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Nach Nacktheit und Scham (1988), Intimität (1990), Obszönität und Gewalt (1993) sowie Der erotische Leib (1997) liegt mit Die Tatsachen des Lebens der fünfte und letzte Band von Hans Peter Duerrs eingehender Kritik am Mythos vom Zivilisationsprozeß vor. Diese Kritik an einem etablierten wissenschaftlichen Paradigma ist zwar im deutschsprachigen Bereich auf erbitterten Widerstand gestoßen, sie hat zugleich jedoch zu einer Erschütterung der einfachen Vorstellung von einem weiteren Fortschreiten der Menschheit in das Zivilisationsparadies geführt. Im abschließenden Band setzt sich der Autor vor…mehr

Produktbeschreibung
Nach Nacktheit und Scham (1988), Intimität (1990), Obszönität und Gewalt (1993) sowie Der erotische Leib (1997) liegt mit Die Tatsachen des Lebens der fünfte und letzte Band von Hans Peter Duerrs eingehender Kritik am Mythos vom Zivilisationsprozeß vor. Diese Kritik an einem etablierten wissenschaftlichen Paradigma ist zwar im deutschsprachigen Bereich auf erbitterten Widerstand gestoßen, sie hat zugleich jedoch zu einer Erschütterung der einfachen Vorstellung von einem weiteren Fortschreiten der Menschheit in das Zivilisationsparadies geführt.
Im abschließenden Band setzt sich der Autor vor allem mit der Frage auseinander, ob das, was im Englischen »the facts of life« genannt wird, also namentlich die Bereiche der Sexualität, der körperlichen Reifung, der Körperfunktionen und der abweichenden Verhaltensweisen, im Verlaufe der historischen Entwicklung tatsächlich, wie von Elias und seiner Schule behauptet, in immer stärkerem Maße mit dem Bann des Verschweigens oder mit Euphemismus belegt und hinter die Kulissen des öffentlichen Lebens in einen expandierenden Privatbereich verdrängt wurde. Schließlich untersucht Duerr, welchen Wahrheitsgehalt die sogenannte »Informalisierungsthese« hat, also die Behauptung, die Lockerung einstmals strenger Disziplinierung unterworfener Verhaltensweisen, wie sie seit den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu beobachten ist, bedeute keine wirkliche Senkung der Schamschwellen und Peinlichkeitsstandarde, sondern lediglich die Konsequenz einer umfassenden Pazifizierung des öffentlichen Lebens, weshalb dieser Prozeß in keiner Weise die Zivilisationstheorie in Zweifel ziehe.
Autorenporträt
Duerr, Hans PeterHans Peter Duerr, geboren 1943 in Mannheim, war bis 2005 Professor für Ethnologie und Kulturgeschichte in Bremen. Er lebt in Mannheim und Heidelberg.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.11.2002

