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Yoko Tawada erzählt von einer "Loreley", die sich im Fluss irrt und an der Elbe landet, in Hamburg in den 80er Jahren. Die Identitäten der Figuren in diesem Text sind fließend, zwischen Mann und Frau, Hetero und Homo, Kindheit und Erwachsene-Sein.Jede Öffnung in der Landschaft entpuppt sich als ein Durchgang zu einer anderen Welt: Der Keller in einer Kneipe führt in die islamische Welt, ein botanischer Garten zum Theater, die Elbe zum Rhein, ein Foto im Zimmer nach Tibet ... Dieser Text ist wie Wasser, fließender und freier als Prosa, aber doch ein erzähltes Werk, keine Lyrik.

Produktbeschreibung
Yoko Tawada erzählt von einer "Loreley", die sich im Fluss irrt und an der Elbe landet, in Hamburg in den 80er Jahren. Die Identitäten der Figuren in diesem Text sind fließend, zwischen Mann und Frau, Hetero und Homo, Kindheit und Erwachsene-Sein.Jede Öffnung in der Landschaft entpuppt sich als ein Durchgang zu einer anderen Welt: Der Keller in einer Kneipe führt in die islamische Welt, ein botanischer Garten zum Theater, die Elbe zum Rhein, ein Foto im Zimmer nach Tibet ... Dieser Text ist wie Wasser, fließender und freier als Prosa, aber doch ein erzähltes Werk, keine Lyrik.
Autorenporträt
Yoko Tawada wurde 1960 in Tokyo geboren, von 1982 - 2006 lebte sie in Hamburg, seit 2006 lebt sie in Berlin. Studium der Literaturwissenschaften in Tokyo und Hamburg, Promotion. Erste literarische Veröffentlichung 1985 im konkursbuch Verlag, 1986 eine Serie Gedichte in "Japan-Lesebuch". Erste Buchveröffentlichung in Deutschland 1987 (Nur da wo du bist da ist nichts), in Japan 1992 (Sanninkankai). Sie schreibt in deutscher und japanischer Sprache. 22 Bücher in deutscher Sprache, 2016 erscheinen 2 wettere. Literaturpreise u.a.: Im November 2016 erhält sie den Kleist-Preis. Weitere: "Akutagawa-Sho" ("Akutagawa-Sho" ist der angesehenste japanische Literaturpreis); Lessingförderpreis der Stadt Hamburg; Chamissopreis; Poetikdozentur Tübingen; Sei Ito Literaturpreis; Junichiro Tanizaki Literaturpreis; Goethe-Medaille; Tsubouchi-Shoyo-Taisho; Gastprofessur für Interkulturelle Poetik, Hamburg, 2011, Yomiuri Literaturpreis, Japan 2013. Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung 2013, Distinguished DAAD Chair for contemporary poetics 2015 an der New York University. Seit 1987 über 900 Lesungen in Literaturhäusern, Theatern, Buchhandlungen, Goethe-Instituten, Museen, Kirchen, Tempeln, Schulen und Universitäten in vielen Ländern.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.06.2017

