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Sprache dient der Verständigung. Doch immer wieder hat es Menschen gegeben, die nicht wollten, dass alle sie verstehen. Deshalb haben sie Geheimsprachen entwickelt. Daniel Heller-Roazen unternimmt in seinem Buch einen Streifzug durch die Geschichte der künstlichen und geheimen Sprachen. Von den Sprachen der Gauner, den heiligen Sprachen bis zur Beschäftigung des großen Sprachforschers Ferdinand de Saussure mit Anagrammen, von der arkanen Sprachkunst der Druiden und Bibelkopisten bis zu Tristan Tzara, der die Dada-Bewegung mit begründete und zuletzt die Lieder von Villon zu entschlüsseln…mehr

Produktbeschreibung
Sprache dient der Verständigung. Doch immer wieder hat es Menschen gegeben, die nicht wollten, dass alle sie verstehen. Deshalb haben sie Geheimsprachen entwickelt. Daniel Heller-Roazen unternimmt in seinem Buch einen Streifzug durch die Geschichte der künstlichen und geheimen Sprachen. Von den Sprachen der Gauner, den heiligen Sprachen bis zur Beschäftigung des großen Sprachforschers Ferdinand de Saussure mit Anagrammen, von der arkanen Sprachkunst der Druiden und Bibelkopisten bis zu Tristan Tzara, der die Dada-Bewegung mit begründete und zuletzt die Lieder von Villon zu entschlüsseln meinte, erkundet Heller-Roazen die Sprachkunst von Gaunern und von Rätselfreunden und zeigt: Diese Sprachen, die Klang und Sinn gegeneinander ausspielen, verbindet mehr mit der Poesie, als bislang angenommen.
Autorenporträt
Heller-Roazen, DanielDaniel Heller-Roazen, geboren 1974, ist Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Princeton University. Er studierte Philosophie und Literaturwissenschaft in Toronto, Baltimore, Venedig und Paris und hat zahlreiche Stipendien für seine Arbeit erhalten. Im Jahr 2010 wurde ihm die Medaille des Collège de France verliehen. Im S. Fischer Verlag ist zuletzt von ihm erschienen »Der fünfte Hammer - Pythagoras und die Disharmonie der Welt« (2015), »Der Feind aller. Der Pirat und das Recht« (2010) sowie die von der Kritik gefeierte Studie »Der innere Sinn. Archäologie eines Gefühls« (2012).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.04.2018

Wie sich Henry Kissinger bei Rabelais entdecken lässt
Durch den Dschungel der Gaunersprachen in den Irrgarten der Anagramme: Daniel Heller-Roazen widmet sich diversen Sprachspielen

Daniel Heller-Roazen, Komparatist an der Universität von Princeton, präsentiert dem Leser ein Potpourri. Sein Buch behandelt den Argot und das Rotwelsche, die Lieder der Troubadours, lateinische Gedichte, hethitische Inschriften und griechische Epen, vedische Gesänge, altnordische Heldenlieder und die Fahndung nach Anagrammen. Was das alles miteinander zu tun hat? Es geht dem Autor um sprachliche Verfremdungen im weitesten Sinne, um unterschiedliche Arten eines Sprechens und Schreibens also, die die Sprache selbst zum Material von Verformungen machen.

Das ist freilich eine thematische Klammer, die so abstrakt ist, dass sie die unterschiedlichen Inhalte nur lose zusammenhalten kann. Die elf Kapitel des Buches könnten auch einzelne Essays sein, zu einem Ganzen runden sie sich nicht. Sie werfen flüssig geschriebene Streiflichter auf Grenzbereiche der Sprach- und Literaturwissenschaft, ohne wirklich Neues zu bieten - den Anspruch erhebt der Autor auch nicht. Die Geheimsprachen der Gauner und Vagabunden, die der Untertitel verspricht, kommen nur zu Beginn des Buches vor. Da lernt der Leser das Argot des französischen Spätmittelalters kennen und seine Gegenstücke, den englischen "cant" und das deutsche Rotwelsch.

Das Prinzip dieser Sondersprachen beruht darauf, dass die Laute oder Bedeutungen von Wörtern verändert werden. So steht die "Taube" für das Betrugsopfer, das metaphorisch zu einem Vogel wird, den man verspeist. Und die Metonymie, die den eigentlichen Begriff durch einen eng verwandten ersetzt, macht den Gerichtshof zum "Rad", dem Instrument der Exekution. Das Rotwelsche enthält darüber hinaus zahlreiche Ausdrücke, die für die Mehrheitsgesellschaft echte Fremdwörter waren. Sie stammen aus dem Jiddischen, und ihre hebräischen Wurzeln erkannte schon Martin Luther. Im Interesse an den Gaunersprachen trafen sich Kriminalistik, Philologie und Literatur. Ein Beispiel dafür ist das 1837 erschienen Werk "Les voleurs" von Eugène-François Vidocq, Polizeichef von Paris mit schwerkrimineller Vergangenheit, das Honoré de Balzac und Victor Hugo als wertvolle Sprachquelle nutzten.

Leider verzichtet Heller-Roazen auf einen vertiefenden Vergleich zwischen den Gaunersprachen der verschiedenen Länder. Er verlässt die sprachliche Unterwelt schon bald, um sich in die respektableren Kreise altfranzösischer Trobadors, nordischer Skalden und brahmanischer Vede-Rezitatoren zu begeben. Was diese Dichtungen vereint, ist kein hermetischer Wortschatz, sondern eine Vorliebe für die Umschreibung von Namen oder Bezeichnungen. Besonders kreative Beispiele dafür liefern die "Kenningar" genannten Periphrasen der altnordischen Lieder, die Odin zum "Gott der Gehenkten", einen Kopf zum "Land des Helmes" und Heringe zu "schmalen Pfeilen des Meeres" machten. In den Mythen, die die Dichtungen umranken, gilt die Technik solcher Umschreibungen als Geheimwissen der Götter, mit deren Hilfe sie den Menschen Rätsel aufgeben.

