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Wissenschaftliche Erkenntnisse können eine Weltsensation darstellen, ohne gleich ein neues Weltbild zu installieren. Als der Pariser Physiker Léon Foucault 1851 die Erdrotation mit einem Pendel nachweisen konnte, musste niemand mehr von der Richtigkeit des Heliozentrismus überzeugt werden. Dennoch gilt das Experiment bis heute als eines der berühmtesten in der Geschichte der Wissenschaften. Hat also Foucaults Pendel immer noch mit uns zu tun? In seinem neuen, mit vielen bislang unbekannten Bildern versehenen Buch geht Michael Hagner dieser brisanten Frage nach und zeigt, wie eng der…mehr

Produktbeschreibung
Wissenschaftliche Erkenntnisse können eine Weltsensation darstellen, ohne gleich ein neues Weltbild zu installieren. Als der Pariser Physiker Léon Foucault 1851 die Erdrotation mit einem Pendel nachweisen konnte, musste niemand mehr von der Richtigkeit des Heliozentrismus überzeugt werden. Dennoch gilt das Experiment bis heute als eines der berühmtesten in der Geschichte der Wissenschaften. Hat also Foucaults Pendel immer noch mit uns zu tun? In seinem neuen, mit vielen bislang unbekannten Bildern versehenen Buch geht Michael Hagner dieser brisanten Frage nach und zeigt, wie eng der Pendelversuch mit technischen Präzisionsbasteleien, ideologischen Konflikten, dem Aufstieg der Populärkultur sowie der Verbreitung von Bildmedien verbunden ist. Dabei behandelt Hagner kosmologische Fragen ebenso wie politische und ästhetische Vorstellungen über die öffentliche Inszenierung von Wissenschaft. Der Glaube an den zivilisatorischen Fortschritt durch die Wissenschaften prägte die öffentlicheGeschichte des Pendels, bis Umberto Eco es in einem postmodernen Welttheater wiederverzauberte. Damit wurde die Bühne frei für die Vermutung, bei Foucaults Pendel könnte es sich auch um ein Kunstwerk handeln. In einer überraschenden Wende deutet Hagner die Installation Zwei graue Doppelspiegel für ein Pendel, die Gerhard Richter 2018 in der Dominikanerkirche in Münster eingerichtet hat, als Vorschlag, künstlerische und wissenschaftliche Reflektion auf paradoxe Weise miteinander in Korrespondenz treten zu lassen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2021

Um Augenschein für Wahrheit bittend

Der Bedarf der Vernunft an anschaulicher Demonstration ihrer Einsichten wird nicht immer pünktlich geliefert: Michael Hagner hat eine exzellente Geschichte des Foucaultschen Pendels und seiner Weltkarriere geschrieben.

Von Jürgen Kaube

Die Erde dreht sich um die Sonne und um ihre eigene Achse. Das wissen wir seit 1687. Isaac Newton vereinigte damals in seiner mathematischen Naturlehre das Modell eines heliozentrischen Weltbildes von Nikolaus Kopernikus mit Galileis Hypothesen zur Physik der Bewegung und Johannes Keplers "Gesetz", die Planeten bewegten sich aufgrund der Anziehung durch die Sonne auf elliptischen Bahnen.

Wir wissen seitdem, dass wir nicht das Zentrum aller Dinge sind. Aber haben wir auch eine Anschauung davon? Nach wie vor sprechen wir geozentrisch von Sonnenauf- und -untergang. Als Ludwig Wittgenstein einmal fragte, weshalb das so ist, bekam er zur Antwort: "Vermutlich, weil es so aussieht, als würde sich die Sonne um die Erde bewegen." Seine Erwiderung: "Nun, wie hätte es denn ausgesehen, wenn es so ausgesehen hätte, als würde sich die Erde um ihre Achse drehen?"

