenüber der Erfindung des Automobils war. Die "Verbreitung von Nachrichten" hatte sich das Blatt bei der Gründung auf die Fahnen geschrieben, und diesen Leitsatz hält es noch heute hoch, wenn es das Vorgehen des BBC-Journalisten Andrew Gilligan verteidigt. Unter den Mitarbeiter der vergangenen Jahrzehnte finden sich Berühmtheiten der britischen Literatur und Journalistik wie die Schriftsteller Evelyn Waugh, Nancy Mitford und Ian Fleming oder die Kolumnisten Bernard Levin und Jeffrey Bernard.

Die "Low-Life"-Glossen des letzteren bildeten gar den Hintergrund für ein erfolgreiches West-End-Schauspiels, "Jeffrey Bernard is Unwell" von Keith Waterhouse. Gleich zwei der berüchtigten fünf "Cambridge-Spione" in Moskauer Diensten, Kim Philby und Anthony Blunt, verfassten zu verschiedenen Zeiten Artikel für den Spectator.

Ein Faible für Skandal zieht sich wie ein roter Faden durch die letzten zwei Jahrhunderte. Noch im September machte der Spectator nicht nur in Italien Schlagzeilen, nachdem der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi im Interview erst die italienischen Richter beleidigte und dann den faschistischen Diktator Benito Mussolini verharmloste ("Er hat niemanden umgebracht."). Letzteres Diktum wies das Blatt übrigens nicht ganz von der Hand und mischte beim "Duce"-Revisionismus munter mit. Eine andere Leidenschaft ist guter Schreibstil. Laut Chefredakteur Boris Johnson liegt das Geheimnis des Magazins darin, dass nur im Spectator Autoren mit "uneingeschränkter Offenheit über sich selbst, Politik, Sex, Kunst, Essen und Tod" schreiben. Tatsächlich kann man dem Blatt vieles vorwerfen, aber nicht, langweilig und berechenbar zu sein. Das politische Rechts-Links-Schema verwischt zusehens. Zwar ist der Spectator im Zweifelsfall konservativ, nostalgisch, patriotisch, Europa-feindlich und kritisch gegenüber Tony Blairs Labour-Regierung. Doch herrscht eine bemerkenswerte Stimmenvielfalt.

Der rechte Kommentator Peter Hitchens darf den "Tories" den baldigen, unvermeidlichen Untergang prognostizieren. Rod Little, ehemaliger Chefredakteur der BBC-Radio-Morgensendung "Today", fungiert seit kurzem als meinungsfreudiger, linker "associate editor". Der Journalist Peter Oborne, politischer Kolumnist und hartnäckiger Kritiker der Labour-Regierung, der beispielsweise im Herbst die Meinung vertrat, Verteidigungsminister Geoff Hoon als Sündenbock in der "Kelly-Affäre" zu stempeln sei so als wollte man ein Verbrechen aufklären, indem man den Dorftrottel verhaftet, lässt sich bei Abwesenheit von Blairs Vertrautem Peter Mandelson vertreten. Im aktuellen Heft macht der Labour-Abgeordnete Gerald Kaufman mit der Frage, ob man jetzt nicht auch Israel besetzen und für das Ignorieren von UN-Resolution bestrafen müsse, der eigenen Regierung das Leben schwer.

Die Unberechenbarkeit des Spectator ist eine alte Tradition und macht vor niemandem halt. So nahm der Schriftsteller Graham Greene 1980 inkognito an einem literarischen Wettbewerb der Zeitschrift teil, in dem Leser aufgefordert wurden, Greene mit einer Textpassage so gut wie möglich zu imitieren - und verlor.