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Vieles von dem, was wir von unserer Welt wissen, wissen wir aus den Bildern Hollywoods. Doch welches Bild machen wir uns von der Stadt Los Angeles? Es scheint, als habe sie schon immer als amoralisches Nichts gegolten, als Ersatzparadies für wenige. Nahezu vergessen ist, daß L. A. einmal die vielleicht modernste aller Städte war, die beinahe ein Paradies geworden wäre für alle. Entlang des Sunset Boulevard hat sich Kevin Vennemann auf die Suche begeben nach dem, was von dieser egalitären Moderne übriggeblieben ist. So entstand ein Essay über die großen Films Noirs, über das Ende der modernen…mehr

Produktbeschreibung
Vieles von dem, was wir von unserer Welt wissen, wissen wir aus den Bildern Hollywoods. Doch welches Bild machen wir uns von der Stadt Los Angeles? Es scheint, als habe sie schon immer als amoralisches Nichts gegolten, als Ersatzparadies für wenige. Nahezu vergessen ist, daß L. A. einmal die vielleicht modernste aller Städte war, die beinahe ein Paradies geworden wäre für alle. Entlang des Sunset Boulevard hat sich Kevin Vennemann auf die Suche begeben nach dem, was von dieser egalitären Moderne übriggeblieben ist. So entstand ein Essay über die großen Films Noirs, über das Ende der modernen Architektur und über die Bemühungen so unterschiedlicher Figuren wie Sophokles, Roman Vishniac, Billy Wilder und Raphael Soriano, nicht nur ein »Wir« ins Bild zu setzen, sondern auch die anderen, die Opfer der Geschichte, ein »Sie«.
Autorenporträt
Vennemann, KevinKevin Vennemann, geboren 1977 in Dorsten (Westfalen), lebt in New York. 2005 erschien im Suhrkamp Verlag sein erster Roman Nahe Jedenew. 2007 folgte der Roman Mara Kogoj.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.07.2012

