07.05.2002. Im März letzten Jahres knüppelte die Neapolitanische Polizei während eines internationalen Gipfels Demonstranten zusammen. Jetzt ermittelt die Staatsanwalt gegen die Polizei, und die Berlusconi-Regierung intrigiert gegen die Staatsanwaltschaft.
"Das
Schlimmste kommt immer erst danach," komprimiert der Co-Direktor der Tageszeitung
Unita,
Antonio Padellaro, lakonisch die fatale Chronologie der gewalttätigen Auseinandersetzungen in
Neapel anlässlich des dritten Global Forums im vergangenen Jahr, die gerade ein demokratisch-heikles Nachspiel haben.
Ein kurzer Rückblick: während das internationale Treffen zum
e-government, hermetisch abgeriegelt in der sogenannten "Roten Zone" im historischen Regierungsviertel zu Ende ging, lieferten sich Polizei und Globalisierungsgegner am
17. März 2001 eine
brutale Schlacht und einen blutigen Vorgeschmack auf Genua. Es hagelte Schläge, weil die NoGlobals gefährlich nah zu den Absperrungen vorgedrungen waren. Allerdings wurde kaum einer der Globalisierungskritiker
direkt auf der Straße verhaftet (Fotos der Demo
hier, archivierte Artikel der
Repubblica zum Global Forum und zur Demo
hier und
hier).
Seit einigen Wochen ermittelt die
neapolitanische Staatsanwaltschaft gegen
hundert Polizisten. Sechs Polizeibeamte, ein Hauptkommissar und der Vizequästor Neapels stehen inzwischen unter Hausarrest. Denn nach den Auseinandersetzungen auf der Piazza - so die Staatsanwaltschaft - brachte die Polizei mehr als achtzig verletzte oder gerade ärztlich behandelte Männer und Frauen aus den Erste-Hilfe-Abteilungen der neapolitanischen Krankenhäuser in die
Kaserne Raniero. Dort wurden sie stundenlang festgehalten, gedemütigt, geprügelt und bis abends - auch intimen - Leibesvisitationen unterzogen. Einige der Demonstranten waren noch
minderjährig. Andere, wie ein junger neapolitanischer Anwalt, hatten nur eine Freundin ins Krankenhaus begleitet oder waren
vom Mofa gefallen, ohne an der Protestaktion teilgenommen zu haben. Abgeführt und misshandelt wurden sie trotzdem (
hier das Dossier der
Repubblica zum "Fall Neapel",
hier und
hier Zeugenaussagen).
Dass es erst jetzt zu juristischen Maßnahmen gekommen ist, liegt vor allem an der
unübersichtlichen Ermittlungslage. Anhand der Polizei-Protokolle vom 17. März konnte die Staatsanwaltschaft weder feststellen, welche und wie viele Polizisten in der Kaserne Raniero anwesend waren, noch die Anzahl und Identität der vermeintlichen Demonstranten ermitteln. Zudem hatte kaum einer der Verprügelten Anzeige gegen die Polizei erstattet. Viele der Betroffenen schilderten stattdessen den neapolitanischen
NoGlobals im autonomen
Zentrum Ska ihre Erlebnisse. Daraus ist das inoffizielles Protokoll "
Zona Rossa" entstanden, das im Herbst 2001 veröffentlicht wurde und den Staatsanwälten bei der
Identifizierung und der Suche nach den Demonstranten half.
Im vorläufigen Erkenntnisstand warten einige schwarze Löcher noch auf Aufklärung: warum
kesselte die Polizei die Protestler auf der Rathausplatz ein und versperrte alle Fluchtwege? Wieso gingen die Hüter der öffentlichen Sicherheit besonders auf solche Demonstranten los, die mit
Fotoapparaten oder Digitalkameras ausgestattet waren; sollte mögliches Beweismaterial vernichtet werden? Wer erteilte den Befehl, die Demonstranten aus den Krankenhäusern mitzunehmen? Und schließlich, wer sind die Polizisten, die sowohl auf der Piazza als auch in der Kaserne versuchten, ihre Kollegen im Knüppelrausch zu
zügeln?
