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Im Jahr 1412 wird im lothringischen Domrémy ein Bauernmädchen geboren. Keine zwanzig Jahre später wird sie als Ketzerin verbrannt. Aber Felicitas Hoppes »Johanna« ist kein Buch über Johanna von Orleans. Dieses Buch ist Johanna selbst, die Geschichte unseres Aufbegehrens und der eigenen unersättlichen Sehnsucht. Wie geht man mit einer Figur um, die jeder zu kennen glaubt, und über die auch in der Kunst längst alles gesagt scheint? In einer Zeit, in der zwar viel erzählt aber nichts gehört wird, bleibt Johanna eine Provokation. Dies ist ein Buch, das davon handelt, wie man Geschichte macht, wenn…mehr

Produktbeschreibung
Im Jahr 1412 wird im lothringischen Domrémy ein Bauernmädchen geboren. Keine zwanzig Jahre später wird sie als Ketzerin verbrannt. Aber Felicitas Hoppes »Johanna« ist kein Buch über Johanna von Orleans. Dieses Buch ist Johanna selbst, die Geschichte unseres Aufbegehrens und der eigenen unersättlichen Sehnsucht.
Wie geht man mit einer Figur um, die jeder zu kennen glaubt, und über die auch in der Kunst längst alles gesagt scheint? In einer Zeit, in der zwar viel erzählt aber nichts gehört wird, bleibt Johanna eine Provokation. Dies ist ein Buch, das davon handelt, wie man Geschichte macht, wenn man erzählt. Auf den Gang der Geschichte antwortet diese »Johanna« mit der Passion der Literatur, auf die Passion der Johanna mit einem Gespräch über unsere eigene Angst. Felicitas Hoppe verzichtet auf die Rekonstruktion der Biographie. Stattdessen erzählt sie mit historischer Genauigkeit und poetischer Intensität einen Traum von der Wirklichkeit - denn was sind Bücher gegen die Welt?
Autorenporträt
Felicitas Hoppe, geb. 1960 in Hameln, lebt als Schriftstellerin in Berlin. 1996 erschien ihr Debüt »Picknick der Friseure«, 1999 - nach einer Weltreise auf einem Frachtschiff - folgte der Roman »Pigafetta«. Anschließend erschienen »Paradiese, Übersee«, »Verbrecher und Versager«, »Johanna«, »Iwein Löwenritter«, »Sieben Schätze«, »Der beste Platz der Welt«, »Abenteuer - was ist das?« und »Grünes Ei mit Speck«, eine Übersetzung von Texten des amerikanischen Kinderbuchklassikers Dr. Seuss. Es folgten die Romane »Hoppe«, »Prawda. Eine amerikanische Reise«, »Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm« sowie der Essay »Gedankenspiele über die Sehnsucht«. Für ihr Werk wurde Felicitas Hoppe mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem aspekte-Literaturpreis, dem Bremer Literaturpreis, dem Roswitha-Preis der Stadt Bad Gandersheim, dem Rattenfänger-Literaturpreis, dem Georg-Büchner-Preis, dem Erich Kästner Preis für Literatur, dem Großen Preis des Deutschen Literaturfonds sowie dem Berliner Literaturpreis. Außerdem Poetikdozenturen und Gastprofessuren in Wiesbaden, Mainz, Augsburg, Göttingen, am Dartmouth College in Hanover, New Hampshire, an der Georgetown University, Washington D.C., in Hamburg, Heidelberg und Köln.Literaturpreise:u.a.:Foglio-Preis für junge Literatur (1995)Aspekte-Literaturpreis (1996)Ernst-Willner-Preis im Bachmann-Literaturwettbewerb (1996)Rauriser Literaturpreis (1997)Laurenz-Haus-Stiftung Basel (1998)Niedersächsischer Förderpreis für Literatur (1999)Spycher: Literaturpreis Leuk, Nicolas Born-Preis, Heimito von Doderer-Literaturpreis (alle 2004)Brüder Grimm-Preis der Stadt Hanau (2005)Bremer Literaturpreis (2007)Roswitha-Preis der Stadt Bad Gandersheim (2007)Rattenfänger-Literaturpreis (2010)Preisträgerin des Comburg-Stipendiums (2010)Villa Aurora (2012)Georg-Büchner-Preis (2012)Werner-Bergengruen-Preis (2015)Erich Kästner Preis für Literatur (2015)Ehrendoktorwürde der Leuphana Universität Lüneburg (2016)Großer Preis des Deutschen Literaturfonds (2020)Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor (2021) Berliner Literaturpreis (2024)
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2006

