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Am 1. Juli 1959 bringt der Sozialpsychologe Milton Rokeach drei besondere Patienten ins Krankenhaus von Ypsilanti in Michigan: Clyde Benson, alkoholkranker Landwirt, Joseph Cassel, gescheiterter Schriftsteller mit Aggressionsproblemen, und Leon Gabor, Veteran des Zweiten Weltkriegs. Die drei Männer haben nicht viel gemeinsam - bis auf die nicht ganz unbedeutende Tatsache, dass sie sich alle für Jesus Christus halten. Zwei Jahre lang versucht Rokeach, sie von ihrem Irrglauben abzubringen, und hofft, dass sie irgendwann einsehen, dass sie sehr viel irdischer sind, als sie denken. Doch sie alle…mehr

Produktbeschreibung
Am 1. Juli 1959 bringt der Sozialpsychologe Milton Rokeach drei besondere Patienten ins Krankenhaus von Ypsilanti in Michigan: Clyde Benson, alkoholkranker Landwirt, Joseph Cassel, gescheiterter Schriftsteller mit Aggressionsproblemen, und Leon Gabor, Veteran des Zweiten Weltkriegs. Die drei Männer haben nicht viel gemeinsam - bis auf die nicht ganz unbedeutende Tatsache, dass sie sich alle für Jesus Christus halten. Zwei Jahre lang versucht Rokeach, sie von ihrem Irrglauben abzubringen, und hofft, dass sie irgendwann einsehen, dass sie sehr viel irdischer sind, als sie denken. Doch sie alle halten die jeweils anderen abwechselnd für Lügner, Maschinen oder gar für "Geisteskranke". Als vermeintliche Erfolge sich als lediglich vorgespielt herausstellen, greift Rokeach endgültig zu fragwürdigen Methoden. So schreibt er Leon Gabor etwa Briefe, in denen er sich als seine (eingebildete) Ehefrau ausgibt - bis dieser den Kontakt zu ihr abbricht. Rokeachs Aufzeichnungen aus dieser Zeit bilden ein anfangs noch unterhaltsames, dann jedoch immer erschreckenderes Zeugnis der institutionellen Behandlung psychischer Störungen, und stellen darüber hinaus nicht nur die Frage nach den Grenzen medizinischer Möglichkeiten, sondern auch nach denen der Menschlichkeit.
Autorenporträt
Milton Rokeach, geboren 1918 in Polen, emigrierte im Alter von 7 Jahren mit seinen Eltern in die USA, wo er einer der führenden Sozialpsychologen werden sollte. Er hielt unterrichtete u. a. an der Washington State University und der University of Southern California. Rokeach starb 1988.    
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Andreas Mayer empfiehlt die erstmals auf Deutsch vorliegende Dokumentation von Milton Rokeachs Versuch von 1959, mit basalen gruppentherapeutischen Mitteln Christi-Wahnvorstellungen dreier Schizophrenie-Patienten zu heilen, als ein glänzend geschriebenes, unschätzbares Zeugnis wissenschaftlicher Hybris. Rokeachs Hoffnung bestand wohl darin, dass die drei wieder zur Vernunft kommen würden, wenn er sie miteinander und ihrem parallelen Wahn konfrontierte. Das Experiment scheiterte. Die nachträgliche Selbstkritik des Sozialpsychologen überzeugt Mayer nicht. Bizarr nennt er das Experiment mit den drei Christi, das laut Rezensent nur die "Verhärtung" der Wahnvorstellungen zur Folge hatte.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.07.2021

Morgen kommt Madame Gott

Paranoiker zu täuschen ist ziemlich schwer: Milton Rokeachs Bericht über sein fragwürdiges Experiment mit drei psychiatrischen Patienten, die sich für Christus hielten.

Im Herbst 1958 versandte das Department of Mental Health des amerikanischen Bundesstaates Michigan Anfragen an eine Reihe von lokalen Nervenheilanstalten. Es ging darum, zwei oder mehr Patienten mit ein und derselben wahnhaften Identität ausfindig zu machen. Unter den etwa 25 000 Anstaltsinsassen fanden sich allerdings nur wenige, die dieser Beschreibung entsprachen: kein Napoleon und kein Cäsar, aber immerhin drei männliche Patienten, die alle fest davon überzeugt waren, Jesus Christus zu sein. Zwei waren im Ypsilanti State Hospital interniert, der dritte in einer anderen Klinik.

Alle drei Männer hatten dieselbe Diagnose erhalten: paranoide Schizophrenie, Heilungsaussichten gering. Im Juli 1959 wurden sie für mehrere Monate auf derselben Station untergebracht, um an einem einzigartigen Experiment teilzunehmen, das sich der Sozialpsychologie Milton Rokeach von der Michigan State University ausgedacht hatte. Ein von dem Psychoanalytiker Robert Lindner berichteter Fall diente ihm dabei als Inspiration: Nachdem dieser in einer psychiatrischen Anstalt in Maryland zwei katholischen Patientinnen begegnet war, die sich beide für die Mutter Gottes hielten, hatte er eine Begegnung organisiert und eine der beiden Frauen zum Aufgeben ihrer Wahnvorstellung gebracht. Die wundersame und nicht näher geschilderte Heilung diente Rokeach als Legitimation für sein eigenes bizarres Experiment mit den drei Christi, bei dem ihm die Leitung der Klinik in Ypsilanti zwei Jahre lang Narrenfreiheit gewährte.