Das detailreiche und glänzend geschriebene Buch des Zürcher Wissenschaftshistorikers Michael Hagner zitiert Wittgenstein nicht, aber es handelt von der Antwort auf seine Frage. Die Antwort lautete für ein Zeitalter vor der Raumfahrt: Wir können die Eigenbewegung der Erde nicht am Himmel ablesen, sondern nur in einem Experiment. 1851 hat es der französische Instrumentenbauer Léon Foucault vorgestellt, indem er die Rotation der Erde durch ein Pendel sichtbar machte. Dieses - ein langes Drahtseil und ein daran befestigtes, meist kugelförmiges Gewicht - schwingt zunächst genau auf die unbewegten Betrachter zu, die nach einiger Zeit merken, dass die Kugel sich im Uhrzeigersinn langsam von ihnen wegbewegt. Das Pendel schwingt seine Bahn, die Betrachter bewegen sich mit der Erde. Wer das lange aushält, kommt in Paris oder München in den Genuss eines Pendels, das nach 32 Stunden wieder genau auf die Beobachter zu schwingt. Am Nordpol geht es schneller.

Hagner beschreibt die Physik dieses Experiments samt seiner erhabenen Ästhetik und findet den schönen Satz, es sei, als ob bei einer Uhr sich das Zifferblatt drehe, nicht die Zeiger. Er entwickelt seine Darstellung aber vor allem anhand der wissenschaftshistorischen Seltsamkeit, dass hier etwas erstmals veranschaulicht wurde, was längst feststand. Niemand glaubte 1851 mehr, die Sonne drehe sich um die Erde. Nur gab es keine sinnliche Vergewisserung dieses Wissens. Und das ausgerechnet bei der gewaltigsten irdischen Bewegung, die wir kennen. Galilei hatte noch vollmundig von "hundert Gründen" gesprochen, die er für die Erdbewegung anführen könne. Tatsächlich besaß er keinen einzigen, der zweifelsfrei gewesen wäre. Kepler wiederum war überzeugt, die Planeten folgten einem beseelten Gesetz.

Es waren theoretische Argumente, Formeln, die der heliozentrischen Weltordnung zum Durchbruch verhalfen. Für ihre Veranschaulichung bedurfte es hingegen kaum der Theorie. Dazu passt es, dass Léon Foucault kein Physiker war und erst nach seinem Experiment eine wissenschaftliche Anstellung fand. Hagner nennt ihn einen Präzisionsbastler. Früh beschäftigte er sich mit der gerade aufgekommenen Fotografie. 1845 war er am ersten Lichtbild beteiligt, das die Sonne zeigte. In der Kontroverse, ob Licht aus kleinen Körpern oder aus Wellen bestehe, nahm er durch Experimente zur Geschwindigkeit der Lichtfortpflanzung im Wasser und in der Luft teil. Das prägte nicht nur seine Fähigkeiten aus, Apparate zu entwickeln, es schulte auch seinen Sinn für öffentlich überzeugende Demonstrationen. Er schrieb Feuilletons über Wissenschaft für das "Journal des débats", die dort neben den Fortsetzungsromanen Balzacs standen. Und er wandte seine apparativen Kenntnisse auch an: Das blendende Bogenlicht, das Richard Wagner 1850 in einer Aufführung von Meyerbeers "Le prophète" überwältigte und das er für sein "Rheingold" adaptierte, kam aus dem Hause Foucault.

Foucaults Pendel gehört also nicht nur in die Geschichte der Wissenschaft, sondern mehr noch in die ihrer Popularisierung. Hagner zeichnet nach, wie die französische Politik und Volkspädagogik sich des Experiments bemächtigten. Zeitweise galt es als kraftvoller Beleg für die der katholischen Kirche überlegene Wissenschaft. Doch sobald man die Kirche politisch zu brauchen glaubte, war die Aufklärung dann auch wieder nicht so wichtig. So kam es zu einem epochalen Hin und Her: 1851 wurde das Pendel im Panthéon vorgeführt, kurz danach wieder demontiert und woanders aufgebaut, 1902 triumphal wieder installiert, dann neuerlich abgebaut. 1995 kehrt das Pendel schlussendlich ins Panthéon zurück.

