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Der neue Band der Historisch-Kritischen Ausgabe von Franz Kafkas Schriften.Die zwölf in der Bodleian Library (Oxford) überlieferten Quarthefte Franz Kafkas, für die sich die irreführende Bezeichnung »Tagebücher« eingebürgert hat, enthalten ganz heterogene Textarten. Kafkas Notizen reichen von diaristischen Einträgen über poetische Entwürfe bis hin zu vollständig ausformulierten längeren Erzähltexten. Die Hefte sind eine Fundgrube für Leser, die an der Entstehung des Kafkaschen Werkes interessiert sind und die verwickelten Arbeitsprozesse Kafkas verstehen wollen.Die Eintragungen in den…mehr

Produktbeschreibung
Der neue Band der Historisch-Kritischen Ausgabe von Franz Kafkas Schriften.Die zwölf in der Bodleian Library (Oxford) überlieferten Quarthefte Franz Kafkas, für die sich die irreführende Bezeichnung »Tagebücher« eingebürgert hat, enthalten ganz heterogene Textarten. Kafkas Notizen reichen von diaristischen Einträgen über poetische Entwürfe bis hin zu vollständig ausformulierten längeren Erzähltexten. Die Hefte sind eine Fundgrube für Leser, die an der Entstehung des Kafkaschen Werkes interessiert sind und die verwickelten Arbeitsprozesse Kafkas verstehen wollen.Die Eintragungen in den Quartheften 3 und 4 - jeweils rund 90 beschriebene Seiten - reichen von Ende Oktober 1911 bis Anfang Januar 1912. Sie dokumentieren Kafkas Interesse am jiddischen Theater, seine Freundschaft mit dem Schauspieler Jizchak Löwy sowie seine Lektüren, insbesondere zum Judentum. Weiterhin enthalten sie mehrere Prosastücke und begleiten zudem die ersten Entwürfe zum »Verschollenen«.Die Faksimiles sämtlicher Handschriften in Originalgröße und die mit ihnen korrespondierenden Transkriptionen ermöglichen erstmals eine integrale Darstellung des Überlieferten, die nicht zwischen »Gültigem« und »Getilgtem« unterscheidet. Somit bieten sie einen neuen Zugang zu Kafkas Werk.Subskriptionspreis bei Abnahme der ganzen Reihe:99,- EUR (D); 101,80 EUR (A)
Autorenporträt
Franz Kafka (1883-1924) ist einer der wichtigsten deutschsprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Jeremy Adler hätte sich einen etwas genauen Anmerkungsteil gewünscht in der von Roland Reuss und Peter Staengle herausgegebenen Edition der Quarthefte 3 & 4. Die Definition von "Kabbala" und "Pessach" etwa scheint ihm verbesserungswürdig. Davon abgesehen aber findet er die historisch-kritische Faksimile-Ausgabe von Kafkas Quartheften "mustergültig", schon weil sie verdeutlicht, dass bei Kafka Notizen und Dichtung sozusagen ineinander übergehen oder weil sie Kafkas Verständnis des Judentum erkennbar machen. Eindrucksvoll findet Adler nicht zuletzt auch die "sachliche" Reproduktion der Manuskripte mit Kafkas exakter "Spinnenschrift".

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.02.2021

Hinter dem Schleier des Bösen ist die Wirklichkeit
Genau die richtige Form: Zur historisch-kritischen Faksimile-Edition von Kafkas "Oxforder Quartheften"

Seit zwei Jahrhunderten sind deutsche Gelehrte führend in der Philologie, also jener Wissenschaft, die sich mit Edition und Interpretation von Texten abgibt. Von Zeit zu Zeit wühlen sie die Gelehrtenwelt auf. So war es mit Friedrich August Wolfs Homer-Interpretation von 1795: Wolf behauptete, dass Homers Epen von diversen Autoren verfasst wurden. Roland Reuss und Peter Staengle wiederum haben durch ihre Editionspraktiken das Verständnis von Kafka umgewälzt. Galt es bisher, in kritischen Ausgaben einen definitiven Text herzustellen, wie ihn der Autor vermeintlich intendierte, warfen die beiden Herausgeber im Anschluss an D. E. Sattlers Hölderlin-Ausgabe ihren Blick auf die Entstehung. Wie die Relativitätstheorie den Betrachter ins Weltbild einbezieht, so wollen diese Editionen ihre Leser in die Entstehung von Dichtung verwickeln. Dabei heben sie das Konzept eines fertigen Werkes auf. Was es zu erkennen gilt, ist ein ewiger Schreibprozess.