Prahlhans und Tochter Gottes, wie nebenbei geschmiedet
Schnelle Rede, helle Rede, stürmischer Gang: Felicitas Hoppe reist durch die Jahrhunderte bis zum Scheiterhaufen von "Johanna", der Jungfrau von Orléans / Von Tilmann Lahme

Alles beginnt ja, wie immer, im Kopf, und im Kopf ist es dunkel, vielleicht sogar finster, bis endlich einer kommt, der den passenden Lichtschalter findet. Und irgendeiner kommt immer vorbei."

Felicitas Hoppe, die den Lichtschalter zur Jungfrau von Orléans in ihrem neuen Roman "Johanna" sucht, ist nicht die erste, wahrlich nicht. Schwer ist es, nahezu unmöglich, nach Jahrhunderten durch den mythischen Nebel zu jener Frau durchzudringen, die während des Hundertjährigen Krieges zwischen Engländern und Franzosen, getrieben von Offenbarungen, sich mit Schwert und Gebet an die Spitze des französischen Befreiungskampfes setzte, bis sie schließlich nach einem Inquisitionsprozeß zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt wird.

Die Geschichte von Jeanne d'Arc ist ein nationaler Mythos der Franzosen. Nationalisten und Klerikale, Konservative und Revolutionäre, Faschisten und Demokraten beriefen sich auf die Jungfrau, stellten wahlweise das Egalisierende ihres Wirkens, ihre Verteidigung der gottgewollten Ordnung, ihre göttliche Mission oder ihren Kampf für die Nation in den Vordergrund. Im von Hitler-Deutschland besetzten Frankreich etwa beriefen sich sowohl die Kollaborateure in Vichy auf Jeanne d'Arc als Verkörperung von Gehorsam und Tradition als auch die Résistance, die Johanna als Befreierin Frankreichs von illegitimer und fremder Herrschaft anriefen. Selbst den heutigen Rechtspopulisten um Le Pen in Frankreich entgeht Jeanne d'Arc nicht und muß als Symbolfigur für den Kampf gegen Überfremdung herhalten.

"Erkenne die Jungfrau". Felicitas Hoppes selbsterhobener Anspruch ist hoch, zumal sich zum jahrhundertelangen Kampf um die politische Johanna noch der verwandte um die literarische gesellt. Voltaire griff in seinem Johanna-Stück "La Pucelle d'Orléans" die Kirche und das finstere Mittelalter an. Schiller konzipierte seine "Jungfrau von Orleons" als Antwort auf die Voltaireschen Gemeinheiten. Bernard Shaw wiederum warf Schiller vor, die Jungfrau in einem "Hexenkessel tobender Romantik" ertränkt zu haben. Ihm galt sie als "erste Protestantin". Bertolt Brecht hingegen schickte sie gleich mehrfach in den Klassenkampf seiner sozialkritischen Parabeln.

All das interessiert Felicitas Hoppe überhaupt nicht. Nicht die politische Instrumentalisierung, nicht die Suche nach der historischen Figur. Johanna als erster Apostel des Nationalismus? Alles Theater. "Englisch, französisch, das spielt keine Rolle. Johanna war schließlich die Tochter Gottes. Und hätte Gott sie englisch besetzt, dann hätte sie für England gekämpft."