Während die Staatsanwaltschaft versucht, diese Lücken im Ermittlungspuzzle zu schließen, setzte sich die polemische Instrumentalisierungsmaschinerie gegen sie in Gang. Die Regierung
Berlusconi hat in den letzten Monaten oft genug gezeigt, dass sie die Piazza wenig schätzt und sogar verachtet. Wenn nun die Staatsanwaltschaft Neapel zu Gunsten der Piazza gegen die Polizei und damit gegen ein staatliches Organ ermittelt, das direkt dem
Innenministerium unterstellt ist, überschreitet sie in den Augen der Regierung deutlich ihre Kompetenzen. Obwohl einige skeptische Beobachter der italienischen Demokratie gerade im Vorgehen der
Justiz gegen die Polizei die Bestätigung sehen, dass das Staatswesen Italiens und die Gewaltenteilung - noch - funktionieren, mischt sich Regierung in die Angelegenheiten der Judikative ein und stimmt einen drohenden Ton an: "Wer einen Fehler gemacht hat,
zahlt", sagte Innenminister
Claudio Scajola und meinte damit die Staatsanwaltschaft. In einem Rechtsstaat gebe es keine Räume der Unstrafbarkeit - so der Innenminister (mehr in
Repubblica).
Vizepremier und
Alleanza Nazionale-Vorsitzender Gianfranco Fini erklärt sich solidarisch mit der Polizei, schützt sie damit vor Strafverfolgung und legt die Basis für ein neues Justizverständnis, erklärt
Padellaro in der
Unita: "Bis gestern waren noch alle Bürger vor dem Gesetz gleich, bis auf Silvio Berlusconi, versteht sich. Von heute an sind auch Polizisten gleicher als andere". Für Padellaro liegt der Vergleich mit einstigen
südamerikanischen Regimes
auf der Hand: "Die italienische Variante der Junta ist eine Regierung konsequenter rechter Bürgerlicher, die sich ohne 'jeglichen Zweifel' auf die Seite der Männer in Uniform stellen - von denen einige vielleicht schuldig sind, andere vielleicht nicht (in Zivilgesellschaften werden diese Ungewissheiten von Gerichten geklärt), - um auf den gemeinen Feind zu zeigen: die Staatsanwälte, die Kommunisten, die Opposition, wo auch immer sie sich zeigt. Immerhin ist zumindest (
Kommunikationsminister)
Gasparri so aufrichtig, Klartext zu sprechen, wenn er
Clausewitz - 'Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln' - anführt." Gemäß der Regierungs-Logik wäre dann der
Schlagstock der Polizei ein innenpolitisches Instrument gegen böse Kriminelle?
Der Schriftsteller
Antonio Tabucchi denkt in der
Unita über die Äußerungen des
Ministers für institutionelle Reformen,
Umberto Bossi nach. Bossi sollte in Anbetracht seines Amtes die Justiz-Institutionen eigentlich schützen. Er greift sie jedoch lieber an: "Die Staatsanwälte stellen eine
Gefahr für die Demokratie dar und müssen direkt vom Volk gewählt werden" (mehr zu Bossis Vorschlägen
hier). In diesem "Reformvorschlag" sieht Tabucchi einerseits einen
Affront gegen Staatspräsident
Ciampi, da dieser laut italienischer Verfassung auch der oberste Garant der Staatsanwaltschaft ist, aber andererseits Bossi in seinem Ministeramt auch legitimiert hat. Dadurch wiederum - so Tabucchi - sind auch die Vorschläge Bossis demokratisch abgesichert. Bei dieser institutionellen Zwickmühle bleibt Tabucchi nichts anderes übrig, als sich die nächsten Richterwahlen als Cowboy-Happening oder als Sheriff-Wahl im Wilden Westen auszumalen, "auf einer großen,
saftigen Wiese der Padania, während eines Dorffests mit gesunden Landspezialitäten und
Country Musik."