Wie Kafka 1913 an Felice Bauer schrieb, war er selbst ein Stück Literatur: "Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein." Diese radikale Identität von Ich und Werk verlangt geradezu nach der neuen Darstellung. Nicht die Werke, sondern die Textträger stellen die Editoren vor, im aktuellen Fall die 1911/12 entstandenen "Oxforder Quarthefte 3 & 4", die bizarrerweise nach ihrem Aufbewahrungsort bezeichnet werden: der Oxforder Bodleian Library, wo die Familie Kafkas einen Großteil seiner Papiere deponiert hat. Die von Reuss und Staengle erarbeitete Edition bietet ein Faksimile dieser Handschriften und Transkriptionen mit einigen sparsamen Erläuterungen. Kafkas Spinnenschrift, seine vielen Verbesserungen, seine Trennungs- und Wellenlinien und der klare Druck bieten ein eindrucksvolles Bild. Sachlicher, ja kühler kann eine Edition nicht verfahren.

Doch als die beiden Herausgeber 1995 ihre Ausgabe vorstellten, lösten sie damit einen Skandal aus: Die Familie Kafkas sowie die Editoren der offiziellen Historisch-kritischen Ausgabe des Verlags S. Fischer vermeinten, hier eine ungebührliche Konkurrenz vorzufinden. Doch hatte die bisherige von Malcolm Pasley und seinen Kollegen nach herkömmlichen Mitteln gestaltete Edition selbst arge Fehler: Die Werke wurden darin nach diversen, oft widersprüchlichen Prinzipien ediert, und es erfolgten gar stillschweigende Eingriffe in die Textgestalt. Mittlerweile hat sich dieser Krieg gelegt. Wo Konkurrenz bestand, herrscht Zusammenarbeit. Und die neue Ausgabe ist selbst zum Klassiker geworden.

Die Lesung, eine Selbsthinrichtung

Kafka, so oft als Einzelgänger begriffen, gehört wegen seiner Faszination für die Technik zu den Futuristen. Autos, Telefone, Fotografien sind Bestandteil seiner Welt. Ein früher Text in den Quartheften 3 & 4 handelt von einem Autounfall in Paris: statt einer Feier der Technik eine Panne. Kafka muss die Geschichte gefallen haben, doch als Max Brod sie bei einem Freund vortrug, erwuchsen Bedenken: Kafka empfand "Bitterkeit". Die Wut galt seiner eigenen Syntax: "Die ungeordneten Sätze dieser Geschichte mit Lücken das man beide Hände dazwischen stecken könnte." In solchen Winzigkeiten tut sich Kafkas Poetik kund: Er sucht einen lückenlosen klassischen Stil, der dem modernistischen Gehalt seiner Texte widerspricht. Er will ein "Ganzes". Die Lesung läuft auf eine Selbsthinrichtung hinaus. So wie er selbst zu Literatur wird, wird auch die Literatur zum Lebewesen: "ein Satz reibt sich am andern wie die Zunge an einem hohlen oder falschen Zahn." Das ist Literatur als Qual.

Bis in die kleinsten syntaktischen Einheiten hinein versteht Kafka Dichtung als Folter. Die Erzählung soll ein "Blutsverwandter" sein: So treibt er die Erlebnisdichtung zum Extrem. Und solch eine unerbittliche Radikalität verlangt nach der homologen Darstellungsform dieser Edition.

Die Exaktheit von Kafkas Schreibart, die er in diesen Heften trainiert, hat Carolin Duttlinger auf seine Faszination für die Fotografie zurückgeführt, denn wie Christopher Isherwood in seinem Roman "Goodbye to Berlin" (1939) hätte auch Kafka schreiben können: "Ich bin eine Kamera, registrierend, nicht denkend." Kafka sieht alles, schaltet alles ein und blendet jegliche ethische Zensur stringent aus. Kennzeichnend hierfür ist die Darstellung des Sammlers Hofrat Pachinger: "Sein Leben", notiert Kafka, "besteht aus Sammeln und Koitieren." Eine Vergewaltigung wird zum Gegenstand des Staunens: "Sein Kunststück war ... Frauen so zu ermüden, dass sie nicht mehr konnten: Dann waren sie ohne Seele, Tiere." Diese Offenheit gegenüber der Sexualität stellt Kafka neben Freud. Indem er dem Bösen die Schleier entreißt, verfällt er auf die pure Wirklichkeit. Nirgendwo wird man mehr mit dieser Klarheit konfrontiert als in den Quartheften, die zugleich Kafkas Poetik darlegen. Den Höhepunkt dieser Theorie bildet das Manifest für eine neue Dichtung, dessen Leitgedanke die bekannte Studie "Für eine kleine Literatur" (1975) von Deleuze und Guattari angeregt hat.