Lügengebäude
Die kalifornische Architekturmoderne begann als Beitrag zur Sozialethik und begnügte sich bald mit dem schönen Schein.
Kevin Vennemanns Buch „Sunset Boulevard“ befragt Häuser und Bilder nach ihrem Verhältnis zur Wahrheit
VON FELIX STEPHAN
Die Legende geht so: Als der junge Fotograf Julius Shulman 1936 aus Spaß den Bau eines Privathauses in den Hollywood Hills fotografierte, sprach ihn der Architekt Richard Neutra an. Er hatte den jungen Mann beobachtet, brauchte einen Fotografen für seine Häuser und wünschte sich, dass Shulman für ihn arbeitete. Julius Shulman schlug ein. Heute gilt Shulman, der 2009 in Los Angeles gestorben ist, als einer der wichtigsten Architekturfotografen des amerikanischen Nachkriegsmodernismus. Seine Bilder haben einer Architektur ein Denkmal gesetzt, die von Walter Gropius und Mies van der Rohe begründet und, während sich Europa im Zweiten Weltkrieg zerfleischte, von europäischen Exilanten in Kalifornien weiterentwickelt und konsequent umgesetzt wurde: Klare Linien, flache Dächer, industrielle Fertigung.
  Die Bildsprache dieser Häuser wies in eine Zukunft, in der die technischen Möglichkeiten der industriellen Produktion Eigenheime für die Massen möglich machen sollten. In der die Häuser ihren Bewohnern nicht mehr nur als Unterkunft dienen, sondern ihnen eine unmittelbare Zeitgenossenschaft suggerieren sollten. Diese Bauten versprachen Teilhabe an einer neuen Freiheit, zu der es dann bekanntlich nie gekommen ist: Die Architekten wurden reich und berühmt, die Armen blieben arm und außen vor. Und Julius Shulman, so argumentiert der in New York lebende deutsche Schriftsteller Kevin Vennemann in seinem neuen Buch „Sunset Boulevard“, ist nicht unschuldig daran.
  Denn Shulman hat diese Architektur zur Ikone gemacht und sie damit ebenjenen Massen entzogen, denen sie einen neuen, direkteren Zugang zum state of the art bereiten wollte. Für Kevin Vennemann besteht Julius Shulmans Vergehen darin, dass er eine Baukunst, die sich als direkter Beitrag zur Sozialethik ihrer Zeit verstand, in die Welt des reinen Gefallens überführt hat. Seine Fotos wurden in Bildbänden, auf Postern und Postkarten weltweit vertrieben, jedes große Museum der Welt hat sie ausgestellt. Für Normalverdiener wurden diese Häuser – nicht nur, aber auch – dadurch unbezahlbar.
  Einige Jahrzehnte später, im Sommer 2008, trifft sich Kevin Vennemann mit der Schriftstellerin Chris Kraus in Los Angeles. Davon erzählt das Buch. Sie fahren herum, schauen sich Häuser an, besuchen Orte, an denen Schlüsselszenen berühmter Filme spielen. Sie sprechen über Shulman, seine Verantwortung und die überschwängliche Idealisierung, die er im Alter weltweit erfahren hat. Vennemann belegt seine Begleiterin Chris während ihrer Rundfahrten mit so vielen Fragen, die sich eigentlich an Shulman richten, dass sie vorschlägt, den berühmten Fotografen einfach aufzusuchen. Er wohnt in einem der Häuser, die ihn legendär gemacht haben, oben in den Hügeln, er ist 98 Jahre alt.
  Es sind Fragen nach Shulmans Selbstverständnis: Ob ihm die Widersprüche seiner Arbeit jemals aufgefallen sind? Und wenn ja, wieso hat er sie in seinem Werk nie thematisiert? Oder haben ihm seine Bilder doch einfach genügt, wie sie waren? „Und was eigentlich und wie viel bleibt von dem Kampf gegen all diese Widersprüche, wenn man sich mit der Begeisterung über Stil und Ästhetik frühzeitig zufriedengibt, aus Bequemlichkeit oder Faulheit oder Unlust oder einfach nur so, und weil es schlicht am leichtesten ist, diese Häuser vor allem und zur Sicherheit nur: schön zu finden?“
  Es ist einer der zahlreichen präzisen Kunstgriffe dieses Buches, dass es in Los Angeles spielt, also in der Stadt, die Hollywood gebaut hat und in der Schönheit vom Fließband läuft wie nirgends sonst. Die Stadt, die uns verlässlich hilft, unsere Gegenwart schön zu finden und sei sie noch so dreckig, die immer den richtigen Bildausschnitt liefert, immer die richtige Perspektive findet.
  Denn darum geht es Vennemann: Wie viel Wahrheit liegt tatsächlich in unserem Blick auf uns selbst? Und an wie viel Wahrheit sind wir überhaupt interessiert, wie viel könnten wir aushalten? Bewegen wir uns nicht viel sicherer und selbstbewusster in einer ästhetisierten Bildwelt, die als Realität daherkommt, aber eben zum überwiegenden Teil fiktionalisiert ist?
  Zum Beispiel das Bradbury Building in Los Angeles, das so oft abgebildet wurde, dass man es hinter dem Nebel der Erzählungen kaum mehr erkennen kann. Wenn die Figuren in Vennemanns Buch das Gebäude sehen, sozusagen wirklich sehen, also real vor ihm stehen, erleben sie das so: „Dann zum Bradbury Building (George Wyman, 1893), wir kennen es aus M (Joseph Losey, 1951), aus Marlowe und Blade Runner, aus Murphy’s Law (J. Le Thompson, 1986), Lethal Weapon 4 (Richard Donner, 1998), und aus The Artist (Michael Hazanavicius, 2011).“
  Die Frage ist hier weniger, ob das Kino tatsächlich aufhört, wenn wir den Saal verlassen, sondern viel unbequemer und schwerwiegender: Würden wir das überhaupt wollen? Oder wünschen wir uns nicht viel eher, dass immer weiter auf uns eingesendet wird, weil wir uns sonst gar zurechtfänden und plötzlich mit dem wahren Potenzial unserer Phantasie allein wären. Was wäre das dann? Würde das nicht so etwas wie das Ende der Gesellschaft bedeuten?
  Es geht Vennemann nicht darum, Hollywood oder die Hollywoodisierung der Welt durch Shulman und die Seinen als lügenhaft zu denunzieren, denn die Lüge liegt im Bild selbst. Jede Fotografie zeigt deutlich weniger, als sie nicht zeigt, und kann gar nicht anders, als so künstlich, perspektivisch verengt und narrativ zu sein wie jeder Roman, jeder Spielfilm. Da hilft es wenig, wenn man „Journalismus“ oder „Dokumentation“ obendrüber schreibt und damit meint: echt, wirklich, realistisch. Das Bild zeigt trotzdem nur, was es zeigt, und verschweigt so gut wie alles. Aber nur entlang der unausgesprochenen Gesetze dieser permanent sich reproduzierenden Bildwelt, die ständig auswählt und zensiert, konstituiert sich unsere Zivilisation: „Würden uns sämtliche sinnstiftenden Koordinaten innerhalb des Systems all unserer möglichen Phantasien entzogen und wir ihnen, dann nähmen wir nicht länger bewusst an der Welt teil.“
  „Sunset Boulevard“ gibt sich als Sachbuch, als Essay über die blinden Flecken unserer kulturellen Wahrnehmung. Der Sound erinnert an die Bücher des New Yorker Essayisten Mark Greif, was erstens eine gute Idee ist und zweitens kein Zufall: Kevin Vennemann selbst hat Greifs Bücher ins Deutsche übersetzt. Allerdings gibt es gute Gründe, dieser Selbstbezeichnung als Sachtext zu misstrauen, denn seine ganze Kraft entfaltet „Sunset Boulevard“ erst, wenn man es als Roman liest. Als Roman nämlich, der an den Fiktionalitätsauftrag der Belletristik nicht mehr glauben möchte, weil die Unterscheidung zwischen der Welt innerhalb und außerhalb des Romans nicht mehr sinnvoll verteidigt werden kann.
  Anders als Sachbücher erzählen Romane nicht nur rein inhaltlich, sondern argumentieren eben auch mit ihrer Form selbst. Und diese beiden Ebenen verweben sich hier zu einem Buch, über das die deutsche Gegenwartsliteratur tunlichst nachdenken sollte: Während uns der Erzähler namens Kevin Vennemann, der in allen Koordinaten mit dem Autor übereinstimmt, begreiflich macht, dass die Realität so wenig wahrhaftig ist wie jeder Roman, stellen wir fest, dass der vorliegende Text die einzig konsequente Romanform ist, die aus dieser Einsicht erwachsen kann: Ein Roman nämlich, dessen formale Anlage auf die Bild-Skepsis seines Erzählers reagiert, indem er aufhört zu behaupten, er sei ein Roman. Und es natürlich trotzdem ist.
  „Sunset Boulevard “ führt vor, was Literatur vielleicht wirklich erst im Jahr 2012 sein kann: Eine Erzählung, die es ablehnt, sich fiktional zu nennen, weil ihr der Glaube an das Nicht-Fiktionale nicht zur Verfügung steht. Das Buch ist deshalb so ein großer Wurf, weil es eine genuin neuartige Form entwickelt. Damit vollzieht es eben jenen literaturhistorischen Fortschritt, den die Postmoderne für unmöglich erklärt hat, weil sie die Institution „Roman“ nie infrage gestellt hat. Kevin Vennemann geht mit „Sunset Boulevard“ einen Schritt weiter, indem er voraussetzt, dass man für Fiktionen keine Literatur braucht. Dafür genügt die Welt. Hätte Vennemann einen Roman geschrieben, hätte er lediglich all jene Fehler wiederholt, die er Julius Shulman vorwirft. Zum Treffen mit Shulman kam es übrigens nicht: Er hatte den Termin vergessen. Er war ein alter Mann.
Könnten wir es denn ertragen,
wenn das Kino aufhört?
Hier ist der Roman,
den die Postmoderne fordert
Los Angeles ist die Stadt, die Hollywood gebaut hat und uns verlässlich hilft, unsere Gegenwart schön zu finden – und sei sie noch so trist.
Foto: Lloyd Ziff / Gallery Stock
  