Beischlaf mit Schneuztuch
Hans Peter Duerr findet neue Stellungen gegen Norbert Elias
„Es ist zuweilen nötig, den Leuten alte Sachen unter einem neuen Titul und etwas neu gemischt zu geben”, riet schon Georg Christoph Lichtenberg erfolgreichen Autoren und bezeichnet dieses als einen „erlaubten Betrug”, den ein feines Gefühl leicht zu unterscheiden vermöge. Das trifft auch ein wenig auf Hans Peter Duerrs fünften und letzten Band seiner voluminösen Kritik an der Zivilisationstheorie zu, die der deutsch-jüdischen Soziologen Norbert Elias in den dreißiger Jahren entwickelte.
In dem seit 1988 laufenden Gelehrtenstreit haben sich viele zu Wort gemeldet. Es ist inzwischen fast alles gesagt worden, was es zu sagen gibt. Mittlerweile liegt sogar ein, wenn auch sehr einseitiges Buch über die Elias- Duerr-Kontroverse vor. Nachdem sich jetzt die kulturhistorische Materialschlacht (allein Duerr lieferte dazu 3400 Druckseiten!) dem Ende zuneigt, aber immer noch Pulverdampf vom Kampfschauplatz aufsteigt, lohnt es sich, Duerrs ursprüngliches Anliegen in Erinnerung zu rufen. Im Vorwort zum ersten Band kündigte er an, zeigen zu wollen, „dass die heute weitgehend anerkannte Theorie der Zivilisation ein Mythos ist. Dieser Mythos besagt, dass die derzeitige Domestikation unserer tierischen Natur das Ergebnis eines langwierigen Prozesses sei, der im westlichen Europa gegen Ende des Mittelalters und bei den ‘Primitiven’ – vor kurzem noch ‘Wilde’ genannt – erst in allerjüngster Zeit begonnen habe.”
Dass ein vielgereister und methodisch versierter Ethnologe Einwände gegen eine These haben würde, die unseren im Mittelalter lebenden Vorfahren sowie vor allem den Angehörigen von Stammesgesellschaften eine „animalische Natur” unterstellt, lag eigentlich auf der Hand. Erst Elias’ ungeschickter Umgang mit dieser Kritik bestärkte Duerr darin, Unmengen von Quellen und Publikationen aus den verschiedensten Fachdisziplinen nach Beweisen für die Richtigkeit seiner Kritik durchzuforsten.
Geiler Adel, potente Bauern
Duerrs Gegenthese, wie sie im zweiten Band formuliert wird, lautet, dass „die menschliche Körperscham, ungeachtet kultureller und historischer Unterschiede der ‘Schwellenhöhe’, nicht kulturspezifisch, sondern charakteristisch für die menschliche Lebensform überhaupt zu sein scheint”. Doch nicht nur um die Körperscham im engeren Sinne geht es Duerr, auch die Hebung des Peinlichkeitsstandards, die Norbert Elias am Beispiel der Tischsitten oder der Verwendung des Schneuztuchs nachweisen zu können glaubte, hat er angezweifelt.
Alle bekannten Streitpunkte dieser nun schon fast fünfzehn Jahre währenden Kontroverse tauchen auch in dem abschließenden Band wieder auf. Im Mittelpunkt stehen diesmal die sogenannten „Tatsachen des Lebens”. Man könnte es auch mit Woody Allen ausdrücken: Hier finden sie alles, was sie schon immer über Sex wissen wollten, aber nie zu fragen wagten. Es empfiehlt sich daher, diesen Band eher im stillen Kämmerlein als am Strand oder in der Bahn zu lesen, denn es fehlt nicht an freizügigen bildlichen Darstellungen – von schaurigen Klitorisbeschneidungsszenen bis hin zu pornographischen Bildern unterschiedlichster (Spiel-)Art.
Das erste große Thema ist der Geschlechtsverkehr, der angeblich in aller Öffentlichkeit vollzogen wird. So dekonstruiert Duerr den Mythos, dass bei manchen Naturvölkern der Beischlaf vor aller Augen stattfinde. Eine ähnlich hohe Schamschwelle konstatiert er für die vormoderne europäische Gesellschaft. Auch die Idee vom ungezügelten Sex der „Wilden” wird als Wunschvorstellung und Stereotyp europäischer Reisender entlarvt. Wie verbreitete solche Klischees heute noch sind, zeigt nicht zuletzt der boomende Sex-Tourismus nach Fernost und nach Schwarzafrika (trotz AIDS-Gefahr), der inzwischen längst keine Männerdomäne mehr zu sein scheint. Wer wissen will, wie in unterschiedlichen Ethnien und im Abendland zu verschiedenen Zeiten der weibliche Orgasmus verhindert oder angestrebt wurde, der wird in dem einschlägigen Abschnitt genügend Anschauungsmaterial finden.
Weiterhin räumt Duerr mit dem weitverbreiteten Vorurteil auf, das Sexualverhalten der Frau sei immer und überall eher passiv. Seine Gegenbeispiele reichen von Voyeurinnen, die im 18. Jahrhundert männliche Geschlechtsteile in Guckkästen betrachteten, bis zu Frauen aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten, die immer schon mehr oder weniger direkt die Initiative zum Geschlechtsverkehr ergriffen. Ein eigenes Kapitel ist der Frage gewidmet, wie im 19. Jahrhundert der Diskurs über die Fähigkeit der Frau zum Orgasmus geführt wurde. Im weiteren Verlauf geht es um rassisch motivierte Sexualphantasien.
Duerr zeigt eindrucksvoll, wie immer wieder gesellschaftlichen Außenseitern (Juden, Zigeunern, Indianern, Schwarzen) nachgesagt wurde, sie seien außerordentlich triebgeleitet und sexuell besonders potent. Ähnliche Stereotype lassen sich für bestimmte Bevölkerungsschichten (Bauern, Arbeiter) nachweisen. Wenn man schon solche realitätsfernen Sexualphantasien einer Kritik unterzieht, dann hätte es allerdings nahe gelegen, andere gesellschaftliche Gruppen einzubeziehen. Dazu zählt beispielsweise der Klerus, dem schon immer ungezügelte Sexualität unterstellt wurde und der noch heute unter dem Verdacht steht, für sexuellen Missbrauch anfällig zu sein. Auch der geile Adelige, der angeblich das ius primae noctis für sich gern in Anspruch nahm, wäre als Beispiel für solche Klischeevorstellungen das geeignete Untersuchungsobjekt gewesen.
Neben der Einleitung, die mehr als hundert Seiten umfasst, enthält auch das Schlusswort eine detaillierte Antwort auf die Kritiker, die Duerr entweder vorwarfen, mit seinen Vorwürfen über das Ziel hinausgeschossen zu sein, oder Zweifel an seiner Beweisführung anmeldeten. Gleichzeitig erfahren wir, dass zu seinen Kritikern auch zahlreiche Angehörigen von Veteranenverbänden gehören, die sich darüber empörten, dass Duerr nicht nur die bekannten Massenvergewaltigungen durch Angehörige der Roten Armee oder japanische Soldaten anführte, sondern auch die Wehrmacht solcher Verbrechen anklagte. Näheres kann man im dritten Band, der von der Obszönität und Gewalt handelt, sowie im Nachtrag des jetzt vorliegenden Bandes nachlesen.
Wie immer man diese Kontroverse beurteilen mag, eines steht fest: Duerr hat es verstanden, denjenigen, die von der Zivilisationstheorie fasziniert waren und es zum Teil noch sind, in Erinnerung zu rufen, dass es auch außerhalb Europas eine komplexe Welt gibt, die zwar anders ist, aber nicht unbedingt weniger „zivilisiert”. Außerdem hat er dazu beigetragen, in Vergessenheit geratene kulturgeschichtliche Studien des 19. Jahrhunderts wiederzuentdecken und – was vielleicht noch wichtiger ist – die Kulturhistoriker daran zu erinnern, wie wichtig Quellenkritik ist.
ROBERT
JÜTTE
HANS PETER DUERR: Die Tatsachen des Lebens. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 873 Seiten, 35,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.2002