Geträumte Revolution

Die Hefte sind, so beweist diese Ausgabe, zugleich Tagebuch, Traumbuch, Poetik und Arbeitsheft. Die Traumwelt wirkt nicht minder klar als die Wirklichkeit. Prag begriff sich damals als ein Klein-Paris, und Kafka bildete sich Geschehnisse ein, die eher in Paris hätten stattfinden können. So verwandelt er bei der Darstellung einer Revolution seine Heimatstadt in die Hauptstadt der Welt. Kafka träumt von den Menschenmengen vor dem Prager Rathaus am Altstädter Ring sowie vor dem Hradschin - eine Topographie, die die Herausgeber leider nicht erläutern. Obgleich er selbst diese Massenversammlung für unwahrscheinlich hielt, erinnert Kafkas Traum an die Prager Revolution von 1848, als man sehr wohl auf dem Altstädter Ring gekämpft hatte. Sein Traum gibt verknappt jene historische Begebenheit wieder, als Tausende auf die Straßen gingen: Demonstranten und Soldaten. Die Bedeutung des damaligen Aufstands geht daraus hervor, dass der Revolutionär Michail Bakunin Prag zur Hauptstadt einer slawischen Föderation proklamierte. In solch einem Geschehen zeigt sich die Wechselwirkung zwischen Kafkas Innenleben und der Politik. Die literarische Tradition, die sich von Stendhal über Flaubert bis zu Tolstoi mit Krieg und Revolution auseinandersetzte, findet charakteristischerweise bei Kafka im Traum ihren Niederschlag.

Frappierend ist dabei die Art, wie er seine Technik anhand der Klassiker erarbeitet. Wenn er seinen "Widerwillen gegen Antithesen" ausspricht, wie sie den Stil Schillers oder Kleists kennzeichneten, kündigt er eine spätere Erfindung an, die zum Warenzeichen seiner Schreibart wurde: das gleitende Paradox. Indem er Goethes einfachen Satz "Ich zog daher meinen Freund in die Wälder" preist, erinnert Kafka an seine eigene, in einem Brief von 1904 definierte Ästhetik: "Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken ..., wie wenn wir in Wälder verstoßen würden." So befreit sich Kafka von Goethe, indem er dessen Naturwelt in ihr Gegenteil, in eine Poetik der Zerstörung, verwandelt. Worum es ihm bei Goethes Stil geht, ist dessen geradezu expressionistische Kraft: der "Eindruck des Lebendigen". Kafka vermag die Klassiker als sein Modell mit Wucht in die Gegenwart zu zerren. Was er sieht, dem verleiht er den Charakter des Neuen, "eine durch keinen Zufall zu überbietende Lebendigkeit". Das ist das, was Ezra Pound als Zeichen der Moderne erkannte.

Die Quarthefte sind besonders wertvoll als Quelle von Kafkas Verständnis des Judentums, wie es sein Freund, der in der Schoa ermordete jiddische Schauspieler Jizchak Löwy, vermittelte. Erstmals strömte die Tradition des Ostjudentums auf den assimilierten Kafka unmittelbar ein: Halakhah (Gesetze), Talmud, Kabbala und Chassidismus. Er vertiefte sein Wissen durch die Lektüre der maßgeblichen "Geschichte der Juden" von Heinrich Graetz. Allerdings scheint sich Kafka mehr für Riten und Praktiken interessiert zu haben als für Religion. Das widerspricht Gershom Scholems Verständnis von Kafka als einem Mystiker. Wenn er sich nämlich über den Umgang mit dem Reinigungswasser oder über die dreistündige Versenkung eines Wunderrabbis Gedanken macht, geht Kafka wie ein Ethnologe vor. Hier erkennt man den Ursprung der jüdischen Themen im Werk, etwa im "Prozess", sowie Kafkas spätere Wende zum Zionismus.

In einer scharfsinnigen Begleitbroschüre wird die Genese der Hefte dargelegt, wodurch klarwird, wie Kafka Notizen in Dichtung verwandelte. Die Anmerkungen sind jedoch besonders in jüdischen Fragen ungenau, ja irreführend. Die Bedeutung von am ha'aretz als "Tölpel" kommt nicht in der Bibel, sondern erst im Talmud vor. Pessach ist kein Feiertag, sondern ein Fest, das eine ganze Woche dauert. Kabbala ist kein Sammelbegriff für die jüdische Mystik des Mittelalters, sondern eine spezifische esoterische Lehre, und der Chassidismus ist nicht nur geistige Richtung, sondern eine Lebensform. Auch ist der Begriff "Historisch-kritische Ausgabe" fehl am Platz, da hier eine - mustergültige - historisch-kritische Faksimile-Edition vorliegt.

JEREMY ADLER

Franz Kafka: "Oxforder Quarthefte 3 & 4". Historisch-kritische Ausgabe.

Hrsg. v. Roland Reuss und Peter Staengle. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. Drei Bände im Schuber, zus. 420 S., geb., 128,- [Euro].

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»eine - mustergültige - historisch-kritische Faksimile-Edition« (Jeremy Adler, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.02.2021)