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Der Performance-Künstler Otto Spiegel befindet sich in einer Schaffenskrise, als seine Eltern sterben und ihm ein sonderbares Erbe hinterlassen: Eine große Truhe, die minutiöse Aufzeichnungen seiner ersten sieben Lebensjahre enthält. Jeder Tag, jede Stunde seiner frühen Kindheit wurde mit akribischer Genauigkeit festgehalten. Doch Otto erinnert sich an nichts und taucht ein in die eigene Vergangenheit und die rohe Materie seines Seins. Warum sind wir, wer wir sind? Wie gut kennen wir uns wirklich selbst? Und wo beginnt und endet unser freie Wille? Diesen Sinnfragen geht Otto auf den Grund -…mehr

Produktbeschreibung
Der Performance-Künstler Otto Spiegel befindet sich in einer Schaffenskrise, als seine Eltern sterben und ihm ein sonderbares Erbe hinterlassen: Eine große Truhe, die minutiöse Aufzeichnungen seiner ersten sieben Lebensjahre enthält. Jeder Tag, jede Stunde seiner frühen Kindheit wurde mit akribischer Genauigkeit festgehalten. Doch Otto erinnert sich an nichts und taucht ein in die eigene Vergangenheit und die rohe Materie seines Seins. Warum sind wir, wer wir sind? Wie gut kennen wir uns wirklich selbst? Und wo beginnt und endet unser freie Wille? Diesen Sinnfragen geht Otto auf den Grund - bis er sich allmählich im Taumel der Identitätssuche auflöst... Mit OTTO gelingt Marc-Antoine Mathieu ein weiteres Meisterstück innovativer Comicerzählung.
Autorenporträt
Marc-Antoine Mathieu ist 1959 in Anthony, Frankreich geboren. 1989 begann er die Arbeit an seiner mehrfach preisgekrönten Serie um den Angestellten im Ministerium für Humor, Julius Corentin Acquefacques. Seine Comics charakterisiert eine enge Beziehung von Form und Inhalt, deren wechselseitiges Verhältnis er immer wieder neu auslotet.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.12.2017