Showmaster der frühen Vorführungen war nach dem frühen Tod Foucaults lange Zeit der Astronom Camille Flammarion, ein Unternehmer, der mit der Faszination durch kosmologische Fragen handelte; seine "Astronomie populaire" von 1880 hatte eine Auflage von einhunderttausend. Dass bald auch in Kirchen, ihrer geeigneten Raumhöhen halber, Foucaults Gerät installiert wurde, befriedigte die antiklerikale Fraktion besonders. In der Sowjetunion wurde gar aus der Leningrader Isaakskathedrale ein antireligiöses Museum gemacht, mit einem 93 Meter langen Pendel. Hagner bettet die Verbreitung des Experiments in die Epoche der frühen Weltausstellungen und des Städtetourismus ein; es kamen Tischpendel und Baukästen für Schüler auf den Markt, am Ende hatten sogar die UN in New York ein besonderes Foucaultsches Pendel, in ihrem Treppenaufgang, über den Köpfen hängend. In Cattenom zierte 1985 das größte jemals installierte Pendel mit einem Draht von 165 Meter Länge den Rohbau eines Atomkraftwerks. Kurz: Überall, wo ein Fortschritt festgehalten werden sollte, war das Pendel zur Stelle.

Das Schlusskapitel behandelt den hier schon absehbaren Übergang des Pendels in die Geschichte der Kunst und Literatur. Dort verdampft der Fortschritt entweder im Stimmengewirr von Umberto Ecos Roman "Das Foucaultsche Pendel", der sich einen Spaß daraus macht, die Suche nach Gewissheit und festen Punkten im Universum als sektiererisch darzustellen. Oder er wird reflexiv: Gerhard Richters Installation "Zwei graue Doppelspiegel für ein Pendel" in der leeren Dominikanerkirche zu Münster, ebenfalls von Konflikten über Profanierung des ehedem sakralen Raums begleitet, zwingt die Betrachter, nicht nur das Pendel, sondern stets auch sich selbst sowie das eigene Gesehenwerden zu sehen.

Damit ist die Geschichte dieses Experiments einstweilen abgeschlossen. Während das Pendel sich verbreitete, änderte sich die physikalische Grundlagendiskussion. Ernst Mach etwa bestand schon Ende des neunzehnten Jahrhunderts darauf, alle Aussagen über Bewegungen eines Körpers seien relativ zu Bewegungen anderer Körper, weswegen es keine absoluten Aussagen über die Erdbewegung geben könne. Es sei nur praktischer anzunehmen, sie rotiere. Henri Poincaré spitzte das zu: Es sei kein Unterschied, ob man sage "Die Erde dreht sich" oder "Es ist bequemer vorauszusetzen, dass die Erde sich dreht."

So stand es in einem Buch, das kurz nach der verspäteten Jubiläumsfeier von 1902 erschien. Sogleich bekam der Physiker falsche Freunde, die mit einem "Alles ist relativ" das alte katholische Weltbild wieder ins Recht setzen wollten und sich zu diesem ersichtlich politischen Zweck der Metaphysik eines Wissenschaftlers bedienten. Poincaré wies das als Missbrauch von Philosophie von sich. Wenn er sage, die Erde drehe sich, dann meine er, dass auf der Grundlage dieses Satzes einfach mehr erklärt werden könne als durch Leugnung der Erdrotation. Die größere Bequemlichkeit, von der er gesprochen hatte, war also nicht die eines ebenso untätigen wie ungebildeten Skeptizismus gegenüber der Wissenschaft.

Michael Hagner: "Foucaults Pendel und wir". Anlässlich einer Installation von Gerhard Richter.