Das verlorene Drachenkind
Die Gedichte und Essays der deutsch-japanischen Autorin
Yoko Tawada bestechen durch Frische und federnde Leichtigkeit
VON BURKHARD MÜLLER
Sprache nützt sich ab in ihrem alltäglichen Gebrauch und sollte darum von Zeit zu Zeit erfrischt werden. Zum Glück gibt es immer auch Menschen, für die sie nicht Mutter-, sondern Fremd- oder Zweitsprache ist. Ihnen fallen Dinge auf, an die ein Muttersprachler nie im Leben denken würde. Yoko Tawada lebt und schreibt seit mehr als dreißig Jahren in Deutschland, aber sie staunt immer noch über Sachen, die den Eingesessenen selbstverständlich vorkommen. Man nehme etwa das Wort „Seepferdchen“, das im Deutschen Assoziationen eines Huftiers hervorruft: Sieht der Kopf nicht wirklich aus wie bei einem Pferd? Auf Japanisch heißt es „tatsu-no-otoshigo“, „das verlorene Kind des Drachens“, lässt also mehr an ein legendäres Reptil als einen realen Großsäuger denken. Und nicht nur niedlich ist es, sondern weckt den Beschützerinstinkt: Man möchte es gleich in den Arm nehmen und seiner Mama zurückerstatten.
Mit dem Wort „Lufthansa“ kann sich Tawada nicht vertraut machen, es enthält nicht genügend Vokale, und so wird für sie daraus „Lufutohansa“, denn: „Wo soll ich sonst hin mit meinen Gefühlen, die nur in den Vokalen zu Hause sind?“ In den europäischen Sprachen gibt es interessanterweise gleich zwei Wörter für die Zeit am Ende des Tages nach der Arbeit: Abend und Nacht, für die je ein eigenes Verhaltens-Repertoire gilt. Das Japanische hingegen kennt nur ein einziges: „yoru“, mit dem Ergebnis, dass die Japaner alle zu kurz schlafen. Das sind gewiss keine Kleinigkeiten.
„Akzentfrei“ hat Tawada ihre Essay-Sammlung genannt, ein Titel nicht ohne Ironie. Akzentfrei zu sprechen, darin besteht der höchste Ehrgeiz des Sprachenlerners. Aber wäre das denn wünschenswert oder überhaupt möglich? In Japan hörte die Autorin, das reinste Hochdeutsch würde in Hannover gesprochen, und zwar auf der Theaterbühne. Ganz zu Recht wendet sie ein, nicht einmal in Hannover würden die Menschen auf einer Bühne geboren. Ein Akzent ist eine Physiognomie, wie ein Gesicht, dessen Falten auf die Geschichte eines Lebens verweisen. Das ermutigt auch den späten Lerner, es noch mit einer neuen Sprache zu versuchen. (Die alte, meint Tawada, kann er ja in Gestalt des Akzents mitnehmen.) Der Akzent begünstigt die Poesie, die sich am Ungewohnten entzündet und erinnert daran, wie verschieden die Menschen sind. „Eine Kellnerin öffnet ihren Mund, schon bin ich unterwegs nach Moskau, nach Paris oder nach Istanbul. Die Mundhöhle der Kellnerin ist der Nachthimmel, darunter liegt ihre Zunge, die den eurasischen Kontinent verkörpert. Ihr Atemzug ist der Orientexpress. Ich steige ein.“ Freilich zeigen sich nicht alle Alteingesessenen von solcher Bereicherung erfreut. Manche fallen der Sprecherin nach jedem dritten Satz ins Wort, um immer von Neuem zu wiederholen: „Es ist erstaunlich, wie gut sie Deutsch sprechen!“. Das ist ein vergiftetes Kompliment. Es legt den anderen darauf fest, dass er in all seinen Anstrengungen eben dies, der andere, bleiben soll, wobei ihm, scheinbar großzügig, seine „Herkunft“ gutgeschrieben wird. „Anscheinend ist es für sie unheimlich, dass jemand weder dazugehört noch fremd ist.“ So viel zum Starr- und Engsinn der multikulturellen Toleranz.
Tawada interessiert sich besonders für zwei deutsche Dichter, die, jeder auf seine Weise, radikal bis in die Konventionen des deutschen Sprechens eingreifen: Ernst Jandl und Paul Celan. Jandl bewundert sie für die Hemmungslosigkeit, mit der er auf die deutsche Grammatik hämmert, bis eine neue Art von „Schlagzeugmusik“ entsteht. Den dunklen Celan verteidigt sie wütend gegen die wohlwollend-kopfschüttelnden Kritiker, die ihm seine Traumatisierung zugute halten, einräumen, er schaffe neue Freiheiten, aber tadeln, dass er auf diese Weise den Raum der Kommunikation verlasse und letztlich ins Leere gehe. Sie hält dagegen: „Er hatte sich selbst schonungslos der Sprache gegenüber geöffnet, ohne seine Dichterperson durch ein Manifest zu schützen. Damit hat er auch diese eine Sprache, Deutsch, so weit geöffnet, dass sie aufhörte, eine Sprache zu sein.“ Was ist eine Sprache aber dann, wenn sie aufhört, eine Sprache zu sein? Tawada scheint manchmal anzudeuten, dass sie an einen von zahlreichen Bezügen durchzogenen Klangfetisch denkt. Geht das aber nicht zu weit? Und ist es nicht letztlich zu wenig?