Das zuerst 1964 und zwanzig Jahre später nochmals aufgelegte Buch, das den Verlauf des Experiments im Detail auf ebenso faszinierende wie verstörende Weise beschreibt, liegt nun erstmals auf Deutsch vor, parallel zur missglückten Verfilmung - auf Deutsch unter dem Titel "State of Mind: Der Kampf des Doktor Stone" -, die voriges Jahr in den Vereinigten Staaten anlief. Die Verballhornung des von Gefühlskitsch triefenden Drehbuchs, die aus dem polnischen Emigranten und Rabbinersohn Rokeach den deutsch-jüdischen, dem Holocaust entronnenen Psychiater Dr. Stone macht, dem es in humanistischer Mission um die Rettung verirrter Seelen geht, zeigt vor allem eines: die Unerträglichkeit der Vorstellung, dass hier drei Patienten einer staatlichen Institution einem Sozialforscher ohne jede medizinische Ausbildung schlicht zum Testen einer Reihe von Forschungshypothesen überlassen wurden, ungeachtet aller ethischen Rücksichten.

Denn, wie Rokeach selbst in aller Klarheit festhält, konnte man kaum ernsthaft davon ausgehen, dass drei mit paranoider Schizophrenie diagnostizierte Patienten je ihre Wahngebilde aufgeben würden. Die im Namen der Wissenschaft ersonnene sozialpsychologische Methode, die die drei Christi von Ypsilanti in der Kleingruppe tagtäglich miteinander konfrontierte, führte denn auch zu keiner dauerhaften Veränderung ihrer wahnhaften Überzeugungen, sondern vielmehr zu deren weiteren Verhärtung. Wie bei vielen anderen berühmten Fallgeschichten - angefangen bei denjenigen Freuds - liegt das Hauptinteresse von Rokeachs Buch darin, der glänzend geschriebene Bericht eines wissenschaftlichen Scheiterns zu sein.

Bereits nach ihrem ersten Aufeinandertreffen liefert jeder der drei Patienten verblüffende Erklärungen dafür, dass die zwei anderen Anspruch auf seine wahre Identität erheben. So bringt der äußerst belesene Joseph Cassel, der bereits sein halbes Leben in der Anstalt zugebracht hat, den naheliegenden Einwand vor, die beiden anderen seien verrückt, da es nur einen Gott geben könne, nämlich ihn selbst. Clyde Benson, der Älteste der drei, erklärt wiederum seine beiden Konkurrenten für tot und nennt sie bloß "instrumentelle Götter". Und Leon Gabor, Sohn einer religiösen Fanatikerin, erweist sich als mit freudianischen Weisheiten und Sexualsymbolik beschlagener "Überinterpretierer", der fortwährend komplizierte Theorien über die von den anderen angestellten "Täuschereien" aufstellt und stundenlang auf der Toilette masturbiert.

Nach anfänglichen Szenen der Gewalt kommt es bald zu verdeckten Kämpfen und subtileren Strategien. So präsentiert Leon etwa eines Tages seine neue Visitenkarte, auf der "Dr. Righteous Idealed Dung Sir Simplis Christianus Puer Mentalis Doktor" zu lesen ist. Damit ist jedoch kein wirklicher Durchbruch erzielt, denn obwohl der Patient nun als Dr. Dung angesprochen werden möchte, hat er seine Wahnvorstellung nicht aufgegeben. Er sucht vielmehr Rokeach seines Forschungsthemas zu berauben und das Experiment auszuhöhlen, das er hellsichtig als "geistige Folter" bezeichnet.

Nicht minder erstaunlich muten die Volten an, zu denen Rokeach in der Folge greift, um auf die wahnhaften Überzeugungen der drei Männer Einfluss zu nehmen. So gebraucht er das Mittel, den Patienten Briefe zuzustellen, in denen er selbst andere Identitäten vortäuscht. Joseph etwa erhält regelmäßig Post vom Leiter der Klinik, der damit als eine Art Vaterfigur installiert werden soll, um seine Wahnvorstellungen dauerhaft zu korrigieren. Noch weiter geht der Experimentator im Falle Leons, für den er eine fiktive Wahnperson erfindet, die sich als seine Frau - Madame Gott - bezeichnet und die sogar mehrfach brieflich ihren Besuch in der Klinik ankündigt. Rokeach ist sich durchaus dessen bewusst, dass es großen Geschickes bedarf, um einen Paranoiker zu täuschen, und dass das Teilen von dessen wahnhaften Überzeugungen der dafür zu entrichtende Preis ist. Allerdings geben die vom Experimentator beigesteuerten Fantasieprodukte mehr zu weiteren Anbauten an die jeweiligen Wahnsysteme Anlass als zu deren intendierter Abtragung.

In seinem zwanzig Jahre später verfassten Nachwort übte sich Rokeach in Selbstkritik, wenn er erklärte, das gescheiterte Experiment habe letztlich ihn selbst von seinem Allmachtswahn geheilt und zur Einsicht gebracht, "dass ich im Grunde kein Recht hatte, Gott zu spielen, nicht einmal im Namen der Wissenschaft". Dieses nachträgliche Bekenntnis wirkt allerdings ebenso wenig überzeugend wie die damit einhergehende Behauptung, "Güte und Größe, also das Streben nach Moralität und Kompetenz", seien menschliche Universalien und erklärten den Wunsch aller Menschen, gottgleich sein zu wollen. Die verquere Selbstrechtfertigung, die den Größenwahn des Psychologen im selben Atemzug für illegitim erklärt und bekräftigt, tut aber der Tatsache keinen Abbruch, dass Rokeachs Bericht ein unschätzbares Dokument ist. Es stellt das Drama der Objektivität in den Humanwissenschaften am Fall eines ungreifbaren Objekts eindringlicher und anschaulicher vor Augen, als jeder Roman oder Film es je vermöchte.

ANDREAS MAYER.

Milton Rokeach: "Die drei Christi aus Ypsilanti". Eine psychologische Studie.

Aus dem Englischen von Kevin Vennemann. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021. 432 S., geb., 28,- Euro.

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