Ein Ich, es
schwindet dahin
Geschichten aus einer Welt, die sich selbst denkt:
Marc-Antoine Mathieus erkenntniskritische Comics
VON THOMAS VON STEINAECKER
Der Franzose Marc-Antoine Mathieu ist der große Innovator unter den Comiczeichnern. Wo die allermeisten Künstler schon zufrieden sind, wenn ihr Plot funktioniert oder ihre Zeichnungen gelungen sind oder im besten Fall Geschichte und Bilder zu einer Einheit verschmelzen, da fängt Mathieu erst an. Jedes seiner Bücher sprüht nur so von Ideen, die häufig – zum Leidwesen der Verlage und zum Glück der Leser – die Grenzen dessen, was gestalterisch möglich ist, konsequent erweitern. In der bislang sechsteiligen Reihe „Julius Corentin Acquefacques, Gefangener der Träume“ verschlägt es einen Mitarbeiter des Ministeriums für Humor, dessen Name rückwärts gelesen jenen Kafkas ergibt, regelmäßig in Fantasiereiche, die selbst die wildesten Szenarien Winsor McCays und seines Little Nemos alt aussehen lassen: In „Die 2,333. Dimension“ taumelt Acquefacques durch Raum und Zeit, bis der Leser an einer Stelle aufgefordert wird, seine 3-D-Brille aufzusetzen, die dem Werk freundlicherweise beigelegt ist, um so wie der Protagonist in ungeahnte Dimensionen vorzustoßen; in „Die Verschiebung“ beginnt die Geschichte mitten im Buch, aus dem zudem offensichtlich einige Seiten herausgerupft worden sind.
Was Mathieus Werk so außergewöhnlich macht, ist, dass diese spektakulären Gimmicks nie Selbstzweck, sondern mit der philosophischen Fragestellung nach den Grundfesten von Identität und Realität verbunden sind. Ohne Zweifel hat Mathieu seinen Borges und natürlich auch Kafka gelesen; vor allem jedoch hat er die surrealistischen Maler, allen voran M.C. Escher und seine kniffligen perspektivischen Verschränkungen, genau studiert. In „Der Anfang vom Ende“ erlebt Acquefacques erst alles rückwärts, bis er in der Mitte des Buches durch einen Spiegel steigt und das eben Erzählte einfach noch einmal aufgerollt wird, nur dieses Mal vorwärts, sodass die Geschichte irgendwann zur Unendlichkeitsspirale wird.
Nicht zufällig spielt auch in Mathieus neuestem Werk das Motiv des Spiegels eine zentrale Rolle. Otto, der Protagonist mit dem Palindrom als Name, ist ein erfolgreicher Performancekünstler, dessen Aktionen von der Presse als „Spiegelecho“ oder „Seelenspiegel“ bezeichnet werden; so bei seinem jüngsten Streich, bei dem er im Guggenheim-Museum in Bilbao einen gewaltigen Spiegel wie ein moderner Wiedergänger Sisyphos’ mit sich herumschleppt, um ihn schließlich am Boden zu zerschmettern. Weil ihn seine Kunst aber nicht mehr erfüllt, kommt ihm eine geheimnisvolle Erbschaft nicht ungelegen: Seine Eltern, von denen er sich schon lange entfremdet hatte, sind gemeinsam aus dem Leben geschieden und haben ihm eine Truhe hinterlassen, mit der es eine besondere Bewandtnis hat.
Bis Otto sieben war, nahmen sie an einem Experiment teil, für das sie jedes noch so kleinste Detail im Leben ihres Sohnes auf Fotos, Videos, Tonaufnahmen und in Tagebucheinträgen dokumentierten. Otto, dem jede Erinnerung an diese Zeit fehlt, erforscht nun den Inhalt der Truhe, in dem er jenen Sinn des Lebens wiederzufinden hofft, der ihm abhandengekommen ist. Bald gleicht sein Studio einem Profiling Room für sein eigenes Selbst und er vergisst die Welt um sich – oder, wie es im Comic heißt: „Die Vergangenheit weitete sich immer mehr aus. Otto schwand in der Gegenwart dahin wie ein ausgetrockneter See, der nach und nach die Schichten seiner Existenz freilegte.“
Für diese Geschichte, die einem Paul Auster zu seinen besten postmodernen Zeiten zur Ehre gereichen würde, hat Mathieu verblüffende Rätselsequenzen gefunden. Wie in seinen anderen Bänden ist es auch hier die filmische Technik des Zoomens, die zum Zaubermittel wird und fließende Übergänge zwischen Mikro- und Makrokosmos sowie Wirklichkeit und Traum schafft. So vergrößert Otto auf seinem Laptop ein Foto von sich selbst bei der Betrachtung eines Laubblattes; im Anschluss bringt uns jeder Klick das Blatt näher, dessen Struktur sich schließlich in unendliche Verästelungen auflöst, bis wir erkennen, dass wir es mit dünnen Schneisen zu tun haben, die voneinander wegstrebende Doppelgänger Ottos in eine weiße Landschaft aus Papier graben. Und unversehens haben sich die schwarz-weißen Bilder Mathieus, deren klare Linien eigentlich den realistischen Effekt verstärken, in Allegorien für die unüberschaubare Anzahl von Abzweigungen verwandelt, die man im Leben nehmen kann, ohne dass man sagen könnte, welche die richtige ist.
Manchmal bewegt sich der Begleittext in diesem Comic, der fast ganz ohne Sprechblasen auskommt, mit seinem bedeutungsschwangeren Pathos haarscharf an der Grenze zum Raunen: „Er kannte nun die Kettenreaktion von Ursache und Wirkung, die Ereignissen und Handlungsweisen in seinem Leben voranging, und er konnte nicht sagen, welche darunter folgenreicher waren als andere; vielleicht waren sie auch gleichwertig … so kam es, dass Otto nicht mehr die Welt dachte; die Welt dachte in ihm.“ Auch sollte man nicht erwarten, dass Mathieu tatsächlich Antworten auf die von ihm aufgeworfenen metaphysischen Fragen liefert. Besser man überlässt sich also den faszinierenden Bilderfolgen mit ihren überraschenden Verwandlungen und ihrer klugen Metaphorik. Aber Vorsicht! Auf den ersten Blick harmlos wirkende schwarze Flächen können da schon mal zu bodenlosen Abgründen werden, in denen ein Mensch für immer verschwindet.
Marc-Antoine Mathieu: Otto. Aus dem Französischen von Norma Cassau. Reprodukt Verlag, Berlin 2017. 88 Seiten, 20 Euro.
Ottos Aktionen werden von
der Presse als „Spiegelecho“ oder
als „Seelenspiegel“ bezeichnet
Erst mal harmlos wirkende
schwarze Flächen können zu
bodenlosen Abgründen werden
Wo ist hier das Ich? Und was macht die Welt mit ihm?
Abb. aus dem besprochenen Band
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Für Thomas von Steinaecker ist Marc-Antoine Mathieu einer der großen Innovatoren im Comic. Dass der Autor vor Ideen nur so sprüht, stellt der Rezensent auch beim Anschauen des neuen Bandes aus dem Hause Mathieu fest. Ein Buch voller grafischer Gimmicks (3-D-Brille inklusive), die laut Steinaecker aber nie Selbstzweck sind, sondern die vom Autor gewälzten philosophischen Fragen nach Identität und Realität illustrieren. Dass der Autor Borges und Kafka gelesen hat und filmische Techniken wie das Zoomen im Schlaf beherrscht, macht den Band für den Rezensenten zu einem verblüffenden Rätselbuch. Das gelegentliche Raunen des Begleittextes kann er verschmerzen.

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