Post aus Ramallah

Aber sie ist nett!

9. und 10. Brief. Von Uta Ruge
28.04.2006. Heftige Debatten auf einer Abschiedsfeier, wertlose Papiere und das miese Gefühl, Privilegien zu genießen: Letzte Tage in Ramallah.
9. Brief

Ramallah. Es ist das Abschiedsfest für Djihad, der nächste Woche ausreist. Seine Frau bringt mit Freundinnen das Essen. Auf dem vorher mit Papieren überladenen Schreibtisch jetzt: Salate in ungeheuren Mengen, Pasta mit Fleisch- und Gemüseeintopf, Couscous-Salat mit Petersilie, kleine Teigtaschen mit verschiedensten Füllungen, Teller voll Melonenscheiben, rot und gelb, Kuchen und Küchlein, Israelische Freunde kommen an, sie haben das Verbot der Einreise ignoriert. Einige aus London, wo sie inzwischen leben. Bei ihnen wird Djihad am Anfang wohnen. Seine Unibescheinigung kam im Umschlag mit der Aufschrift: Djihad X c/o Cohen; das wird an diesem Abend oft noch lachend erzählt, wie ein guter Witz.

Immer mehr Menschen füllen den großen Raum, Familien, viele kleine Kinder, mit Luftballons bei Laune gehalten. Musik, Gespräche, Essen, einmal auch traditioneller Gesang und Tanz, den die Frauen aufführen. Die Männer halten sich am Glas fest, schauen wohlmeinend in die Runde. Nebenbei wandert ein Buch von einem zum anderen, in das alle Freunde sich mit kleinen Texten, Grüßen, Zeichnungen eintragen, ein Abschiedsgeschenk für Djihad.

Irgendwann entdecken die Kinder, dass man großartig laut und doch schmerzlos mit den Luftballons aufeinander einschlagen kann. Ab und zu zerplatzt ein Ballon, das Geräusch ist unangenehm, erinnert an Schüsse. Die Erwachsenen zucken alle immer ein bisschen zusammen.

Nach dem größten Lärm - es sind etwa vierzig Leute gekommen und mindestens zehn Kinder da - wird es leiser. Plötzlich wirken alle sehr niedergeschlagen. Ratlos. Stumm. Dann beginnen leise Gespräche in kleinen Gruppen. Nur manchmal wird es laut, wird heftig gestritten, Englisch, Arabisch, Hebräisch.

Eine Christin, die früher in der kommunistischen Partei war, sich dann feministisch engagierte, schimpft über Hamas. Es würde noch werden wie in Teheran. Ein Mann findet das totalen Quatsch und die beiden schreien auf einander ein. Es ginge um den Kampf gegen die Korruption, um soziale Infrastruktur, Schulen, Krankenhäuser etc. Dafür seien sie gewählt und gegen die Korruption, nicht wegen der Religion.

Jemand macht Musik an, einige beginnen zu tanzen. Man hat alle Argumente schon so oft gehört. Später unterhalte ich mich mit ihr am Rande des Festes. Erfahre, dass in Ramallah, eine ursprünglich christliche Stadt und wegen der größeren Kühle als Sommerfrische für wohlhabende Jerusalemer dienend, Ostern erst zur griechisch-orthodoxen Ostern gefeiert wird. Die verschiedenen christlichen Kirchen hier haben beschlossen, Weihnachten nach westlichem Kalender, Ostern nach dem östlichen zu begehen.

Ein junger, sehr angespannt wirkender Medizinstudent aus Gaza, illegal in der Westbank, erzählt, wie er täglich zweimal die Grenze nach Jerusalem umgeht, überspringt, sich durchmogelt, um sein Medizinstudium fortzusetzen. Vor ein paar Monaten gab es, nachdem Haaretz über ihn berichtete, eine höchstrichterliche (israelische) Entscheidung, dass er die Grenze überschreiten darf. Der Soldat am Checkpoint sagte: Ich scheiß auf dein Papier. Er wurde nicht durchgelassen und macht weiter mit seinen gefährlichen Grenzgängen. Vor drei Tagen wurde auf ihn geschossen. Mit verzerrtem Gesicht sagt er: Ich fange an zu hassen. Wir hören betreten zu. Sein Fall ist allen hier bekannt, aber keiner weiß mehr weiter.

Er erzählt mir, dass er schon beschlossen habe, sich umzubringen, wenige Sekunden vor der Durchführung jedoch gedacht habe: Ich bin dabei, Arzt zu werden, wenn ich einen wie mich hätte, ich würde doch auch versuchen, sein Leben zu retten. Also mache ich weiter.

Eine Israelin, die dabei gesessen hatte, selbst seit Jahren aktiv gegen die Besatzung, sagt später zu mir: Wir haben so sehr an den Osloer Prozess glauben wollen. Wir haben weggesehen, weil wir nicht glauben konnten, was in Wirklichkeit passiert ist; eine Scheinregierung und ein zerschnittenes Land. Bantustans, die nicht leben und nicht sterben können, das ist aus der Westbank und Gaza geworden, kein palästinensischer Staat.

