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Mit Spannung erwartet: die entscheidenden Jahre auf dem Weg zur Wiedervereinigung, geschildert vom Kanzler der Einheit.
Ob in Berlin am Tag des Mauerfalls oder mit Michail Gorbatschow auf der Krim, ob mit François Mitterrand in Verdun oder mit Ronald Reagan in Bitburg - während seiner Kanzlerschaft schuf Helmut Kohl Bilder von prägender Kraft, die Eingang gefunden haben in das Gedächtnis der Republik.
Vom Nato-Doppelbeschluss bis zur Wiedervereinigung hat er die Weichen gestellt, die über die Zukunft Deutschlands und Europas entschieden. Angetreten mit dem Versprechen, die
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Produktbeschreibung
Mit Spannung erwartet: die entscheidenden Jahre auf dem Weg zur Wiedervereinigung, geschildert vom Kanzler der Einheit.

Ob in Berlin am Tag des Mauerfalls oder mit Michail Gorbatschow auf der Krim, ob mit François Mitterrand in Verdun oder mit Ronald Reagan in Bitburg - während seiner Kanzlerschaft schuf Helmut Kohl Bilder von prägender Kraft, die Eingang gefunden haben in das Gedächtnis der Republik.

Vom Nato-Doppelbeschluss bis zur Wiedervereinigung hat er die Weichen gestellt, die über die Zukunft Deutschlands und Europas entschieden. Angetreten mit dem Versprechen, die »geistig-moralische Wende« zu schaffen, gelang es unter seiner Regierung, die Bundesrepublik ökonomisch und sozial neu auszurichten. Jetzt gibt Helmut Kohl Auskunft über die dramatische Schlussphase des Kalten Krieges und den Fall der Mauer. Er erzählt von seinen Erfahrungen und Einsichten, von Weggefährten und Kontrahenten - und er erzählt mit jener Leidenschaft und Überzeugungskraft, die heute in der Politik so selten geworden sind.

Autorenporträt
Dr. Helmut Kohl, geboren am 3. April 1930 und verstorben am 16. Juni 2017 in Ludwigshafen am Rhein. Seit 1947 Mitglied der CDU. Von 1959 bis 1976 Mitglied des Landtags von Rheinland-Pfalz. Von 1969 bis 1976 Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz. Von 1973 bis 1998 Bundesvorsitzender der CDU. Von 1976 bis 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages. Vom 1. Oktober 1982 bis 27. Oktober 1998 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Helmut Kohl ist mit 16 Jahren Regierungszeit bis heute der am längsten amtierende deutsche Bundeskanzler. Er war der sechste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland und der erste Bundeskanzler des wiedervereinten Deutschland. Im Dezember 1998 wurde er zum Ehrenbürger Europas ernannt. Helmut Kohl lebte bis zu seinem Tod mit seiner Frau Dr. Maike Kohl-Richter in seiner Heimatstadt Ludwigshafen.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Gunter Hofmanns Befund: Helmut Kohl leistet "Reparaturarbeit" an seinem Bild. Nato-Doppelbeschluss, die Notwendigkeit von Bündnistreue und geistig-moralischer Standhaftigkeit und von dort aus direkt zur Wiedervereinigung und zur EU - eine schlichte historische Kausalkette mit Kohl als Fels in der Brandung, die der Rezensent etwas anders in Erinnerung hat. Aber so sei das eben beim Fertigen von "Kanzler-Legenden": Was nicht ins Bild passt oder zu komplex ist, fällt unter den Tisch. Nach dem Motto: "Reim dich, oder ich fress dich!" Zum Beispiel die Entspannungspolitik von Brandt und Bahr, die in Kohls selektiver Erinnerungen keine Rolle für die europäische Gegenwart spielt. Stattdessen lässt er nachträglich seinem Abscheu vor allem, was er als Anbiederung an den Warschauer Pakt oder die DDR empfand, freien Lauf und zeichnet dabei, so Hofmann, ein Bild in klarem Schwarzweiß, mit Richard von Weizsäcker als Zeitgeistopportunisten und Bösewicht. Fazit: das Selbstporträt eines von sich selbst Überzeugten vor sauberer Geschichtskulisse.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.12.2005