Eine namenlose Ich-Erzählerin beschäftigt sich seit Jahren mit der Jungfrau von Orléans. Ein intelligenter junger Wissenschaftler ist ihr Gefährte. Beide sind sie "falsche Priester kurz vor der Weihe, aber jeder eine Schwelle für sich, über die keiner kommt". Auch die Schwelle der erotischen Annäherung werden sie nicht überschreiten, trotz gegenseitiger Neigung. Es bleibt jungfräulich unschuldig, bis zum Schluß: "Und morgen, falls es das Wetter erlaubt, werden wir uns duzen." Die Hürde der Promotion hat der Kompagnon bereits genommen, für die Ich-Erzählerin steht sie noch aus. Aber es regiert der Zweifel. Kann man mit Fakten und historischer Forschung, "verschrobener Knappenprosa" also, einem Phänomen wie der Jungfrau überhaupt nahekommen? "Nur Johann ist nicht darauf angewiesen, denn wie wir die Fakten auch drehen und wenden, wir sind fast tot, und sie bleibt lebendig." Eine kuriose Relativitätstheorie.

"Schnelle Rede, helle Rede, stürmischer Gang", tritt Johanna in die Szene. "Nicht groß, nicht klein, nicht lang, sondern kurz, nicht blond, sondern braun, nicht höflich, sondern eckig und schnell. Nicht schön, sondern ländlich." Eben nicht Ingrid Bergman, die gleich zweimal die Jungfrau im Film gab: schön, pathetisch und überrüstet. Aber auch die "reale" Johanna ist nicht, was Felicitas Hoppe sucht. Ganz im Gegenteil: Jener Historiker, der als Krönungsexperte Fachmann sein soll für etwas, das doch nur die Jungfrau konnte, einem legitimen Herrscher zur Krönung verhelfen, ist der Widerpart der Johanna-Suchenden. Ein Wissenschaftler, der von Fußball schwärmt, Emotionen aber als irrelevant aus der Geschichte verbannt. Weibliches Gedöns. Ein leitmotivischer Rauchdunst geht von dem Professor aus. Die Flammen bedrohen alle, die sich mit der auf dem Scheiterhaufen verbrannten Jungfrau einlassen - es sei denn, sie wahren Distanz wie der Wissenschaftler, der, nur nach Rauch stinkend, der lodernden Helligkeit der Erkenntnis nicht nahe genug kommt. Aber auch das weibliche Ich hat Angst vor dem Feuer, mag nicht ihre Hand danach ausstrecken: "Ich fürchte den Wind und um meine Finger."

Angst hemmt, mehr noch treibt sie aber an. So auch in der Promotionsprüfung, eine leuchtende, dichte, grandiose Szene des Romans, der man auch die etwas überdehnte Analogie zu den Inquisitionsverhören Johannas verzeiht. Die Ich-Erzählerin steht vor der Tür des Professors, von der sie weiß, daß sie den Kopf senken, sich also künstlich klein machen muß, von der Literatin zur Historikerin, um im akademischen Sinn erfolgreich zu sein. "Die Tür und die Stille. Der eigene Atem. Der Blick auf die Uhr. Die schweißnassen Hände. Die Angst vor dem Klopfen. Finger aus Blei. Womöglich fallen die Finger ab, bevor sie die Klinke erreichen. Plötzlich von drinnen leises Gelächter. Das Rücken von Stühlen. Dann wieder Gelächter. Ich drehe mich um. Kein Zweifel möglich, man lacht über mich. Ist ja sonst keiner da." Die Paranoia des Prüflings, die Angst vor dem Kommenden. "Nicht die Prüfung ist schrecklich, schrecklich ist nur die Prüfung davor. Die Nacht davor und der Morgen davor." Daß die Promotionsprüfung scheitert, ist unwichtig, wird nur nebenher deutlich. Wichtig ist die endgültige Erweckung der Geprüften zur Literatin, dank Johanna.