Der tägliche Reizansturm
Hans Peter Duerr bekleidet die Nacktheit / Von Michael Adrian

Bald viertausend Seiten hat der ideale, der mit Engelsgeduld gewappnete Leser von Hans Peter Duerrs mit "Die Tatsachen des Lebens" nun abgeschlossener fünfbändiger Kritik an Norbert Elias' "Prozeß der Zivilisation" durchschritten, er hat Tausende von Fußnoten studiert und Hunderte von Illustrationen bestaunt, da verliert der Autor kurz vor Schluß dann doch noch die Contenance und greift zum Äußersten - zum Kursivdruck: "In erster Linie habe ich zu zeigen versucht, daß die Behauptungen Elias' über die geschichtliche Entwicklung schlicht falsch sind." Jetzt ist es soweit: Ein Lebenswerk steht gegen das andere.

Seit Erscheinen von "Nacktheit und Scham" (1988), dem ersten Band seines Großwerks "Der Mythos vom Zivilisationsprozeß", hat Duerr zentrale Behauptungen von Elias' Theorie attackiert. Elias' einflußreiches Modell war das eines zivilisatorischen Reifeprozesses, der einen wachsenden Zwang zum Selbstzwang, zur Affektkontrolle, zu "zivilisiertem" Verhalten schuf. Mit dem Selbstlob der Zivilisation einher ging die Vorstellung von ihrem Jenseits: dem ungezügelten öffentlichen Sexualleben der primitiven Völker und den vielfältigen Gelegenheiten unbefangenen nackten Beieinanderseins von Männern und Frauen, von Kindern und Eltern in einem Mittelalter, das die Körperscham noch nicht kannte.

Mit einer Herkulesarbeit an Quellenforschung bemühte Duerr sich in seinen Büchern, diese Vorstellungen ins Reich der Mythen zu überführen, und auch der abschließende, wiederum reich illustrierte Band knüpft an die eingeführte Matrix der Argumente an. Der Elias-Schule wird Naivität im Umgang mit Bild- und Textdokumenten vorgehalten. Zeitgenössische Darstellungen etwa, die angeblich die große Selbstverständlichkeit sexueller Kontakte in mittelalterlichen Badestuben belegen, zeigten in Wirklichkeit bordellähnliche Badebetriebe, also Ausnahmeerscheinungen. Und Elias wie auch Foucault schlössen aus dem Gespräch eines jungen Mannes mit einer Prostituierten in den pädagogischen Colloquia des Erasmus von Rotterdam auf die selbstverständlichere Integration der Huren ins öffentliche Leben noch im sechzehnten Jahrhundert, ohne den satirischen Charakter der Schrift zu würdigen.