Buchhandlung Walther König, Köln 2021. 396 S., Abb., geb., 38,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Thomas Steinfeld lernt die ganze Geschichte von Foucaults Pendel und seiner Rezeption kennen in diesem Buch des Wissenschaftshistorikers Michael Hagner. Für den Kritiker ist das Werk eines der "schönsten Sachbücher" der letzten Jahre, präsentiert es ihm doch in liebevoller Gestaltung samt Illustrationen, wie der Journalist und Feinmechaniker Leon Foucault im Jahr 1851 im Pariser Pantheon darstellte, wie die Erde um die eigene Achse rotiert. Mehr noch: Steinfeld erfährt hier von Entwicklung und Problemen mit dem Experiment, liest in Hagners präzisen Ausführungen, wie die Kirche auf Galileis Lehre reagierte und in welchen Museen, Kirchen und Weltausstellungen das Pendel gezeigt wurde bis es sogar als Bausatz zu erwerben war. Auch auf Umberto Ecos Roman "Das Foucaultsche Pendel" aus dem Jahr 1988 geht Hagner ein, bis er schließlich bei Gerhard Richters aktueller Pendel-Installation ankommt, freut sich der Rezensent. Über die "Eleganz", mit der der Autor den Übergang von Wissenschaft und Politik in Kunst in diesem Buch schildert, kann der Kritiker nur staunen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.05.2021