Mister Europa
Vom Regierungsantritt bis zur Wiedervereinigung: Helmut Kohls großer Rechenschaftsbericht über Machterhalt, Freunde und Gegner

Den Tag des konstruktiven Mißtrauensvotums am 1. Oktober 1982 kann ich ohne Probleme als den Tag identifizieren, an dem ich zum ersten Mal volle Erinnerung an ein politisches Ereignis habe: Ich bin zwölf Jahre alt, mir sind die Umstände der Wahl von Helmut Kohl zu diesem Zeitpunkt unbekannt. Aber daß meine Eltern das ganze Verfahren unfair finden, merkt man deutlich. Das ist sehr ungewöhnlich. Meine Eltern gehören keiner Partei an, politische Diskussionen sind höchst selten. Als die Frau des Diakons in meinem Dorf an diesem Abend wie üblich Eier kaufen kommt, hocherfreut und strahlend verkündet, daß es jetzt wieder aufwärtsgehe mit Deutschland, wird klar, daß meine Mutter nicht annähernd so begeistert von dieser Aussicht ist - was die Frau des Diakons aber überhaupt nicht zu bemerken scheint. Ich schon. Ein Vorgang, der für Außenstehende klein und unbedeutend anmutet, der für mich jedoch eine Tür ins Erwachsenendasein öffnete, einen Einblick in seine verschwiegenen Zonen. Meine Neugier ist geweckt, und Helmut Kohl steht ab sofort unter verschärfter Beobachtung. In seinen Erinnerungen berichtet er von diesem für ihn so wichtigen Tag betont nüchtern, es soll nicht triumphal wirken, er legt den Stolz in die Perspektive seiner Frau Hannelore: "Sie war in diesem Augenblick so stolz auf mich, wie es sicher jede Frau in einer solchen Situation auf ihren Mann gewesen wäre . . . Selten habe ich Hannelore in so ausgelassener Feierlaune erlebt wie an diesem Abend." Es ist ein bißchen wie bei der Frau des Diakons.

Helmut Kohl. Auch in der Rückschau ist dieser Mann ein Brocken. Der Umfang des zweiten Teils seiner Erinnerungen paßt sich dem nur an. Längst wissen wir, auch ein Helmut Kohl ist abwählbar. Das Trauma meiner Juso-Jahre: daß er genau das nicht ist - verrückbar! -, ist als Irrtum entlarvt. Dennoch: Der Mann will nicht so recht schrumpfen. Ich sehe mir die Bilder an. Kohl mit seinen Freunden Gorbatschow, Thatcher, Mitterrand, Bush (dem Vater!), Reagan. Familienbilder meiner Jugend, ikonographisch aneinandergereiht. Das Flair des Altbackenen umweht Kleider und Leute. Kohl immer mittendrin, noch nicht so füllig, aber stark. Selbstgefällig, aber mit ehrlicher Freude im Gesicht. Es ist dieser lächelnde Kohl, der sich mit meiner zunehmend wacheren Beobachtung zu beißen beginnt. Es ist die Kluft von Worten und Taten, die in meinen Augen an Helmut Kohls Nimbus nagen. Vor der Bundestagswahl 1983 faßt er den Duktus der "geistig-moralischen Erneuerung" zusammen und entkleidet gleichzeitig den dahinterliegenden strategischen Kern: "Wir würden diese Wahl nur dann gewinnen, wenn wir moralisch-ethische Kategorien in den Wahlkampf einbrachten: die Wahrheit sagen, wahrhaftig, ehrlich und offen argumentieren, Mut haben, den Menschen zu sagen, wie es um sie steht, was auf sie zukommt, und zeigen, daß wir die politische Kraft der Zukunft sind."