Einige der Gäste waren in israelischen Gefängnissen. Einer ist da, der erst kürzlich nach zwanzig Jahren entlassen wurde. Jemand erzählt von dem Treffen, das vor einiger Zeit in dieser Wohnung stattfand: zwischen Palästinensern, die in israelischen Gefängnissen saßen und Refuseniks, israelischen Wehrpflichtigen, die für ihre Weigerung, zum Militär zu gehen, zwei Jahre einsaßen. Das Thema Gefangene lädt gleich wieder ein zur Kontroverse.

Neulich stand in einer israelischen Zeitung, dass sich Kinder und Jugendliche oft ganz bewusst an Kontrollstellen verhaften lassen (irgendeinen Anlass fabrizieren sie, was nicht schwer ist). Jungen tun es, so hieß es da, um im Gefängnis in Ruhe für ihre Schulprüfungen arbeiten zu können. Die Frage der Mädchen, die so ihren Missbrauchern zu entkommen hoffen, wurde da noch nicht einmal aufgegriffen. Dass dies in der Gesellschaft selbst nicht thematisiert wird, sondern vom "Feind", sei mal wieder typisch, meint jemand: der Mangel an Offenheit, der Mangel an Selbstverantwortung für soziale Probleme, die fast immer nur als Produkt der Besatzung geklagt würden.

Ähnliches geschieht in Sachen Rundfunk beziehungsweise geschieht nicht. Etwa vierzig Privatsender existieren in Westbank und Gaza, die vor allem Popmusik, Werbung und Quizsendungen bringen, dazu kaum das Nötigste an Nachrichten. Nicht selten werden sie von "den bewaffneten Männern" (das meint in der Regel Regierungsangestellte) bedroht und bedrängt, - und wenn es nur darum geht, einen bestimmten Schlager zu senden... Und wieder wird darüber nicht öffentlich gesprochen.

B., der aus einem kleinen Dorf auf der Westbank stammt, arbeitet für eine der westlichen Botschaften. Er darf mit Hamas-Leuten nicht mehr reden (von der Hamas ist natürlich keiner da) und schimpft darüber, wie idiotisch diese Direktive ist. Sie schneide die Botschaft von jeder Information über das ab, was die Realität in diesem Land zur Zeit sei.

Eine Zeit lang spielen Amira und ich mit den Kindern, werfen und fangen Luftballons. Als eine der Familien geht, sagt der Vater zu seinem Sohn: Amira ist Jüdin. Der Sohn schaute ihn ungläubig und wütend an. "Aber sie ist nett!", was ein Gegenargument sein sollte. Er kennt Juden nur noch als Soldaten und Siedler.


10. Brief

Der letzte Tag in Ramallah. So vieles ist noch nicht beschrieben, erklärt, erwähnt. Das teilweise noch im Bau befindliche Hotel neben uns zum Beispiel, das am Haupteingang so niedrig und klein erscheint. Man betritt es aber im vierten oder fünften Stock, wie viele Häuser hier, die an einen Hügel gebaut sind, und beginnt statt des Aufstiegs zu den einzelnen Etagen beziehungsweise Wohnungen den Abstieg zu ihnen. Unten ist es wunderbar kühl im Sommer und warm im Winter. Bei diesem Hotel liegt ganz unten der Swimmingpool, noch ohne Wasser aber schon in Swimmingpoolblau gestrichen. Auf den fünften Stock wird gerade der sechste gesetzt, eine riesige Terrasse mit Säulen und Schnickschnack. Ich frage mich, wie die Gäste den Baulärm aushalten. Aber irgendwie umgibt dieser Baulärm einen fast überall in Ramallah.

Ebenfalls noch nicht erwähnt: die Schönheit der schmalen braunen Tauben, nicht von der Berliner Variante, keine dicken Brieftauben, vielmehr zarte arabische Schönheiten mit melodischem Gurren, das fast schon ein Singen ist.

Das Hundegebell, das jede Nacht um Mitternacht einsetzte. Ob es am Mond lag? Tagsüber habe ich die Hunde nie gesehen. Dagegen immer wieder, meist am frühen Nachmittag, die Herde aus Schafen und Ziegen, die Ziegen so keck wie die Schafe kopfhängend und mit in Fetzen herunter hängender Wolle müde trottend; die beiden Hirten in Jeans, die mal irgendeine Kappe, mal eine Keffiah tragen, führen die Herde ohne Hunde einfach durch Vorneweggehen und manchmal seitlich Steine werfend. Steine zum Werfen liegen überall.

