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Paul Ricoeurs umfangreiche und gewichtige Studie ist nicht nur ein zentraler Beitrag zu den in den letzten Jahren immer bedeutender gewordenen Diskussionen um Gedächtniskultur, Erinnerung und Vergessen, sondern zugleich deren philosophische Durchdringung. Ricoeur geht dabei über die eher soziologischen Untersuchungen der memorativen Praktiken des 20. Jahrhunderts weit hinaus und entwirft eine systematische Geschichte und Theorie des Gedächtnisses. In drei großen Komplexen nähert er sich dem Erinnern: in phänomenologischer und historischer Perspektive (vom griechischen Erbe ausgehend über…mehr

Produktbeschreibung
Paul Ricoeurs umfangreiche und gewichtige Studie ist nicht nur ein zentraler Beitrag zu den in den letzten Jahren immer bedeutender gewordenen Diskussionen um Gedächtniskultur, Erinnerung und Vergessen, sondern zugleich deren philosophische Durchdringung. Ricoeur geht dabei über die eher soziologischen Untersuchungen der memorativen Praktiken des 20. Jahrhunderts weit hinaus und entwirft eine systematische Geschichte und Theorie des Gedächtnisses. In drei großen Komplexen nähert er sich dem Erinnern: in phänomenologischer und historischer Perspektive (vom griechischen Erbe ausgehend über Augustinus bis zu Husserl und zum kollektiven Gedächtnis bei Maurice Halbwachs), in erkenntnistheoretischer Hinsicht (die Geschichtswissenschaft als Gedächtnisautorität, die gleichwohl mit dem lebendigen Gedächtnis in Widerstreit geraten kann) und in hermeneutischer Absicht (eine Reflexion über die geschichtliche Bedingtheit des Erinnerns und dessen geheime Beziehung zum Vergessen). Paul Ricoeurist emeritierter Professor der Universität Paris-X (Nanterre) und der Universität von Chicago, lehrte außerdem in Strasbourg und Paris Sorbonne. Für seine Schriften zur Hermeneutik und symbolischen Formen erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Hegel Preis, den Grand Prix de l'Académie française, den Balzan Preis sowie den Kyoto Preis.
Autorenporträt
Paul Ricoeur, 19132005, französischer Philosoph, war zuletzt Professor an der Universität Paris-Nanterre und Lehrstuhlnachfolger von Paul Tillich an der University of Chicago. Neben existenz- und geschichtsphilosophischen Forschungen widmete er sich intensiv dem Problem der Sprache.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.12.2004