Die Affäre um den General Kießling geht noch an mir vorüber, Bitburg, nicht weit von meiner Heimat entfernt, schlägt 1985 ein. Kohl liebt die große Geste. Er setzt sie sinnvoll ein - zum Beispiel mit Mitterrand in Verdun. In Bitburg mißlingt das gründlich. Einerseits ist auch hier eine große Geste beabsichtigt, ganz bewußt wird Symbolpolitik angestrebt. Kohl berichtet sehr offen über die verschiedenen Alternativen, die er mit Ronald Reagan durchspricht. Aber als dann öffentlich wird, daß auf dem Soldatenfriedhof 49 Mitglieder der Waffen-SS begraben sind, finden weder Kohl noch Reagan den Willen oder die Kraft umzusteuern. Die symbolische Geste gerät zum Fiasko. Symptomatisch für die Erinnerungen Kohls: Er dreht den Spieß um. Kohl argumentiert mit der Jugend der Soldaten, zitiert Kurt Schumacher, hinterfragt geschickt die Richterattitüde der Nachgeborenen, entlastet sich, indem er öffentlich macht, daß er Reagan den Rückzug von dem Besuch angeboten hat. Klagt mehrfach an. Spricht von Kampagne, Proteststurm, Unterstellungen. Wenige Passagen sind mit größerer argumentativer Dichte diktiert. Wir lesen einen Rechenschaftsbericht. Es ist nicht die einzige Passage, die diese Züge trägt. Die gesamten Erinnerungen tragen den Ton der Korrektur, Rechtfertigung, Belehrung, Verlautbarung - mal mehr, mal weniger.

Erstmalig höre ich in dieser Woche von einem älteren Mann bei uns im Dorf, der Mitglied der Waffen-SS war und jetzt öffentlich darüber spricht. Von Kameradschaftstreffen, die man abhalte. Einer meiner Großväter war Mitglied der NSDAP, erfahre ich durch Zufall, der andere in Stalingrad verwundet: "Kind, du weißt nicht, was Krieg ist", schneidet er meine Fragen ab. Ich fange sehr intensiv an, mich mit dem Nationalsozialismus zu beschäftigen. Durchlaufe diese Schockscham, dieses ungläubige Entsetzen, die Trauer und die Wut. Wieder löst Kohl einen politischen Schub bei mir aus.

Zwei Jahre später lege ich einen Aktenordner an. Die Barschel-Affäre ist in vollem Gange. Ich sammle alle verfügbaren Artikel. Ehrenworte werden gebrochen, Mord oder Selbstmord? Politik stellt jeden Krimi in den Schatten. Danach bin ich fest davon überzeugt, daß die CDU nicht wählbar ist. (Das ist sie für mich immer noch, obgleich ich inzwischen moralischen Rigorismus aus guten Gründen meide.) Und Helmut Kohl erinnert sich auch. Daran, daß er Uwe Barschel noch nie mochte. (Er hat es geahnt, will uns das wohl sagen.) Daran, daß Gerhard Stoltenberg von der Stasi ein Ei ins Netz gelegt wurde. Aber was das für die vielbeschworene Moral im Lande, die politische Klasse insgesamt bedeutete - Fehlanzeige. Im Stile eines Altersweisen referiert Kohl über das Versagen des einzelnen im Angesicht der Macht: "Macht gehört zur politischen Gestaltung in der Demokratie, aber sie ist nicht Selbstzweck, und sie lohnt schon gar nicht um jeden Preis. Wir müssen den Versuchungen widerstehen, die von Macht ausgehen können. Wer ein öffentliches Amt innehat, darf es nicht selbstherrlich ausüben. Macht ist verträglich, wenn sie bereit ist zu dienen."