Leise kratzend dreht sich die Erde
Michael Hagners elegante Studie über das Foucaultsche Pendel ist vor allem eine Geschichte der Konkurrenz
zwischen religiösen und wissenschaftlichen Weltbildern
VON THOMAS STEINFELD
Fast drei Jahre war das Panthéon, die Ruhmeshalle der französischen Republik, verschlossen, nachdem das Gebäude während der Revolution von 1848 zum Ort blutiger Kämpfe zwischen aufständischen Arbeitern und Anhängern der Regierung geworden war. Als es im März 1851 wiedereröffnet wurde, diente es der Zurschaustellung eines wissenschaftlichen Experiments: Mithilfe eines 67 Meter langen Drahtseils, das in der Kuppel befestigt worden war, einer glatt polierten kupfernen Kugel mit einem Gewicht von 28 Kilogramm sowie einer Gradierung auf dem Boden demonstrierte der Journalist, Feinmechaniker und Privatgelehrte Léon Foucault, wie sich die Erde um sich selbst dreht: Während das Pendel hin und her schwingt, in immer wieder derselben Bahn, bewegt sich der Globus, mit der Folge, dass sich die Schwingungsebene des Pendels allmählich zu verschieben scheint, mit einer Abweichung von etwa elf Grad pro Stunde. Es ist aber nicht das Pendel, das seinen Ort verändert. Der Raum bewegt sich.
Die Darbietung war ein großer Publikumserfolg, dessen mediales Echo weit über Frankreich hinauswirkte. Seit der Restaurierung des Panthéon im Jahr 1995 ist die Installation wieder am Ort ihres ersten großen Erfolgs zu sehen.
Zweifel daran, dass die Erde um die eigene Achse rotiert, während sie sich um die Sonne dreht, hatte es Mitte des 19. Jahrhunderts schon lange nicht mehr gegeben: Die letzten Bedenken waren mit Isaac Newton und dessen Lehre von der Schwerkraft beseitigt worden. Doch waren die Beweise logischer Art gewesen. Mithilfe des Pendels hingegen konnte der Nachweis empirisch geführt werden: Zwar hatte es in den Jahrzehnten zuvor etliche Versuche gegeben, die Erdrotation mithilfe von Kugeln nachzuweisen, die von möglichst hohen Türmen oder in Bergwerksschächten fallen gelassen wurden. Doch waren die Ergebnisse selten eindeutig gewesen, und sie eigneten sich kaum zur öffentlichen Darbietung.
Anders verhielt es sich mit Foucaults Pendel: Im Keller seines Wohnhauses entwickelt, in einer Sternwarte verfeinert und schließlich in den Riesenraum einer ehemaligen Kirche übertragen, besaß diese Versuchsanordnung nicht nur den Vorteil der Anschaulichkeit. Sie lieferte Resultate von äußerster Präzision. Und sie war elegant: Bedächtig schwang die Kugel hin und her, leise ritzte ein Dorn an ihrem untersten Punkt eine Spur in den Sand, der unter ihr ausgestreut worden war, und ehrfürchtig betrachtete das Publikum nicht nur ein Spektakel, sondern auch eine Offenbarung, in der eine kosmische Bewegung auf beinahe menschliches Maß gebracht zu sein schien.
Von einem Experiment im physikalischen Sinn handelt das Buch von Michael Hagner, Professor für Wissenschaftsgeschichte an der ETH Zürich, nur zum geringeren Teil. Der andere Teil ist der öffentlichen Darbietung des Versuchs gewidmet, von der ersten Zurschaustellung im Panthéon bis zu einer Installation Gerhard Richters, die seit Mitte 2018 in der Dominikanerkirche in Münster zu sehen ist. Diese Geschichte hat nur bedingt etwas mit Wissenschaft zu tun. Sie gilt vielmehr einer politischen Repräsentation, die sich die Wissenschaft zunutze macht, falls sie sich nicht gar mit den Mitteln der Anschauung von der Wissenschaft emanzipiert.
Das war von vornherein so gewesen: Ohne die Unterstützung des Astronomen François Arago, des Ständigen Sekretärs der Akademie der Wissenschaften, hätte Foucaults Pendel nicht auf die nationale Bühne des Panthéon gefunden, und es wäre nicht mit der Idee einer „Schule des Universums“ verbunden worden, die ihren Sitz nur in Paris, der „Hauptstadt aller Wissenschaften“, haben sollte. Einmal in der Sphäre der Volkspädagogik angekommen, fand die Darbietung jedoch bald Nachahmer an anderen Orten und in anderen Ländern. Mehr als 300 öffentlich betriebene Foucaultsche Pendel sollen auf der Welt noch heute hin und her schwingen.
Das Panthéon war aus einer Kirche hervorgegangen, die der heiligen Genoveva gewidmet gewesen war. Während der Revolution war sie profaniert worden. In der Säkularisierung spiegelt sich (auch wenn sie mehrmals zurückgenommen wurde) ein Sieg des Laizismus über die Religion, und von der Überlegenheit der Wissenschaft über den Glauben kündet auch Foucaults Installation: Soll Galileo Galilei nicht mit dem Satz „Eppur si muove!“ – „Und sie bewegt sich doch!“ – in die Kerkerhaft gegangen sein? Und war die sichtbar gewordene Erdrotation nicht der letzte, schlagende Beweis gegen den bornierten Machtanspruch der katholischen Kirche, die wider den aufgeklärten Geist am Geozentrismus festhalten wollte? In den Triumph, den Wissenschaft und Nation in diesem anschaulichen Nachweis feierten, ging die vermeintliche Niederlage der Religion ein.