Stets geht es dem quellenkritischen Ethnologen darum, was man aus welchen Dokumenten über die Üblichkeiten des alltäglichen Lebens und die Ordnung der Geschlechter ablesen kann. Mit im Normalfall nach Geschlechtern getrennten Badestuben und Schlafstätten gibt Duerr dem Mittelalter die Würde der Scham zurück. Sein Anspruch aber reicht von Anfang an weiter. Die geschlechtliche Scham soll als eine anthropologische Konstante erwiesen werden. Unzählige ethnologische Zeugnisse führt der Autor zu diesem Zweck vor, die von den geschlechtlichen Sitten, Anstandsregeln und Hygienevorstellungen der verschiedensten Völker aus den verschiedensten Zeitaltern künden, und das mitunter in so raschem Wechsel, daß der Leser benommen durch die immer auch leicht wahnhaft anmutende Welt menschlicher Sexualregulierung taumelt. Eine Invarianz läßt sich eben nicht erzählen, nur Beleg um Beleg belegen.

Einzelne Kapitel widmen sich dabei den vielfältigen Antworten auf die Frage, welches der Geschlechter das aktivere sei, untersuchen rassistische Sexualphantasien und den Glauben an "lüsterne Bauern und unzivilisierte Arbeiter". Wie sich zeigt, gehen Projektionen sexueller Exorbitanz nicht nur in eine Richtung: von "uns" zu den "anderen", zu den "Altvordern" oder denen "da unten". Duerr zitiert Berichte, nach denen die Bewohnerinnen der Neuen Welt von äußerster Neugier auf die Genitalien der weißen Männer erfüllt waren, von denen sie sich wahre Wunderdinge versprachen. Ohnehin liest sich das Sexualleben der Stammeskulturen über weite Strecken nicht wie eine Feier leichtgeschürzter Ausgelassenheit, sondern wie ein deprimierendes Protokoll hastiger und verstohlener Quickies. Fein abgestufte Regeln der Blickvermeidung zwischen den Geschlechtern, die Vermeidung geschlechtlicher Aufreizungen auch bei spärlicher Kleidung, eine hohe Wertschätzung der Privatsphäre, eine Kultur der Indirektheit und der ritualisierten Höflichkeit: Das ist das Ergebnis der Materialsammlung zu den außereuropäischen Face-to-face-Gesellschaften mit ihrer dichten sozialen Kontrolle.

Ebensowenig wie die Behauptung eines freieren Umgangs mit der Leiblichkeit in früheren Zeiten oder fernen Weltgegenden läßt Duerr die Vorstellung einer stärkeren Affektkontrolle in der Moderne gelten. Nicht durch weniger, sondern durch mehr enthemmte Sexualität und eruptive Gewalt sei die Moderne geprägt. Duerr skizziert die systematischen Vergewaltigungsverbrechen von Angehörigen der Roten und der japanischen Armee ebenso wie die vereinzelteren Exzesse der deutschen Wehrmacht; ein Hearing zur Vergewaltigung amerikanischer Soldatinnen im Golfkrieg, das zu dem Schluß kam, die Frauen seien durch die eigenen Truppen viel stärker gefährdet gewesen als durch die feindlichen, verbietet, solche Erscheinungen einfach dem Freund-Feind-Schema zuzuschlagen.

Es ist freilich nicht zu übersehen, daß der Autor bei den Belegen für seine These einer "sukzessiven Abschwächung der Triebmodellierung" die Blickrichtung plötzlich umkehrt. Sein Bild der Gegenwart ist nämlich an jener Minderheit orientiert, die sich sexuelle Übergriffe zuschulden kommen läßt oder öffentlich Libertinage betreibt, während es ihm bei der Kritik am Mythos der schamlosen Sexualität des Mittelalters und der "Wilden" stets darum gegangen war, aus der Überlieferung auf das zu schließen, was als geteilter alltäglicher Erwartungshorizont, als unterstellte Sexualnorm gelten konnte. Nur deshalb fällt es Duerr so leicht, die sogenannte Informalisierungsthese beiseite zu schieben, mit der die Zivilisationstheorie die Folgen der Lockerung von Tabus, von Kleidungs- und Verhaltensnormen seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts beschreibt. Duerr hält die Annahme starker informeller, indirekter Formen der Triebkontrolle für widerlegt, weil Umfragen eine Zunahme sexueller Übergriffe anzeigen.