Man reibt sich die Augen. In seinen Erinnerungen geht es um ihn, das ist selbstverständlich. Aber es geht nur um ihn. Oder besser: Es geht über 1088 Seiten pausenlos um die machtpolitischen Durchsetzungsstrategien von Helmut Kohl. Minutiös berichtet er ellenlang über Stimmergebnisse, Dauerwahlkampf, die "Durchsetzungswahl", Niederlagen, das Abbürsten und Überleben innerparteilischer und außerparteilicher Gegner. Gut für unser Land? Gut für die CDU wenigstens? Kohl ist immerhin offen. Austeilen kann er. Mal fein, mal weniger fein haut er auf politische Gegner ein. Besonders erwähnenswert - da ich ihn persönlich sehr schätze - beispielsweise sein Urteil über Hans Jochen Vogel, dem er "Opportunismus" unterstellt, "Anbiederung an die Grünen" und ähnliches mehr. Von seinen Attacken auf Richard von Weizäcker ganz zu schweigen.

Es geht auch um seinen Glanz, wenn er die Leistung anderer schmälert. Keinen Millimeter räumt er der Entspannungspolitik Willy Brandts und Helmut Schmidts als Beitrag zur Einheit Deutschlands ein. Gesellschaftliche Debatten und Bewegungen finden nur am Rande einen Platz. Reflektiert werden sie nur unter dem Gesichtspunkt der machtpolitischen Beherrschung ihrer Folgen. Kohl schafft feste Strukturen und unumstößliche Fakten. Er ist "Mister Europa". (Und das ist er auch ohne jeden Zweifel!) Freudestrahlender Dirigent der deutschen Einheit. Geschichtsmantelumwehter Kleinbürger aus der Pfalz: Ich lese Seite um Seite, bin wenig überrascht. Kohl ist der Bundeskanzler meiner Jugend und die Borke, an der wir uns alle über viele Jahre gerieben haben. Man kennt sich. Aber warum gewinnt dieser Mann, der kein Gewinnertyp ist, immer aufs neue? Glück. Ja, das gehört dazu. Aber es reicht nicht als Erklärung.

Es hat eine Fülle von politisierenden Ereignissen gegeben zwischen 1982 und 1990. Nato-Nachrüstung, Wackersdorf, SDI, Atomenergie und nicht zuletzt die deutsche Einheit. Warum bin ich dann einer dieser Exoten in meiner Generation? Exoten waren all diejenigen meines Abiturjahrgangs, die sich für Politik interessiert haben oder gar Mitglied einer Partei wurden. Mehr als zwei oder drei pro Jahrgang wollten einen solchen Makel nicht auf sich nehmen. Meine Generation: Das sind die Mittdreißiger, alles Kohl-Kinder, die sich früh darauf verständigt haben, den öffentlichen Raum zu meiden. Machtvergessen. Vorsichtig. Erfolgsorientiert im Beruf. Kohl entzündete nicht unsere Herzen. Aber er war unsere sichere Bank. Seine nicht selten tolpatschig anmutenden Auftritte tauchten seine teils rüde Machtpolitik in mildes Licht. Und weil er durchhält, werden nach und nach die vielen kleinen und größeren Affären zur Normalität. Politik wird unglaubwürdiger, menschlicher, enttheorisiert. Kohl der Antiheld ist ideal für uns. Ideal, um die eigene politische Enthaltsamkeit zu begründen.