Es ist phantastisch, beziehungsreich, verästelt, oft gebrochen und vieldeutig, niemals eindimensional, aber immer sprachlich brillant, wie Felicitas Hoppe auf die Suche nach ihrer Johanna geht. Die große Sprachreisende nimmt den Leser mit auf eine Romanfahrt, um an der ersten Gabelung mit einer eleganten Drehung im Unterholz zu verschwinden. Soll der Leser doch selbst durch das Dickicht aus Assoziationen, Sprachspielen, Verfremdungen, Zitatkollagen und Andeutungen finden. Für eine Weile zumindest, dann kehrt sie zurück. Lockt weiter in ihre Hoppe-Welt mit ihren eigenen Regeln und Rätseln. Das ist auch anstrengend, ermüdend, gelegentlich von marternder Übersättigung, wenn der Leser, von assoziativen Bocksprüngen und rätselhaften Wendungen überlastet, den Boden endgültig unter den Füßen verloren zu haben glaubt. Wer eine erzählte Geschichte, Handlung schätzt, sollte die Finger von diesem Buch lassen, mehr noch als von allen vorhergehenden Felicitas Hoppes. Ohne vertiefte Johanna-Kentnisse bleibt zudem vieles unklar, zumal zahlreiche Gegner und Mitstreiter auftreten. Zum Hoppe-Verständnis taugt "Knappenprosa" also doch.

Was aber, fragt man sich, fasziniert Felicitas Hoppe so sehr an Johanna? Eine neue Deutung bietet sie nicht an. Es scheint, als seien ihre Motive gleichsam klassisch, umgesetzt in einem modernen Sprachkunstwerk. Die unschuldige Heilige mit dem blutigen Schwert, eine "Tochter Gottes", wie es mehrfach heißt. Auch die Wendungen und Brüche ("Johanna, mein Prahlhans, Aufschneider Gottes!") führen von dieser religiösen Linie nicht weg, die man aus früheren Texten Hoppes, vor allem aus "Paradiese, Übersee", bereits ahnte. Ein intimes Thema, weshalb Felicitas Hoppe wohl den Leser nicht ständig an ihrer Seite wissen wollte.

Felicitas Hoppe: "Johanna". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 173 S., geb., 17,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.09.2006