Von Yoko Tawada ist im Herbst noch ein anderes, ein sehr anderes Buch erschienen. „Ein Balkonplatz für flüchtige Abende“ besteht aus 14 überwiegend langen Gedichten, die jedes für sich und alle gemeinsam eine Geschichte erzählen. Zusammengehalten werden sie durch das Personal, vor allem das konstante weibliche Ich. Die freien Verse erscheinen schlicht und anspruchslos – und doch ist der Zeilenbruch hier keineswegs Manier oder Trick. Im Gegenteil, wollte man sich das Ganze als fortlaufende Prosa vorstellen, so würde es erst jenen bedeutungsschwangeren Lakonismus annehmen, der am lyrischen Habitus manchmal so nervt.
So aber bietet sich der Text mit der Qualität des Leichten und Federnden dar, angenehm schlank trotz der Länge, eine Form, die Tawada sozusagen unterwegs erfindet. Schauplatz ist unverkennbar Hamburg. In einem „Vorspiel“ bittet nachts ein angetrunkener Mann das Ich des Gedichts darum, für ihn Schmiere zu stehen, während er in den Büschen pinkeln geht. Dann aber bemerkt er die Irrigkeit seiner Voraussetzungen: „Er mustert mich vom Haar bis zum / Schuh und sagt: / Ach was! Ein Mädchen bist du! Das / hätte ich nicht gedacht. So ein Schei...!“ Die Angesprochene gerät ins Sinnieren: „Was wollte er von einem Knaben, / der nicht ich war?“ So ahnt der Leser beizeiten, welche Rolle hier die schillernden Gender-Aspekte spielen.
Ein besonders langes Stück heißt „Männliche Melancholie“. Dass es auf Dürers Grafik Bezug nimmt, muss man nicht wissen, wenn man als Komplize zusammen mit dem Ich die beiden Freunde im botanischen Garten belauscht. Der eine, „Jupiter“ geheißen, ein verwöhnter Schauspieler, schiebt im Wagen schon wieder ein neues Kind von einer schon wieder neuen Lebensgefährtin vor sich her und bewahrt, obwohl von allen Seiten belagert, Gelassenheit. Sein Begleiter dagegen, „Wermut“ genannt, scheint erheblich angefressen zu sein, er findet bei den akademischen Kollegen nicht die erhoffte Anerkennung. So recht zufrieden wird das Ich mit ihm als Lover nicht, ebenso wenig wie mit dem Chirurgen, der sie in sein Heim einlädt, um Opern zu hören: „Sie sitzen steif auf dem / Sofa, als wollten sie den Herd der Sippe hüten. / Das hat Wagner nicht gewollt...“. Weit mehr Verlass ist da auf die verständnisvolle Elsa. „Verletzte Kriegerinnen umarmen sich, / Zwei Wunden klebten aneinander. / Der Öffner hat die Form eines Herzens. / Bier, wir, Wein, weinen.“ Getränk und Gefühl gehen ineinander über. „Prosit auf die ewige Freundschaft! / Prosit auf schwer erziehbare Mädchen!“ Da ist durchaus auch Platz für kleine Gemeinheiten. Eine junge Frau im Bikini, „ein kümmerlicher Bauchnabel und aufgeblasene Brüste“, wird umgehend „Melondine“ getauft, ein Fantasiewort, in dem sich Blondine, Undine und Melone ein boshaftes Stelldichein geben.
Tawadas Finderglück streift mitunter den Kalauer. Der Name des Malers Vermeer tritt in Verbindung zu den vielen Kindern, die er zeugte. Und den „Urinstinkt“ trennt nur ein schmaler Buchstaben-Spalt von der Aussage „Urin stinkt“. Das freilich wussten Tawadas Leser schon vor ihr. Aber weil sie so stolz ist auf den Fund, freut man sich gerne mit ihr.
Yoko Tawada: Akzentfrei. Literarische Essays. Konkursbuch Verlag, Tübingen 2017. 140 Seiten, 12 Euro. E-Book 8,99 Euro.
Yoko Tawada: Ein Balkonplatz für flüchtige Abende. Konkursbuch Verlag, Tübingen 2016. 126 Seiten, 12 Euro.
Das reinste Deutsch spricht
man bekanntlich in Hannover,
auf der Theaterbühne
Die unerschöplich über
das Deutsche staunende Autorin
ist vor Kalauern nicht gefeit
Die Japanerin Yoko Tawada arbeitet in ihren Texten am Material der deutschen Sprache.
Foto: Imago
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.2016