Die Vereinigung "
Demokratische Staatsanwaltschaft" äußert sich in einem "
Offenen Brief an die Informationsorgane" (
abgedruckt in
il manifesto) entsetzt darüber, dass die Debatte um den Fall Neapel den wichtigsten Aspekt fast völlig ausklammert: "
Staatsbürger (gleich ob Demonstranten oder nicht) betreten unversehrt ein Kommissariat und kommen blutig geschlagen, gedemütigt und verlacht wieder heraus." Damit steht für die Staatsanwälte die Integrität der Bürger im Rechtsstaat auf dem Spiel und deren Schutz vor
polizeilicher Willkür. Die Tatsache, dass dieser mühsam ermittelte und von Zeugenaussagen und Indizien gestützte Tatbestand überhaupt angezweifelt oder gar als Komplott bezeichnet wird, deuten sie als "schwerwiegenden Riss im Verhältnis von Institutionen und Gesellschaft" und fordern eine sachliche Diskussion, die sich nicht nur an einer reinen Zweckmäßigkeit und einem Freund-Feind-Schema orientiert. Regeln sind für alle verbindlich, auch für Ordnungshüter - so die Staatsanwälte, die zudem daran erinnern, dass es nur
1930 eine
Sondernorm für die Beamten der öffentlichen Ordnung gab. Im Faschismus durfte niemand ohne Genehmigung des Justizministers gegen sie vorgehen.
Die kulturpolitische Stimme von
il manifesto,
Ida Dominijanni, kommt dem Aufruf der Staatsanwälte nach und fasst - aus linksintellektueller Sicht - einige
Hypothesen zu den Vorfällen in Neapel zusammen. Mit einbezogen in die Deutungsversuche sind die Ereignisse in
Genua beim letzten G8-Treffen: es wird vermutet, dass die Razzia in der
Schule Diaz, die den verschiedenen Aktivisten unter anderem als Pressequartier diente, genauso wie die Brutalitäten der Polizei im
Gefängnis Bolzaneto, der Legitimation dienten. Sie sollten die These vom kriminellen Wesen der Bewegung durchsetzen und die Ausschreitungen während der Demonstrationen und sogar die
Tötung Carlo Giulianis rechtfertigen. In Neapel bietet sich im Nachhinein ein ähnliches Bild. Das brutale Vorgehen der Polizei auf der Piazza wird nachträglich durch die Verhaftungen und den Transport in die Kaserne Raniero legitimiert, die NoGlobals kriminalisiert.
Allerdings - und auch das wird in der Debatte gerne vergessen - war im März 2001 noch eine
Mitte-Links-Regierung an der Macht. Wollte sich die Linke im Wahlkampf gegen Berlusconi keine Blöße geben und nicht als Sympathisanten der Globalisierungskritiker dastehen? Tatsächlich war die Kundgebung in Neapel die erste größere Demonstration der italienischen Aktivisten, und die Führungsspitze von Mitte-Linke konnte nicht ahnen, dass sie selber wenige Monate später als Opposition plötzlich die Piazza wieder für sich entdecken würde, beziehungsweise
mangels Ideen für sich entdecken musste. Bisher kamen von den Polit-Profis
Francesco Rutelli,
Piero Fassino oder dem ehemaligen Innenminister
Enzo Bianco noch keine bemerkenswerten Äußerungen zum Fall Neapel. Sehr beunruhigend findet Dominijanni die Parallelität zwischen Genua und Neapel, worin sich das Schlimmste des italienischen Bipolarismus
zeige: "Handelte es sich um eine
entsetzliche Übereinstimmung der Absichten oder anders formuliert - und das wäre nicht beruhigender - um einen Ausrutscher seitens der politischen und institutionellen Verantwortlichkeiten, was die Autonomisierung der Polizeikräfte anbelangt?"
In Neapel kursiert in kritischen linksintellektuellen Kreisen zur Zeit noch eine zusätzliche Lesart der Ereignisse. Danach handelt es sich möglicherweise nur zweitrangig um eine politische und institutionelle Konfrontation. Im Vordergrund aber steht eine Auseinandersetzung um
kulturelle und
symbolische Macht. Die Polizisten auf der Piazza schlugen die Töchter und Söhne der neapolitanischen Elite, einer linken Führungsschicht des
gehobenen Bürgertums, die seit 10 Jahren fast alle wichtigen politischen, administrativen, kulturellen und auch juristischen Positionen der
Stadt innehat. Die Polizei gehört in Neapel jedoch eher zu den konservativen Kräften, die mit dem Amtsantritt des Ex-Kommunisten
Antonio Bassolinos als Bürgermeister 1992 einerseits ihren Einfluss verloren hat. Andererseits haben
einfache Polizisten auch kaum Zutritt zu den Kreisen der Kultur-Elite. Mit den neapolitanischen Staatsanwälten fordert diese Elite der Stadt nun Gerechtigkeit für ihre geprügelten Kinder.