Vom Meer in den Hafen des Sinns
Paul Ricœurs Odyssee führt in die historische Versöhnung
Wüsste man nicht, dass Paul Ricœur der Nestor der Phänomenologie ist, der mit Geduld die Schichtungen der Erfahrung aufzudecken und die Eidetik des Bewusstseins zu durchmessen versteht, könnte man ihn für einen scheiternden Schüler Hegels halten. Jedenfalls liest sich seine monumentale Studie über die Trias Gedächtnis, Geschichte und Vergessen über weite Strecken großteils wie eine mit vielen Abschiedsseufzern verfasste Reminiszenz an den Meisterdenker dialektischer Synthese. Dass er mit der Idee der Selbstentfaltung eines absoluten Geistes auskommen möchte, erscheint angesichts jüngster Geschichtserfahrungen durchaus verständlich.
Doch weiß auch Ricœur um die Risiken eines solchen Verzichts: Ohne übergreifende Betrachtungsperspektive droht die Phänomenologie sich entweder in den Abenteuern der Geschichtsdialektik zu verlieren oder in inhaltsleeren eidetischen Formalismen zu erstarren. Hier einen Mittelweg zu finden, ist die selbstgestellte Aufgabe des Buches. Allerdings, so der Hinweis schon in der Einleitung, wird das Vorhaben, die komplizierten Beziehungen zwischen Erinnerung, Vergessen und Geschichte zu entwirren, nicht aufzuklären sein, sondern sich zunehmend zu einem phänomenologischen Rätsel schürzen.
Und in der Tat mündet Ricœurs Bestreben, diese Trias in die bewusstseinsphilosophische Formel einer „Anwesenheit einer Abwesenheit” einzuspannen, alsbald in die Sackgasse eines bloßen Paradoxes.
Und dies nicht überraschend, denn es ist mit den Mitteln der Phänomenologie kaum plausibel zu erklären, warum etwas Vergangenes in einer spezifischen Gestalt vergegenwärtigt wird und auf welche Weise genau eine objektive Absenz in eine subjektive Präsenz verwandelt werden kann. Und vor allem bleibt die Frage: Wie ist phänomenologisch zu bestimmen, wer sich woran und woran nicht erinnern soll?
Ricoeur kann sich natürlich darauf verlassen, dass unser Bewusstsein geschichtlich ist, dass Gedächtnis stets auf eine bestimmte Weise arbeitet, dass wir mit Gewissheit zwischen bloßer Fiktion und faktischem Geschehen zu unterscheiden wissen. Er gewinnt daraus immer wieder einen schlagenden Einwand gegen alle Versuche, die conditio historica des Menschen zugunsten einer geheimen Ökonomie der Lebenskräfte, eines transhistorischen Willens zur Macht oder des Unbewussten aufzuweichen oder gar postmodernistisch zu fiktionalisieren.
Selbstvergessenheit der Schuld
Man fragt sich nach einer Weile, warum Ricœur sich genötigt fühlt, sich und dem Leser die Fruchtbarkeit seines Ansatzes bis in praktisch alle Feinheiten der jeweiligen Debatten beweisen zu müssen. Der Bogen seiner Darlegungen spannt sich von Platon und Aristoteles über Augustinus bis Husserl und Heidegger, von Nietzsches Historismus-Kritik bis zu Piere Noras „Erinnerungsorten”, von Maurice Halbwachs bis zum deutschen „Historikerstreit” zwischen Ernst Nolte und Jürgen Habermas, von Reinhart Koselleck bis Hayden White.
Ricœurs Antwort erfährt der Leser erst auf den letzten hundert Seiten des Buches: Es geht ihm um die „schwierige Vergebung”, die sich mit der moralischen Dimension des Historischen verknüpft. Schwierig ist diese Vergebung vor allem deshalb, weil die phänomenologische Beschreibung des Historischen kein Votum für dessen spezifische moralische Qualifizierung belässt; der Historiker dürfe nicht sich nicht zum Richter aufschwingen wollen. Dann aber entwickelt er in einem „Epilog” die Theorie der existenziellen Zurechenbarkeit, aus der sowohl Schuldfähigkeit wie die Vergebung für historisches Handeln soll abgeleitet werden können.
Indes, dies weiß auch Ricœur, kann eine solche Überlegung nicht im Namen einer überhistorischen Instanz gewährt werden, sondern ist allenfalls regulative Idee einer, wie er es nennt, historischen Odyssee. Vergebung ist der dann doch eschatologisch besetzte Topos für ein, glückliches und versöhntes Gedächtnis. Die Figur eines versöhnend-bewahrenden Gedächtnisses ruft am Ende doch das hegelsche Motiv der Aufhebung des Widersprüchlichen auf, das für den Phänomenologen ein Paradox blieb. Nach abenteuerlichen Ausfahrten auf das raue Meer der Kontingenzen lässt sie den Autor in den sicheren Hafen des historischen Sinns einlaufen.
Aber anders als Hegel vertraut Ricœur nicht länger auf die Selbstentfaltung und Selbsterhaltung der Vernunft in der Geschichte. Vielmehr stehen Gedächtnis, Geschichte, Vergessen - trotz der Unvergleichbarkeit der Shoa und all der moralischen Ungeheuerlichkeit in der Geschichte - für den Autor für eine, wie er sagt, Trias göttlicher Zerstreuung. Nach der sorgfältigen Durchmusterung des Historischen erreicht das Bewusstsein jene Selbstvergessenheit der Schuld, die den Menschen innewerden lässt, wie herrlich es sei, Mensch zu sein - die historisierende Phänomenologie ruht auf der Idee eines liebenden Gottes, der sie am Ende davor bewahrt, aus den Fugen der Humanität zu geraten. Aber ist eine solche Eschatologie des glücklichen Bewusstseins dann noch jene Phänomenologie, die mit Husserl zu den „Sachen selbst” kommt?
MATTHIAS KROSS
PAUL RICŒUR: Gedächtnis - Geschichte - Vergessen. Aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondeck, Heinz Jatho und Markus Sedlaczek. Wilhelm Fink, München 2004. 783 Seiten, 78 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Paul Riceur, das weiß der philosophisch Interessierte, ist ein sehr schwieriger Autor - muss sich deshalb eine Rezension hermetisch der Zugänglichkeit verschließen? Das Problem ist nicht die Komplexität der Gedanken, auch nicht ihre abstrakte Erscheinung. Das Problem ist, dass die Besprechung von Matthias Kross sich liest, als hätte er seine Lektürenotizen - Gedanken, Verweise, Ideen, Fragen, die für ihn selber bestimmt waren - weitgehend unbearbeitet aneinandergereiht. Ein Brainstorming, dem man entnimmt, dass Riceur eine Phänomenologie des historischen Denkens herausschält und damit zugleich den Widerspruch konfrontiert, der in diesem Versuch steckt. Denn kann man mit den Mitteln der Phänomenologie im Sinne Husserls, also der Betrachtung des Wesens der Sache selbst, überhaupt ermitteln, "warum etwas Vergangenes in einer spezifischen Gestalt vergegenwärtigt wird"? Braucht es dazu nicht eine "übergreifende Betrachtungsperspektive"? Die Paradoxe liefern den Schub für die Bewegung der Gedanken, so dass Riceur am Ende über die Absage an moralische Ableitungen - "der Historiker dürfe nicht sich nicht zum Richter aufschwingen wollen" - doch noch zu einer "Theorie der existenziellen Zurechenbarkeit" gelangt, wie sich der Rezension entnehmen lässt, "aus der sowohl Schuldfähigkeit wie die Vergebung für historisches Handeln soll abgeleitet werden können".

© Perlentaucher Medien GmbH
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