Kohl muß weg. Wieso eigentlich? Es holpert hier und da, aber es läuft. Wir fühlen uns wundersam geborgen. Wir wollen uns sicher fühlen - wenigstens irgendwo. Im Leben und im Beruf ist es schon unsicher genug. Scheidungen allerorten. Seit Beginn der achtziger Jahre sind die goldenen Zeiten auf dem Arbeitsmarkt vorbei. Vorbei die Zeit, in der Akademiker nach dem Studium sich die Rosinen unter mehreren Angeboten aussuchen können. Wir wissen: Wir müssen ranklotzen. Wir konzentrieren uns auf unsere Biographien. Wir sind fleißig - und weil das alleine nicht reicht, organisieren wir feldstabsmäßig auch unseren Fun. Beisammensein wird zum Event. Wir werden exhibitionistisch im Privaten, aber unsichtbar im Politischen. Wir sind heimliche Spießer, denen die Homo-Ehe nix mehr ausmacht. Kohl schafft uns. Wir fühlen uns überlegen, sind es aber nicht. Illusionsfrei, aber ohne Esprit. Ironisch, aber ohne Frohsinn. Beflissen, aber mit unsicherer Perspektive. Wir haben Angst und reden über Schallplatten. Wir bleiben so lange wie möglich Kind. Das ist eine gute Zeit, soviel wissen wir, was danach kommt, ist ungewiß.

Kohl trägt uns durch. Er ist unsere Kontrastfolie: unersetzlich, unverrückbar, bieder. Zum Glück wissen wir nicht mehr von ihm. Wir wissen alles, was wir wissen wollen. Er ist keine moralische Instanz, er ist kein Charismatiker, er ist kein mitreißender Redner, er ist kein brillanter Kopf - aber er macht Freunde, er hat Instinkt, alles im Griff, die Nase vorn, die Ereignisse fließen mit ihm und durch ihn hindurch. Er dampft alles auf sein ureigenstes Maß ein. Und wenn er dafür ein drittes Band Erinnerungen braucht, so what? Er verspricht blühende Landschaften. Wir im Westen glauben das nicht, aber das lernen die drüben früher oder später schon selbst. Er wackelt nicht, selbst da, wo es nötig wäre, um ein bißchen Anstand zu retten. Dafür belästigt er uns nicht unnötig mit Politik. Er ist peinlich und beruhigend zugleich. So sind wir im Schatten eines großen Machtmenschen die machtvergessene Generation.

Kohl ist stolz auf sein System des innerparteilichen Machterhalts, auf seine gewonnenen Wahlen, auf seinen Instinkt, seine Kondition, seinen Ankerplatz in der Geschichte. Und er hat allen Grund. "Es täusche sich niemand: Die Menschen merken schnell, ob wir ihnen dienen wollen und unsere Pflicht tun. Sie sind unsere Mitbürger, und sie erwarten zu Recht, daß wir für sie da sind. Politik ist nicht wie ein Schachspiel für Strategen, die Figuren hin und her bewegen." Und wenn doch? Chapeau, Herr Kohl.

ANDREA NAHLES

Helmut Kohl: Erinnerungen 1982-1990. Droemer Verlag, München 2005. 1136 S., 29,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.11.2005