Für Heller-Roazen ist das Grund genug, von den Geheimsprachen der Gauner einen Bogen hierher zu schlagen. Doch in der kommunikativen Wirklichkeit ging es bei diesen Umschreibungen - anders als beim Rotwelschen - nicht um eine ernsthafte Geheimhaltung, sondern allenfalls um Verrätselungen, deren Lösung das Publikum nicht überforden sollte.

Erstaunlich, dass Heller-Roazen die Nähe zur Dichtersprache des Barock, nicht sieht, obwohl er sogar eine Bemerkung über den "barocken" Charakter der Kenningar zitiert. Auch die Poeten des siebzehnten Jahrhunderts züchteten gezielt eine Sprache überbordender Metaphern und Metonymien. Mit Geheimhaltung hatte das wenig zu tun. Es ging darum, "hochtrabend" zu schreiben - das war positiv gemeint.

In der zweiten Hälfte des Buches wechselt der Autor von der Geschichte der Sprachverfremdungen zur Geschichte ihrer Erforschung. Er widmet sich der Rolle, die Anagramme für die Sprach- und Literaturtheorien Ferdinand de Saussures, Tristan Tzaras und Roman Jakobsons spielten. Der Indogermanist Saussure, von der Nachwelt aufgrund des postum erschienenen "Cours de linguistique générale" zum Begründer des Strukturalismus erklärt, geriet für mehrere Jahre in den Bann der Anagramme. In lateinischen Versen, altindischen Hymnen, mittelhochdeutschen Liedern, überall stieß Saussure auf "phonetische Spiegelungen", Symmetrien zwischen Lauten und Silben, die sich als Anagramme von Namen und Wörtern lesen ließen. Am Ende erschienen ihm auch die Werke Homers "als ein riesiges und fortlaufendes Anagramm". Streckenweise erinnern diese "Entdeckungen" an die Logik von Verschwörungstheorien, denen alles zum Indiz für ihren Generalverdacht wird. Als de Saussures Anagramm-Theorie in den sechziger Jahren, ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod, bekannt wurde, stieß sie auf heftige Kritik. Der zentrale Einwand lautete, dass die von ihm entdeckten Muster ebenso gut auf Zufall beruhen könnten - ein Problem, das auch Saussure schon gesehen hatte, für dessen Klärung ihm aber die statistischen Mittel fehlten. Heller-Roazen betont den erstaunlichen Kontrast zwischen dem wilden Denken des Anagrammforschers Saussure und der methodischen Strenge und Systematik, die im "Cours" herrscht. Zur Auflösung dieses Widerspruchs hätte er die neueren Forschungen zur Biographie Saussures heranziehen können: Sie zeigen, in wie starkem Maße der vermeintliche Vater des Strukturalismus samt dem "Cours" ein Konstrukt seiner Schüler und Nachfolger ist, das mit dem realen Saussure nur begrenzt zu tun hat.

Einer derjenigen, die Saussure auf das Strukturalisten-Podest gehoben hatten, war Roman Jakobson. Er gehörte zu den wenigen strukturalistischen Linguisten, die auch die Anagramm-Theorie schätzten. Zwar glaubte Jakobson nicht an eine Geheimtechnik, aber er sah hier reale Strukturen am Werk, die aus dem Unbewussten kommen und die poetische Funktion der Sprache ausmachen: ein selbstbezügliches Sprechen, das die Materialität der Sprache in den Fokus rückt, indem es Parallelen und Symmetrien zwischen ihren Lauten und grammatischen Mustern herstellt.

Zum Schluss beschäftigt sich Heller-Roazen mit Tristan Tzara, einem weiteren Anagrammjäger. Tzara, Mitbegründer des Dada, widmete seine späteren Jahre den Werken von Villon und Rabelais. In ihnen wollte er ganze Netze von Anagrammen aufgespürt haben, in denen Pseudonyme, Anspielungen und Anklagen verschlüsselt waren, die sich auf die Zeitgenossen der Dichter bezogen. Computergestützte Untersuchungen haben gezeigt, dass die Muster, die Tzara entdeckt hatte, statistisch dem Zufall entsprangen. Mit seiner Methode ließen sich auch noch Tausende anderer Bezeichnungen und Namen entdecken - darunter auch "Henry Kissinger".

Tzara reagierte auf seine Kritiker mit dem stillen Widerstand eines Mannes, der sich seinen für kostbar gehaltenen Fund nicht madig lassen will, obwohl er ahnt, dass er wertlos sein könnte. Nach allem, was man bei Heller-Roazen lesen kann, traf diese Ahnung zu. Doch der Autor mag sich zu diesem Urteil nicht durchringen und ähnelt darin ein wenig seinem dadaistischen Helden. Stattdessen spricht er so pathetisch wie vage vom "schwindelerregendsten aller literarischen Funde", von der "gefährlichen Flut", in die Tzara hinabtaucht sei, und den Geheimnissen, die er aufgedeckt habe, selbst wenn es "seine eigenen waren". Dieser raunende Ton am Schluss spiegelt den unentschiedenen und vorläufigen Charakter des gesamten Buches.

WOLFGANG KRISCHKE.

Daniel Heller-Roazen: "Dunkle Zungen". Geheimsprachen: Die Kunst der Gauner und Rätselfreunde.

Aus dem Englischen von Horst Brühmann. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 352 S., geb., 22,- [Euro].

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