Post aus Tiflis

Ein sonniger Augustnachmittag

Von Tengis Khachapuridse
28.08.2008. Seit gestern ist Georgien ungefähr um ein Drittel kleiner... Impressionen aus einem verletzten Land
Seit gestern ist Georgien ungefähr um ein Drittel kleiner geworden. Mit strahlendem Gesicht und feierlicher Stimme hat der russische "Präsident? (wer im Kreml in Wirklichkeit das Sagen hat, weiß jetzt wohl jeder) diese Entscheidung getroffen und das russische Fernsehen weltweit verkündet. Etwa eine halbe Stunde später kommt der Anruf aus Deutschland. Es ist mein Freund Herbert aus Hannover "Ich? ich weiß es schon. Ich verstehe natürlich, dass meine Frage dumm klingen kann, aber was. ist jetzt im Lande los ? Wie geht es euch?" Ich weiß nicht, was im Lande los ist und blicke instinktiv durchs Fenster. Nichts. Was soll denn passieren? Ein sonniger Augustnachmittag. Auf der Straße alles ruhig.

Ich überlege kurz. "Mir persönlich geht es ungefähr so, wie es dir sicherlich gegangen wäre, wenn die Russen die DDR wieder okkupiert hätten und ihre Panzer nicht mehr bei Magdeburg, sondern irgendwo zwischen Helmstedt und Braunschweig stünden." Mein Freund hat ein sehr gutes Vorstellungsvermögen, aber sogar er muss eine Weile schweigen um meinen spontanen Vergleich so schnell wie möglich zu verarbeiten. Dann höre ich ihn zischen: "Scheiße! Scheiße!" Ich glaube, passender könnte man sich dazu im Moment nicht äußern. Wir sprechen noch eine Weile und legen dann auf.

Zu Hause will ich nicht bleiben und gehe aus um zu sehen, "was im Lande los ist". Doch gleich im Hof begegnet mir ein Nachbar, den ich seit langem nicht gesehen habe

"Du?", fragt er erstaunt statt mich zu grüßen.
"Wie du siehst", antworte ich unwillig. Den Mann kann ich nicht besonders leiden.
"Bist du sogar jetzt immer noch hier?" Sein Staunen scheint echt zu sein. Er wundert sich immer, wenn ich nach jeder Deutschlandreise wieder zurückkomme und nicht dort bleibe. Deswegen hält er mich für einen Vollidioten.
"An deiner Stelle wäre ich schon lange abgehauen?" Er ist seit Jahren arbeitslos und träumt seitdem vom Goldenen Westen, vergisst dabei aber, dass er, wie ich auch übrigens, schon lange über fünfzig ist. Alle seine Visumanträge werden dauernd abgelehnt.

"Hör mal", sagt er und packt mich am Arm, "die Lage ist doch supergünstig! Wenn du abhaust, kriegst du dort garantiert das politische Asyl. Du siehst doch, was im Lande los ist!"

Ich will ihm antworten, dass ich gerade deswegen ausgehen will um das etwas genauer zu erfahren, aber im letzten Augenblick überlege ich es mir anders und stelle eine Frage, die ihn erfahrungsgemäß fast immer zur Weißglut bringt:
"Was soll ich, um Gottes willen, in Deutschland?"
Wider Erwartung bleibt er diesmal relativ ruhig.
"Aber jetzt pass auf und hör mir zu!" sagt er mit Duldermine, "wenn du das politische Asyl kriegst, kannst du dann auch die Familienzusammenführung verlangen!" Er muss mittlerweile im internationalen Recht ein Amateurexperte geworden sein.
"Und?", frage ich provozierend. Er lässt meinen Arm los und sieht mich fast mitleidsvoll an.
"Und dann seid ihr alle in Deutschland!!!" Das letzte Wort spricht er so ehrfurchtsvoll aus, als spräche er über ein Heiligtum. "Verstehst du, was das bedeutet?"
"Ein Flüchtlingslager, was denn sonst?" antworte ich und drehe mich um. Es hat überhaupt keinen Sinn, mit ihm und Seinesgleichen über das Thema Ausreise zu diskutieren. "Du hast eigentlich Recht!" höre ich schon im Gehen, "so einer wie du, hat dort wirklich nichts zu suchen!"

Am U-Bahneingang sehe ich eine Gruppe diskutierender Menschen. Ein untersetzter Mann etwa Anfang vierzig gestikuliert heftig. "?und diese Idioten glauben im Ernst, dass sie ab heute einen wirklichen Staat haben! Ist doch alles Quatsch! Russland verschlingt sie in ein paar Jahren und basta?Dann ist es ein für allemal aus mit ihnen, diesen Idioten?"

Etwa dreißig Meter weiter stehen ein paar Männer. "?niemand, keine Seele? Diese Scheißkerle haben bis heute kein einziges Protestwort fallen lassen?" Soviel ich aus dem Kontext erfahren kann, schimpft der Mann auf die georgischen Fußballer, die in Russland spielen.

Unweit von den schimpfenden Männern stehen zwei Frauen mit traurigen Gesichtern vor der Geldwechselstube. "Der Euro ist wieder gefallen", sagt die Eine, "meine Nichte hat vorgestern aus Griechenland hundertfünfzig Euro überwiesen, aber der Wechselkurs sinkt ja von Stunde zu Stunde? Gott!" Die Andere nickt nur stumm und seufzt.

Ich gehe weiter. Alle Geschäfte sind auf. Zwei Jungen stehen am Schaufenster eines großen Computergeschäfts. "Die werden bestimmt wieder teuer", meint der Eine und deutet auf die ausgestellten PCs. "Klar", sagt der Andere nachdenklich, "die Russen haben doch die Schulen und alle anderen Gebäude total ausgeraubt, wo die Computer gestanden haben? Im September wollte ich mir einen neuen kaufen?" Plötzlich spüre ich eine leichte Vibration in meiner Tasche. Mein Handy klingelt.

"Hallo, wo bist du?" fragt mein Freund, "wir sind schon unterwegs zu dir." Ich brauche nicht zu fragen, wer "wir" ist - also auch Gia ist da. Wir drei sind seit Ewigkeit fast wie Brüder.
"Okay, bin in fünfzehn Minuten zu Hause", antworte ich und freue mich auf den Rest des Abends.

Am Abend hören wir im Fernsehen, die Lage sei im Prinzip nicht so schlimm und es sei auch nichts Unerwartetes passiert. Hauptsache Ruhe bewahren. Keine Panik! Und dem Feind unsere Einigkeit zeigen! Das tun wir auch. Wir drei auf jeden Fall. Mal sehen, was morgen kommt. Dass der Westen uns fest unterstützt, gibt uns Hoffnung, obwohl uns natürlich klar ist, dass auch eine große Unterstützung ihre Grenzen hat und auch wir Georgier selbst etwas machen müssen. Je schneller, umso besser.

Tengis Khachapuridse