Post aus Madrid

Trost spenden und präsent sein

Von Brigitte Kramer
04.11.2008. In Spanien hat sich die Zahl der protestantischen Christen in 30 Jahren beinahe verhundertfacht. Anhänger finden die Kirchen vor allem unter den Gitanos.
Die evangelische Kirche erlebt in Spanien rasanten Zulauf. Der Südwesten Europas wird landläufig als streng katholisch bezeichnet, und 93 Prozent der Spanier gehören tatsächlich dem Katholizismus an, bis 1978 einzig zulässige Religion. Doch mit Einführung der Glaubensfreiheit nach Ende der Franco-Diktatur hat sich die Zahl der spanischen evangelicos, der Protestanten, beinahe verhundertfacht - von 7.000 Mitte der 70er Jahre auf rund 400.000, nach Angaben des Dachverbandes evangelischer Glaubensgemeinschaften Ferede.

Die neuen Christen wollen nun wahrgenommen werden und fordern mehr Öffentlichkeit, zuletzt Anfang September beim Trauergottesdienst für die Opfer des Flugzeugunglücks in Madrid-Barajas (mehr hier). Die sozialistische Regierung unter Jose Luis Rodriguez Zapatero unterstützt seit dreieinhalb Jahren die protestantischen Glaubensgemeinden, bislang mit mehr als sechs Millionen Euro. Führende Zeitungen wie El Pais interpretieren das als wichtigen Schritt auf dem Weg vom Nationalkatholizismus zur Religionsfreiheit: "In den vergangenen vierzig Jahren hat sich die spanische Gesellschaft [?] von der Einheitsreligion zu einer gesunden Religionsvielfalt, von der Einheitskultur zur kulturellen Vielfalt hin entwickelt [?]. Ein insgesamt sehr bereicherndes Phänomen".

Mehr als ein Drittel der spanischen Protestanten, 150.000, gehört zur Ethnie der Zigeuner, der gitanos. Sie sind vor allem Anhänger der Pfingst- und Philadelphia-Kirche. In Spanien lebt man den neuen Glauben mit Inbrunst. Nicht nur in der Messe, el culto, sondern auch auf der Straße. Die gitanos würzen das Wort Gottes mit dem ihnen eigenen Temperament und verbreiten ihren Glauben aktiv. Bei den Messen in den 2.500 Kirchen und Versammlungsräumen des Landes werden Gefühle singend zum Ausdruck gebracht, religiöse Ekstase ist nicht selten. Im Alltag lassen die neuen Protestanten Sätze fallen wie "Ich habe das Licht gesehen" oder "Ich war ein Sünder" und schmücken ihre Gespräche mit Bibelzitaten.

"Die evangelischen Kirchen haben deshalb so viel Erfolg, weil sie Trost spenden und präsent sind", schreibt El Pais. "Die katholische Kirche, zumindest die offizielle, wendet sich dagegen immer mehr sich selbst zu, ist mit ihren eigenen, internen Hierarchiekämpfen beschäftigt [?] und vergisst dabei allzu häufig den Nächsten."

Prominentestes Beispiel für gelebten Protestantismus und dessen Zugkraft ist seit Anfang des Jahres Juan Jose Cortes, dessen kleine Tochter im Januar ermordet wurde. Die spanische Öffentlichkeit attestiert dem Vater seither "menschliche Größe" und "moralische Integrität". "Vater Courage" wird der Zigeuner und ehemalige Prediger aus Andalusien genannt, der das ganze Land mobilisiert, einen Gesetzentwurf erreicht und einen Justizstreit auf höchster Ebene entfacht hat. "Sein Glaube bewegt Berge", schreibt die Tageszeitung El Mundo.

Ministerpräsident Rodriguez Zapatero hat den Protestanten empfangen und ihm versprochen, sich für härtere Haftstrafen für Päderasten einzusetzen, nachdem geklärt war, dass es sich bei dem mutmaßlichen Mörder des Kindes um einen vorbestraften Triebtäter handelte, der wegen eines Justizirrtums auf freiem Fuß war.

Ende September hat Cortes 2,36 Millionen Unterschriften im Regierungssitz Moncloa hinterlegt - für eine "gerechtere Justiz". In Magazinreportagen und Fernsehinterviews erzählt der Familienvater immer wieder von zwei einschneidenden Erlebnissen: Seine Bekehrung zum protestantischen Glauben und die Ermordung seiner Tochter.

Helden wie Juan Jose Cortes wirken dort, wo die katholische Kirche seelsorgerisch versagt: In Randgebieten der Städte, wo kein Bus fährt, der Müll nicht abgeholt wird, die Polizei nur sporadisch Streife fährt - und in Randgruppen der Gesellschaft. Die Worte der Bibelprediger fruchten vor allem bei Spaniens Zigeunern. Die Sozialanthropologin Manuela Canton Delgado erklärt: "Hier sind sie die Hauptpersonen. Die Pastoren und Prediger sind Zigeuner wie sie. In der katholischen Kirche fühlen sie sich, ebenso wie in der Gesellschaft, an den Rand gedrängt. "

Insofern ist die Rolle von Juan Jose Cortes doppelt gewichtig. Er bringt nicht nur die Protestanten in die Medien, sondern auch die Zigeuner. Erstmals taucht einer von ihnen nicht als Flamencotänzer oder Drogendealer auf, sondern als Beispiel für Rechtschaffenheit und Mut.

Die katholische Kirche reagierte bislang gelassen auf den Erfolg der protestantischen Kirchen im Land. "Christlichen Glauben und Moral kann man nicht aufzwingen", sagte der damalige Vorsitzende der Spanischen Bischofskonferenz, Ricardo Blazquez und forderte Spaniens Bischöfe zum "interreligiösen Dialog und zur Ökumene" auf. Sein Nachfolger im Amt, Antonio Maria Rouco Varela, hat nun andere Sorgen: Die katholische Kirche verliert seit dem Regierungswechsel 2004 ihre traditionelle Nähe zur politischen Macht: Zapatero will die vor 30 Jahren offiziell eingeführte Konfessionslosigkeit des Staates nun endlich umsetzen.

Brigitte Kramer