Schnelle Zunge, helle Rede, stürmischer Gang
Nichts ist leerer als eine alte Rüstung: Felicitas Hoppe und ihr schmaler, reicher Roman „Johanna”
Schon lange hat niemand mehr Frankreich befreien wollen. Nein, nicht den französischen Staat von den Deutschen, das sind späte Verhältnisse, längst angefressen von Verstand und Vernunft, sondern die Nation, das tiefe, wahre, mystische Frankreich. Schon lange hat niemand mehr in der Öffentlichkeit von einer so großen Befreiung geträumt, von einer gleichsam himmlischen Befreiung, in der alle Bewegung zum Stillstand kommt, weil jedes Bedürfnis von vornherein erfüllt ist. Schon lange hat niemand mehr Zwiesprache mit der Geschichte halten wollen. Nein, nicht so, dass man sie studiert und nachher kennt, sondern so, dass man in sie hineinschlüpft und darin lebt, bis es nichts anderes mehr gibt als diese Geschichte. Doch, doch, das alles gab es, zuletzt in Zeiten des „renouveau catholique”, der katholischen Erneuerung im Frankreich des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Und jetzt gibt es so etwas wieder: in Felicitas Hoppes schmalem Roman „Johanna”.
Dabei ist das Buch gar nicht katholisch. Er handelt nur von Johanna von Orléans. Nein, auch das ist falsch. Dieser Roman ist Johanna von Orléans, er erzählt nicht nur die Geschichte der Lothringer Bauerntochter, die, aufgefordert durch Erscheinungen der Heiligen Katharina, im frühen fünfzehnten Jahrhundert auszog, um das französische Heer gegen die englische Besatzungsmacht und den Dauphin nach Reims zur Königskrönung zu führen, sondern bringt sie selbst zum Sprechen. Tief ist Felicitas Hoppe in die Literatur eingedrungen, hat sie sich in die Protokolle der Inquisition gebohrt, die Johanna von Orléans schließlich auf den Marktplatz von Rouen und auf den Scheiterhaufen brachte. Und aus all diesem Material hat sie, in Gestalt eines unendlich fein gearbeiteten, bis ins äußerste Detail komponierten Ineinanders und Gegeneinanders von Stimmen, Zitaten, kleinen Exkursionen und Kommentaren ein Buch gemacht, das zwar einen historischen Gegenstand hat, aber in nichts einem historischem Roman ähnelt. Denn dieses Buch ist ein Traumspiel – eine literarische Himmelfahrt.
Mädchen, Dame und Ritter
In seiner Mitte steht: eine Frau. Nein, nicht eine Frau, sondern ein Mädchen, das noch keine Frau ist, die geharnischte Jungfrau, die kriegerische Unschuld, die Virginität in einer Rüstung. Dieses Mädchen spricht selbst, ihre Gefährten erscheinen, französische Ritter, Soldaten, die Männer, denen sie im Verfahren der Inquisition und auf dem Weg zum Tod begegnete. Gleichzeitig wird von diesem Mädchen gesprochen, in Gestalt einer jungen Frau, die bis hin zu ihrer Vorliebe für weiße Blusen der Autorin ähnelt, die aber Historikerin ist und sich auf eine Examensprüfung über Johanna von Orléans vorbereitet. Sie hat einen Mitspieler in einem genialischen jungen Wissenschaftler, der sich als Meister aller Widersprüche und als der Ungreifbare schlechthin erscheint: „Seit Jahren schreiben wir über die Jungfrau, zwei falsche Priester kurz vor der Weihe.” Sie hat einen Gegenspieler in Gestalt eines Professors, einem Spezialisten für Krönungszeremonien, der vom Fußball schwärmt, aber in der Wissenschaft die Stimmung nicht gelten lassen will. Der Professor lässt sie als Historikerin scheitern, und darüber triumphiert die Dichterin des aus dem Wasser auftauchenden Doppelherzens – denn in diesem Buch geht es nicht darum, einen historischen Zusammenhang zu verstehen. Es sei denn, Verstehen bedeute hier, in diesen Zusammenhang einzutreten wie in einen Glauben: zu glauben, was Johanna von Orléans glaubt. Hier wird in literarischer Unschuld über eine kriegerische Unschuld geschrieben.
Es geht daher in diesem Roman eigentlich nicht um Geschichte. Es geht um die Kraft des Noch-Nicht, es geht um die Mützen, auf denen für jeden Menschen die Devise seines Lebens geschrieben steht, es geht um Herz und Seele, um Selbstsicherheit, Vertrauen und die Überwindung der Angst. Dieser schmale Roman ist ein gewaltiger Bogen, eine riesige, schützende Umschreibung, die um Zentrum herum geschlagen wird, das ganz entschieden nicht historisch ist. Die Geschichtsschreibung wäre die größtmögliche Umgehung, hier aber geht es um eine existentielle Qualität.