Kommt Vermehrung von Vermeer?

Am kommenden Sonntag erhält die in Deutschland lebende Japanerin Yoko Tawada den Kleist-Preis. Und pünktlich zum Ereignis erscheinen zwei neue charakteristische Bücher der Autorin.

Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" - der berühmte Titel eines Aufsatzes von Heinrich von Kleist, zu dessen Ehren die japanisch-deutsche Schriftstellerin Yoko Tawada am 20. November den nach ihm benannten Preis erhält, lässt sich in Bezug auf die Autorin mit Fug und Recht abwandeln in die Verfertigung der Gedanken beim Schreiben. Der Sog der Sprache, die Lust an der Wortzertrümmerung und Wortneuerfindung haben Yoko Tawada immer fasziniert. Die Texte entwickeln eine eigene Dynamik und einen suggestiven Rhythmus, der die Schreibende fortträgt. Ihre Phantasie ist dabei ungehemmt und grenzenlos. Sie versteht sich als Wortfetischistin, die sich in Sprachlandschaften verliert, neue Orte aufsucht, die es gibt oder nicht gibt, die in jedem Wort nach einem überraschenden Sinn sucht, und dieser Sinn kann auch Un-Sinn sein.

Zur Buchmesse sind zwei, wie immer schmale Bändchen der Autorin erschienen, jeweils nicht länger als knapp mehr als hundert Seiten. "Akzentfrei" ist eine Sammlung von munter assoziierenden Essays; mit "Ein Balkonplatz für flüchtige Abende" legt sie einen "Roman" vor, in dem die Zeilen gesetzt sind wie in einem endlosen Prosagedicht. Der erste Text des Essaybandes lässt sich wie eine feine Ironie auf den Sprachkünstler Kleist lesen, Titel: "Setzmilch". Zunächst geht es um Joghurt und Milch und ihre historischen Traditionen in Europa, über die sogar die Autorin selbst "entsetzt" ist. Dann wird das "Setzen" immer obsessiver, und der Essay endet mit der Feststellung: "Ich setze die Sätze, es klingt etwas streng, aber es geht nicht um eine Festlegung der flüssigen Ideen. Ich setze die Sätze, wie ein wildes Tier in der Setzzeit seine Nachkommen in die Welt setzt. Aus den gesetzten Sätzen soll kein Gesetz werden. Sie sollen besser wie Setzmilch in einen Gärungsprozess geraten."

Festlegungen, genaue Definitionen sind nie die Absicht bei Yoko Tawada, bei ihr soll alles im Fluss bleiben, sich auflösen, andere Formen annehmen, in ständiger Veränderung die Welt betrachten. Das verwirrt den Leser und die Leserin, aber ob die männlich oder weiblich sind, auch das bleibt offen, so wie ihre literarischen Figuren das Geschlecht ohne besondere Gründe wechseln können. Ihr Roman spielt um eine Ich-Erzählerin, den jungen Mann Chris und eine Elsa mit Kater. Natürlich gibt es keine fortlaufende Handlung, die Geschichten um die Personen spinnen sich fort in einem krausen Muster wie beim folgenden Dialog:

"Weißt du, woher das Wort Familie kommt?

Nein.

Von Vermehren.

Von Vermeer? Er hat fünfzehn Kinder

gezeugt.

Und siebenunddreißig Bilder.

Es gibt so viele Tätigkeiten, bei denen die Frauen schwanger werden: Briefelesen,

Milch aus dem Krug gießen, Gitarre spielen

oder

am Tisch einschlafen.

Ja, ja, viel mehr.

Vermeer!"

Die Welt der Bilder hat immer eine besondere Anziehungskraft auf Tawada ausgeübt. Sie stolpern durch ihre Texte, mischen sich vorwitzig ein. So, wenn Suzanne Valadon die Ich-Erzählerin im Jahr 1923 in einer Wanne hockend porträtiert oder wenn eine Tänzerin aus einem Bild von Degas heraussteigt und ein Stück Käse vom Teppich aufhebt oder wenn das Rhinozeros von Albrecht Dürer sich aus dem Kupferstich löst und in Dialog mit den Romanfiguren tritt. Jeanne Mammen, Godfried Schalcken, William Kentridge sind Inspirationsquellen, und sei es nur in schmalen Andeutungen für den Kenner. Alle spielen irgendwie mit im Panoptikum einer surrealen Welt der Sinneswahrnehmungen.