Staatsmann, Amtsinhaber, Lehnsherr: Der neue Memoirenband zeigt, wie der frühere Kanzler Politik versteht
Der kleinkarierte König
„Verrat war nie meine Sache”: Im zweiten Teil seiner Erinnerungen rechnet Helmut Kohl mit jenen ab, die er für untreu hält
Von Warnfried Dettling
Der zweite Band der „Erinnerungen” von Helmut Kohl ist mit mehr als tausend Seiten nicht nur viel umfangreicher, sondern auch besser und wichtiger, lesbarer und unterhaltsamer als der erste, der vor eineinhalb Jahren erschien. Das liegt natürlich vor allem daran, dass Kohl die „aufregendsten Jahre” seines politischen Lebens beschreibt, 1982 bis 1990: Kanzlerschaft, Nachrüstung, Glasnost und Perestroika, ein „gescheiterter Putsch” gegen den CDU-Vorsitzenden, der Fall der Mauer. Den Nato-Doppelbeschluss gegen den Widerstand der Opposition und der Friedensbewegung hält Kohl „bis heute für das wichtigste Verdienst” seiner Regierung, weil sonst die Wiedervereinigung nicht möglich gewesen wäre.
Es liegt auf der Hand, dass der Memoirenband für Zeitgeschichtler von besonderem Interesse ist. Aber sogar jenen, die mehr an Klatsch und Tratsch interessiert sind, bietet das Buch eine kurzweilige Lektüre. Ein alter Mann schaut zurück, staunt und wundert sich - und sieht, dass (fast) alles gut war. Es nagen keine Zweifel an seiner Bilanz; ab und zu huscht ein Hauch Selbstironie durch die Seiten. So berichtet er stolz über die familienpolitischen Taten seiner Regierung, welche die „Geburtenentwicklung fördern” sollten. Leider, notiert er lakonisch, „blieb der erhoffte Erfolg weitgehend aus.” Oder er erinnert sich an einen Regierungssprecher, der ihm abhanden kam („er hatte ein steuerrechtliches Ermittlungsverfahren am Hals”), kaum dass Kohl sich „richtig an ihn gewöhnt” hatte. Es ist Lektor und Verlag zu danken, dass sie solche Passagen von unfreiwilliger Komik nicht glatt gebügelt haben. So behält das Buch seinen authentischen Charakter.
Umsichtig und souverän
Das Buch endet mit der deutschen Vereinigung. In bisher unbekannten Einblicken hinter die Kulissen des Einigungsprozesses liegt ohne Zweifel sein besonderer historischer Wert. Die langen, nie langweiligen Passagen zeigen das Bild eines Staatsmannes, der den Kairos, den historischen Moment, erkannte und ihn mit Klugheit, Kompetenz und Entschlossenheit nutzte. Es liest sich eindrucksvoll und spannend, wie umsichtig, souverän und trittsicher Kohl durch diese 329 Tage ging; wie er das „Doppelspiel” des französischen Präsidenten Mitterrand durchschaute und dessen Gegenwind in die Segel der deutschen Einheit umlenkte; wie er mit klaren Positionen, diplomatischem Geschick und als Virtuose persönlich-politischer Beziehungen die Unterstützung von Bush senior, Gorbatschow und Mitterrand gewann und die offene Ablehnung durch Margaret Thatcher konterte. Es sind diese Leistungen im Prozess der deutschen Einigung zusammen mit seinem Engagement für ein vereintes Europa, die Kohl seinen Platz in der Geschichte sichern.
Das Buch beginnt mit Kohls Wahl zum Kanzler am 1. Oktober 1982 - und der Fanfare von der „geistig-moralischen Erneuerung”, der das Land bedürfe. Kohl zählt arglos die Stichworte der damaligen Krisenrhetorik auf, die seine erste Regierungserklärung prägen: zerrüttete Staatsfinanzen, Wirtschaftsschwäche, Arbeitslosigkeit, Überdehnung des Sozialstaates, mehr Eigenverantwortung. Angela Merkel kann, wenn es dazu kommt, in ihrer Regierungserklärung Kohls erste intonieren, die Quelle verschweigen - und niemand wird es merken. Heute rätseln Wissenschaftler wie der Heidelberger Politologe Manfred G. Schmidt (in seinem brillanten Buch über die Geschichte der Sozialpolitik von 1982 bis 1989), wie sich diese unglaubliche Diskrepanz zwischen Kohls bombastischer Wende-Rhetorik und seiner pragmatischen Politik des „Weiter so” erklären lasse. Kohls „Erinnerungen” geben eine Antwort: Der Kanzler und sein Sozialminister hielten aus Instinkt und Überzeugung am Rheinischen Kapitalismus und an einem fürsorglichen Sozialstaat fest. Und so kam es, dass es anders als zur selben Zeit in den USA (Reagan) und in Großbritannien (Thatcher) in Deutschland zwar eine entsprechende Rhetorik, aber keine Wende gab.