Dieser Mitte nähert sich die Autorin mit äußerster Akkuratesse, und die Kraft, der Scharfsinn und die Klugheit, die Felicitas Hoppe für diese Umgehung aufwendet, zeigt vor allem, wie prekär dieser Punkt ist, wie vorsichtig man damit umgehen muss: Es ist die Frage nach der Identität, die Frage, welche Krone auf welchen Kopf gehört und welcher Kopf unter welche Krone und ob Johanna von Orléans der Verehrung wert sein könnte. Es ist insbesondere die Frage nach der geschlechtlichen Identität. Denn es sind die Männerkleider, die Johanna von Orléans zum letzten Verhängnis gereichen, so daß sie verbrannt werden, wonach ihre Asche und ihr Herz in die Seine gekippt werden, damit sie nur ja nicht verehrt werden können.
„Erkenne die Jungfrau” lautet die Aufgabe der Erzählerin, und es ist die schwierigste Frage von allen. Denn die Frage nach einer persönlichen Identität lässt sich nicht beantworten. Sie ist falsch. Sie setzt Unterschiede voraus, Subjekt und Objekt, wo nur Subjekt ist. Man kann nicht mit sich selbst identisch sein. Identisch ist man stets nur für die anderen, die nach der Identität greifen, in Gestalt des Freundes, des Arbeitgebers oder des Finanzamts. Das weiß Felicitas Hoppe, sie weiß, dass alle Suche nach der Identität im Nichts enden muss. Und doch ist da etwas, was nicht gelingen will, und sei es mit Hilfe von Tausenden in der Vergangenheit aufgestellter Spiegel.
Verfehlen, Verpassen, Irregehn
Felicitas Hoppe inszeniert immer wieder solche historischen Umgehungen, in Gestalt ihres Lieblingsheldens Peter Pan und in Figuren wie dem Abenteurer Franz Kapf in ihrem Essayband „Verbrecher und Versager” (2004) oder dem Weltumsegler „Pigafetta” (1999), dem sie auf einer Reise als Passagierin eines Frachters folgt. Und jedesmal ist da ein Bewusstsein von Verfehlen, Verpassen, Irregehen, von Ausgeliefertsein an eine Geschichte, die nicht die eigene sein kann, und dieses Bewusstsein schmerzt. Um diese unsichtbare Mitte, diese existentielle Unsicherheit schreibt Felicitas Hoppe herum, in spätgotisch wirkenden Bögen, die sich immer weiter nach oben spannen, himmelwärts und scheinbar frei, bis sie in Regionen des Wünschens und Träumens vordringen, die religiösen Charakter haben, ohne deswegen religiös sein zu müssen.
Diese in die Höhe getriebenen Bögen entfalten beim Lesen einen mächtigen Sog. Sie ziehen Alltägliches mit sich nach oben, Beiläufiges, Bemerkungen zum pragmatischen Wert der Fettleibkeit wie zu den Beziehungen zwischen Fußball und Rittertum. Und – Ausweis großer literarischer Kunst: Was immer von dieser Bewegung mitgenommen wird, wird spiritualisiert, entfaltet Bedeutung und Intelligenz, strebt mit nach oben. Ein wenig benommen erreicht der Leser dann die letzten Seiten, beglückt nicht nur, weil die Erzählerin endlich die Auseinandersetzung mit der Wissenschaft, den hilflosen Versuch, einer inneren Wahrheit mit äußerlichen Mitteln nahezukommen, beendet hat, bei Rouen in der Seine schwimmt, wieder aus dem Wasser steigt und vielleicht sogar bald geküsst wird, sondern auch, weil er auf dem Weg dorthin sehr viel gelernt hat.
Zum Beispiel in einem Satz über das Wesen der Verschwörung: „die Religion für den, der an sonst nichts glaubt”. Drei Prädikate benutzt die Erzählerin für ihre Lieblingsfiguren: „schnelle Zunge, helle Rede, stürmischer Gang”. Sie gelten auch für Felicitas Hoppe und diesen Roman.
THOMAS STEINFELD
FELICITAS HOPPE: Johanna. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 172 Seiten, 17,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Die Rezensentin Wiebke Porombka zeigt an drei historischen Romanen (Bernd Schroeders "Hau", Felicitas Hoppes "Johanna" und T. Coopers "Lipshitz"), was der historische Roman der Gegenwartsliteratur beizubringen hat: die Reflexion über das Verhältnis von Fakt und Fiktion und den Willen zur bedingungslosen, poetischen Aneignung des Geschehenen. Auf Hoppe trifft dies für die Rezensentin uneingeschränkt zu. In ihrer Geschichte um die als Ich-Erzählerin auftretende Geschichtsstudentin, die im Rahmen ihrer Promotion die Figur der Johanna von Orleans erforscht, setze sie gekonnt den leidenschaftlichen und zermürbenden Prozess der Aneignung und Fortschreibung historischen Stoffes in Szene. Die Erzählerin komme in akademischer Hinsicht zu Fall, als sie sich weigert, die Geschichten der Geschichte lediglich "nachzubeten", sondern sich ihnen in poetischer, empathisch aneignender Weise nähert. Mit diesem vor "Sprachlust" sprühenden Roman, so das lobende Fazit der Rezensentin, stellt Hoppe einen Poesiebegriff in den Raum, der die "dichterische Aneignungsenergie und Gestaltungskraft" in den Vordergrund stellt.

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