  
  
    
Kevin Vennemann: Sunset Boulevard. Vom Filmen, Bauen und Sterben
in Los Angeles. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
184 Seiten, 14 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Für einen großen Wurf hält Rezensent Felix Stephan Kevin Vennemanns Essay, der seiner Ansicht nach nicht nur bahnbrechend als Auseinandersetzung mit der modernen Architektur in Film und Fotografie ist, sondern auch in seinem Verständnis von Fiktionalität in der Literatur. Vennemann fährt in diesem Buch mit der Autorin Chris Kraus durch Los Angeles und entwickelt beim Anblick all der berühmten Häuser am Sunset Boulevard eine ungeheure Wut auf den Fotografen Julius Shulman, der mit seinen Fotografien dazu beitrug, die Bauten von Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe zu Ikonen der Moderne zu machen. Und genau dies wirft der Autor dem Fotografen vor, so Stephan: Die Architekten der Moderne wollte einen Beitrag zum sozialen Bauen leisten, sie wollten Freiheit, Teilhabe und Zeitgenossenschaft bieten. Shulmans Edelfotografien hätten jedoch genau dies verhindert, sie hätten die Bauten auf die Ästhetik reduziert. Und so ist Vennemanns Essay für den Rezensenten vor allem ein Buch über die Frage, was wir sehen, wenn wir ein Foto betrachten: Nicht die Realität. Aber auch nichts Fiktionales, weil es ohne Realität auch keine Fiktion mehr gibt. Aus dieser Erkenntnis hat Vennemann "eine genuin neuartige Form" entwickelt, die für den Rezensenten einen Weg aus der Sackgasse der Postmoderne aufzeigt.

© Perlentaucher Medien GmbH