Die allfälligen Anpassungsreformen stilisiert Kohl jetzt im Nachhinein zum Beginn der Reformära. Davon kann aber keine Rede sein: In der Sozial- und Gesellschaftspolitik hat Kohl die Geschäfte im Rahmen der bestehenden Strukturen weitergeführt. Das kann man anerkennen, weil der Sozialstaat den Menschen Sicherheit, Heimat und Wärme spendet. Man kann darin freilich auch den Beginn der verlorenen Jahre sehen, deren Erbe jetzt eine Politik nötig macht, die damals noch sanfter hätte ausfallen können.
Wenn Kohl sich in den „Erinnerungen” von Blüm distanziert, ihm wie auch Heiner Geißler vorwirft, sozialpolitisch „übers Ziel hinausgeschossen” zu sein, es sogar „politisch und persönlich einen schweren Fehler” nennt, Blüm sechzehn Jahre lang als Minister behalten zu haben, dann sind die Gründe dafür ganz woanders zu suchen: in einer versunkenen, aber für Kohl realen Welt, in der Ehrenwort, Lehen und Treueschwüre noch zählen. Blüm hat sich in der Spendenaffäre von ihm getrennt, weil Kohl sein „Ehrenwort” gegenüber anonymen Spendern über Recht und Gesetz stellt. Jetzt schlägt Kohl zurück; er will Blüm wie alle ehemaligen Gegner treffen: Späth und Geißler, Kiep und Biedenkopf, Süssmuth und Weizsäcker.
„Verrat war nie meine Sache.” So beginnt ein merkwürdiges Kapitel über den früheren Bundespräsidenten. Der Sinn wird ein paar Zeilen später deutlich: „Die Hand, die segnet, wird zuerst gebissen. Das ist eine wichtige Erfahrung in meinem Leben.” Kaum einer habe vom „System Kohl” so sehr profitiert - und kaum einer habe es so sehr kritisiert wie Richard von Weizsäcker: Kritik statt Dankbarkeit und nicht Huld gegen Treue. Demnach können „Abweichler” und „Umstürzler” nur niedere Motive haben. Es ist ein Muster, das immer wiederkehrt: die Moralisierung von Kritik und abweichendem Verhalten.
Doch wie kommt es, dass ein so großer Mann in so kleinen Karos denkt? Verbergen sich hinter der barocken Fassade vielleicht Angst und Unsicherheit? Zweimal war Kohl seinem politischen Ende nahe, und er spricht ganz offen darüber. Das eine Mal, Ende der siebziger Jahre, rettete ihn die gescheiterte Kanzlerkandidatur von Franz Josef Strauß, das andere Mal die deutsche Einheit - und der ungarische Außenminister Gyula Horn: Pünktlich zum Presseabend des „Putsch-Parteitages” in Bremen am 10. September 1989 („Ich bat die ungarische Seite, das Ereignis bereits um 20 Uhr öffentlich zu machen”) verkündeten Horn und Hans-Dietrich Genscher die Nachricht von der Öffnung der ungarischen Grenze. Kohl konnte „mit großer Genugtuung”, wie er schreibt, Journalisten und den Parteitag informieren. Der Putsch war gescheitert.
Die Folgen seiner Feudalherrschaft über die CDU sollten sich noch entfalten. Die Partei schrumpfte zusammen, erst an Ideen, dann an Wählern. Helmut Kohl hat in den Jahren, die er hier beschreibt, die alte Bundesrepublik und die alte CDU repräsentiert wie kein anderer. Es ist noch nicht lange her, und doch sind es „Erinnerungen” an ein anderes Land.
Helmut Kohl, Erinnerungen 1982 - 1990, Droemer, 1152 Seiten, 29,90 Euro.
Der Autor leitete von 1973 bis 1983 die Planungsgruppe in der CDU-Bundesgeschäftsstelle. Heute lebt er als Publizist in Berlin.
Und es war alles gut: Zufrieden stellte Helmut Kohl am Mittwoch seinen Memoirenband vor.
Foto: dpa
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