Nichts geschrieben habe ich auch von den Zypressen, die überall sind, typisch levantinisch aufgereiht wie bei uns die Pappeln, und dass es auch Eichen gibt, eine kleinere Sorte mit schmaleren Blättern, und Maulbeerbäume. Nichts geschrieben über die Ansammlungen neuer Häuser mit roten Schindeldächern und reichlich Bögen, Erkern und Säulen, die mich an Ansammlungen ganz ähnlicher neureicher Häuser in Belorus erinnerten, und dort 'Zarendörfer' genannt wurden, eben die Häuser der Gewinner.

Ausgelassen habe ich auch den Besuch in einem großen Restaurant in Ramallah, dessen Eingang nichts von der Größe und Lockerheit (auch nichts von den Preisen!) ahnen ließ, die im Inneren herrschten. Hier können auch Frauen, wie es scheint, ohne Probleme alleine hingehen. Es wird von einem Maler und Bildhauer betrieben; seine neueste Ausstellung ist in Ramallah grad angelaufen (zum Thema Gefängnisbriefe). Vor allem ausländische Mitarbeiter von NGOs essen hier. Amira erkennt einen der französischen Musiklehrer aus der neu entstandenen Musikschule Ramallahs, einem der Projekte von Riwaq.

Inzwischen ist der Selbstmordanschlag in Tel Aviv gewesen. Neun Tote, darunter eine französische Touristin und zwei rumänische Gastarbeiterinnen. Dazu Hamas unsäglicher Kommentar vom "Akt der Selbstverteidigung".

Amira ist wütend: Israel spielt Schach, die Palästinenser immer noch Ping-Pong. Als wäre Rache eine Strategie, geschweige Politik. Auch sie ist dabei, ihre Abreise vorzubereiten, ist in den USA zu einer Konferenz eingeladen. Schon jetzt liest sie kaum noch Zeitung, braucht dringend eine Pause. Aber bis zur Abfahrt will Haaretz noch einen Kommentar zu den Raketen, die von Gaza aus auf israelisches Gebiet abgeschossen werden. Wer genau feuert sie? Was denken die Leute in Gaza?

Die kürzeste Verbindung nehmend, die nur Israelis zugänglich ist, sind wir in knapp einer Stunde in Tel Aviv. Müssen mehrmals durch Kontrollpunkte, zeigen unsere Pässe. Die Straße ist sehr breit, fast auf ganzer Strecke von Peitschenlampen erhellt, und nahezu leer. Es ist Feiertag, die religiösen Siedler fahren an diesem Tag nicht Auto, bekommen auch keine Besuche aus Israel.

Einmal eine fliegende Kontrolle, Soldaten halten alle Autos mit palästinensischem Kennzeichen an. Manchmal werden sie zwei Stunden lang aufgehalten. Normalerweise frage ich bei den Soldaten nach, was der Grund ist, und schon geht es dann schneller, sagt Amira. Aber heute nicht, wir müssen ihr Flugzeug erreichen und sind spät dran. Also überholen wir die Schlange aus etwa zehn Fahrzeugen, kleinen Lieferwagen, schäbigen Autos, alle mit den 'falschen' Nummernschildern. Wir scheren einfach nach links aus und fahren an den Wartenden vorbei; die Soldaten sehen das israelische Nummernschild - und vielleicht auch das Presseschild - und schauen nicht einmal her zu uns. "Na, wie fühlt sich das an", fragt Amira.

Es ist, wie wenn man an einem lästigen Stau vorbeifahren darf: befreiend. Und erst wenn man weiß, dass kein Zufall ist, wer hier angehalten wird und wer freie Fahrt hat, fühlt man sich mies. Aber es ist spürbar: Privilegien verführen dazu, sich an sie zu gewöhnen, sie für normal und gerechtfertigt zu halten.

Wir fahren zur Abkürzung durch eine jüdische Siedlung, vielmehr eine Kleinstadt mit 20.000 Einwohnern, einem Industriegebiet und einer Universität. Davor natürlich ein Tor, von Bewaffneten kontrolliert; im Städtchen an der Hauptstraße entlang gehend ein sehr russisch aussehendes Paar Hand in Hand. Ob sie sich je trauen, in der Landschaft spazieren zu gehen? Amira schnaubt: Sie haben genug Land gestohlen.

Kurz vorher sah ich einen älteren Mann in Keffiah auf einem Esel in einen Hain reiten; er muss durch einen Tunnel unter der Straße durch, die ihrerseits höher gelegt ist - und mit Zäunen beiderseits von den Landschaft getrennt.

Jetzt in einem nördlichen Vorort von Tel Aviv. Ein im Bauhausstil gebautes Einfamilienhaus, friedliches, freundliches Familienleben. Im Garten Mispel- und Maulbeerbaum, nebenan eine Palme, Bananenstauden. Überwältigender Duft von Pommerellenblüten und Yasmin.

Bemerke erst am nächsten Tag, wie angespannt ich bin. Gehe wie geduckt. Richte mich langsam wieder auf.