Wie immer bei dieser Autorin sind die Bücher durch Fotos, Schriftzeichen, Ausschnitte aus Kunstwerken ergänzt, um noch eine weitere Ebene des Verstehens einzuziehen. Im Essayband "Akzentfrei" sind es Detailaufnahmen aus den antiken Fresken Pompejis; im Roman "Ein Balkonplatz für flüchtige Abende" begegnet der Leser unter anderem schemenhaften Fotografien, die die Hafenanlagen von Hamburg und die Elbe aufscheinen lassen. Hamburg ist auch der Ort des Geschehens. Hier schlug Yoko Tawada ihre Zelte auf, als sie 1982 nach Deutschland kam. Sie zog ein in eines der alten Kapitänshäuser, direkt am Deich mit Blick auf die Elbe und die vorüberziehenden Schiffe. Damals war sie 22 Jahre alt, 23 Jahre später siedelte sie 2006 nach Berlin über. Hamburg blieb eine elementare Erfahrung, denn hier erfuhr sie erstmals, was es heißt, in und mit und zwischen zwei Kulturen zu leben und nicht nur in ihrer Muttersprache, sondern auch auf Deutsch zu schreiben.

Bereits im Alter von neunzehn Jahren unternahm Yoko Tawada ihre erste Fahrt gen Westen nach Europa mit der Transsibirischen Eisenbahn. Eine unvergessene Erfahrung, wie sie später erzählt: "Ich habe geschrieben, dass der Mensch zu 80 Prozent aus Wasser besteht, das heißt, wenn ich während dieser Fahrt immer fremdes Wasser trinke, ein europäisches Wasser oder ein Wasser, das jeden Tag europäischer wird, dann werde ich ja selber anders, wenn ich ankomme. Nicht so, dass ich Ich bleibe und die Fremde nur mit Augen beobachte, sondern dass diese langsame Veränderung in mir selbst stattfindet."

Metamorphosen, Verwandlungen führen zu überraschenden Sprüngen. Die Ich-Erzählerin kann einen Raum verlassen und landet mit dem nächsten Schritt im Amsterdamer Rijksmuseum. Und wieder einen Schritt weiter ist sie in Nepal und in Tibet. Nichts hat einen festen Platz. Mit luftiger Leichtigkeit hebelt die Autorin alle Gesetze der Logik und der Schwerkraft aus. Wenn sie etwas nicht interessiert, dann ist es Folgerichtigkeit. Eine unendliche Freiheit strömt aus ihren Texten, seien es Gedichte, Essays, Theaterstücke oder Romane.

Immer wieder hat Tawada betont, in einer anderen Sprache zu schreiben sei ein Abenteuer, ein Seiltanz zwischen den Kulturen, wer nur der Muttersprache verhaftet bleibe, werde feige und einfallslos. Dennoch hat sie immer zweisprachig geschrieben. Ihre Veröffentlichungsliste auf Japanisch ist beeindruckend. Wie im Deutschen hat sie Lyrik, Erzählungen und Romane veröffentlicht - allerdings nie ihre eigenen Werke übersetzt. In Japan hat sie alle großen Literaturpreise erhalten, die das Land zu vergeben hat. Ehrungen in diesem Ausmaße sind ihr in Deutschland nicht widerfahren. Wer ihr folgt, muss sich auf eine literarische Achterbahn begeben und gut festhalten: Yoko Tawadas Sprachkunst enthüllt Sprachverwandtschaften, die dem deutschen Leser oft verschlossen bleiben, weil er blind ist für die Absurditäten, die in manchem Wort stecken. Das Konkrete wird bei ihr plötzlich ganz abstrakt und bleibt doch real. Die menschlichen Beziehungen sind immer hinterfragt, fragwürdig und merkwürdig. Mal mit Humor und Ironie, mal mit erschreckendem Ernst dreht sich die condition humaine. Yoko Tawada ziseliert an der Sprache wie an einem fragilen Kunstwerk, sie ist eine überaus würdige Preisträgerin im Namen von Heinrich von Kleist.

LERKE VON SAALFELD

Yoko Tawada: "Akzentfrei".

Konkursbuch Verlag, Tübingen 2016. 140 S., br., 12,- [Euro].

Yoko Tawada: "Ein Balkonplatz für flüchtige Abende".

Konkursbuch Verlag, Tübingen 2016. 125 S., br., 12,- [Euro].

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