Was aber ist mit jener Mehrheit, die ebenfalls mit einer alltäglichen Flut potentieller geschlechtlicher Reize konfrontiert ist, die ebenfalls die Unterwäsche der Bedienung eher sieht als das bestellte Getränk und trotzdem nicht hinlangt? Müßte nicht eine Zivilisationstheorie gerade auf die Frage antworten, ob und wie sich die Einstellungen zu Sexualnormen und zum (anderen) Geschlecht unter diesem Reizansturm wandeln - und auf welche Weise er im Normalfall eben doch in den Alltag integriert werden kann? Ein Mechanismus dazu mag ja in der fortschreitenden Ausdifferenzierung kommerzieller Sexualität liegen, wie sie sich etwa in Tokioter Sex-Clubs bekundet, die als U-Bahn-Abteil gestaltete Räume bieten. Dort können sich die Kunden bei Hostessen in Schulmädchenuniform die Erleichterung holen, die sie sich sonst im Feierabendverkehr verschaffen würden.

Die im Lauf der Jahre am "Mythos vom Zivilisationsprozeß" geäußerte Kritik, auf die Duerr einmal mehr explizit antwortet, war gewiß nicht allein deshalb so scharf, weil sich alle Kritiker mit Haut und Haaren den Annahmen der Eliasschen Zivilisationstheorie verschrieben hätten. Ohne großen theoretischen Aufwand, doch mit beeindruckender Belesenheit und Gelehrsamkeit hat der Ethnologe vielmehr eine Beweislast umgekehrt: Wer an der genuin modernen Überzeugung weitgehender Plastizität und Formbarkeit des Menschentiers festhalten möchte, muß diesen Materialberg erst einmal abtragen. Die Frage aber, wie tiefgreifend historischer Wandel trotz der von Duerr behaupteten anthropologischen Invarianz sein kann, bleibt in seinem Werk unbeantwortet.

Hans Peter Duerr: "Die Tatsachen des Lebens". Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Band 5. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 1020 S., zahlr. Abb., geb., 49,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Mit den "Tatsachen des Lebens", dem fünften und letzten Band seiner vieltausendseitigen Ethnographie der Conditio humana, der den sexuellen Praktiken, Erfahrungen und Präferenzen des Menschen in ihrer kulturellen Vielfalt und Unterschiedlichkeit gewidmet ist, widerlegt der Ethnologe Hans Peter Duerr nach Ansicht des Rezensent Magnus Schelte überzeugend Norbert Elias' Zivilisationstheorie, nach der, grob gesagt, der Zivilisationsprozess in einem zunehmenden Wachstum an Triebmodellierung besteht, der zivilisierte Mensch demnach "schamhafter" als der Wilde oder der mittelalterliche Bauer ist. Wie Schelte in seiner umfangreichen Besprechung des Bandes ausführt, gelingt es Duerr den Anhängern der Zivilisationstheorie nachzuweisen, dass sie Quellen, die ihre Theorie belegen sollen, "schlicht falsch oder verzerrend interpretiert haben". Zudem bringe Duerr die Zivilisationstheoretiker mit einer "schier unübersehbaren Materialmasse ethnologischer Feldforschung" in Not. Die Zuschreibung niedriger Schamgrenzen, geringer Triebmodellierung und vermeintlich "freier" Sexualität beim Wilden beruhe, wie Duerr immer wieder zeige, auf den Distinktionsabsichten des jeweiligen Werters, nicht auf dem Informationsgehalt des Quellenmaterials. Gegen die historische Formung des Menschen, die er nicht prinzipiell leugne, setze Duerr auf anthropologische Universalien. "Keinesfalls", so Schelte zusammenfassend, "zeichnet sich die Moderne durch eine Verschärfung der Affektkontrolle aus, allenfalls durch das Gegenteil, ihre sukzessive Abschwächung." Unabhängig von dem Gelehrtengefecht würdigt Schelte Duerrs Studien als "lesenswert" für alle, die sich für den Menschen interessierten. "Wieder einmal", resümiert er dankbar, "schenken sie uns reiches Material über dieses schier unerschöpfliche Phänomen."

© Perlentaucher Medien GmbH
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