Mit derselben Umsicht und Genauigkeit, mit der Michael Hagner erklärt, warum das Pendel zum Sinnbild einer populären wissenschaftlichen Weltanschauung wurde, legt er dar, dass die Kirche weit differenzierter auf Galileis Lehre reagierte, als die spätere Rezeption des Inquisitionsverfahrens ahnen ließ. Immerhin sprachen sowohl die sinnliche Wahrnehmung als auch das Verlangen nach „Sinnhaftigkeit“ dafür, dass der Mensch mit beiden Beinen fest auf der Erde steht. Und schließlich war es Galilei selbst, der mit der Behauptung, ein empirischer Beweis für die Erdrotation lasse sich nicht finden, die Entdeckung eines solchen Belegs um Jahrzehnte, wenn nicht um zwei Jahrhunderte verzögerte. Umgekehrt wurde das Pendel gegen Ende des 19. Jahrhunderts selbst zum Gegenstand einer gleichsam religiösen Verehrung, die ihren Höhepunkt im Jahr 1902 fand, als die Versuchsanordnung vorübergehend ins Panthéon zurückkehrte, „als anti-klerikaler Altar“, wie Hagner meint, vor dem man „kosmologische Messen“ halten konnte.
Der Kommunismus ließ den Gegensatz von religiösem Dogma und wissenschaftlichem Wahrheitsdrang noch einmal aufleben, in verschärfter Form: Als die Sowjetunion die Isaakskathedrale in St. Petersburg Anfang der Dreißigerjahre in ein Museum des Unglaubens verwandelte, hing dort das größte aller bis dahin gebauten Pendel. Und mit Bertolt Brechts epischem Stück „Das Leben des Galilei“ aus dem Jahr 1939 wurde die ideologische Verkürzung des Konflikts zwischen Macht und Wahrheit nach dem Zweiten Weltkrieg zum Stoff für den gymnasialen Deutschunterricht.
Um Genauigkeit in der Geschichtsschreibung oder gar um eine Korrektur historischer Irrtümer ging es allerdings bei den weiteren Wanderungen und Vervielfältigungen des Pendels nicht mehr. Wenn das Experiment, was häufiger vorkam, in Kirchen gezeigt wurde, dann geschah das nicht nur der Raumhöhen wegen, sondern auch, weil dem Pendel in seinem scheinbar ewigen, ruhigen Hin und Her selbst etwas Sakrales eignet: Was immer sichtbar wird, rührt zugleich an das Unsichtbare.
Darüber hinaus diente das Pendel ohne Unterlass als Symbol des wissenschaftlichen Fortschritts, in Museen, in Planetarien und auf Weltausstellungen. Es zog in die Schulen ein und war als Bausatz zu erwerben, im Zuge eines voranschreitenden Interesses an der Popularisierung der Naturwissenschaften, das auch dafür sorgte, dass die Bestandteile der originalen Versuchsanordnung ihren Weg ins Museum fanden. Als das französische Atomkraftwerk Cattenom gebaut wurde, im Jahr 1985, hängte man dort ein Pendel mit einer Länge von 165 Metern auf, als offensives Bekenntnis zur Wissenschaft.
Eine besonders symbolträchtige Variante hängt im Foyer des Hauptgebäudes der Vereinten Nationen in New York, als Memento, dass sich „die irdischen Belange der Nationen“ an der Unabweisbarkeit kosmischer Vorgänge zu relativieren haben. Dieser Bildkraft war es nicht abträglich, dass die Physik über die theoretischen Errungenschaften Isaac Newtons und seiner Vorgänger hinwegging: Seit Ernst Mach im Jahr 1883 erklärt hatte, die Lagen und Bewegungen physischer Körper seien nur relativ zu betrachten, und Henri Poincaré die Annahme widerlegt hatte, es gebe einen absoluten Raum, lag im Schwingen des Pendels keine Gewissheit mehr.
Von der Auflösung der physikalischen zur Auflösung der symbolischen Gewissheiten ist es nur noch ein kleiner Schritt, und Michael Hagner vollzieht ihn mit einer Eleganz, für die man vermutlich kein echter, sondern ein dilettierender Kunsthistoriker sein muss. Nach einer Darstellung der vielfältigen wissenschaftlichen und religiösen Verschwörungen, die Umberto Eco in seinem Roman „Das Foucaultsche Pendel“ aus dem Jahr 1988 in einer kosmischen Verwirrung enden lässt, schließt das Buch mit einer Betrachtung der Installation Gerhard Richters: In Münster schwingt das Pendel, dieses Mal über einer runden Platte aus Grauwacke, während nicht nur die experimentelle Einrichtung, sondern auch deren Beobachter von zwei grauen Doppelspiegeln an den Wänden reflektiert werden. Immer noch wird also die Versuchsanordnung gezeigt, aber die Darbietung ist zugleich Gegenstand einer Reflexion über ihre Bestimmung und ihre Voraussetzungen. Was unmittelbar Zeugnis eines kosmischen Ereignisses zu sein scheint, wird auf seine Mittelbarkeit zurückgeführt.
Den Übergang von Wissenschaft und Politik in Kunst spiegelt auch das Buch selbst. Michael Hagners Monografie ist eines der schönsten Sachbücher der vergangenen Jahre: Sorgfältig gestaltet und gebunden, auf festem, weißem Papier gedruckt, mit einem großzügigen, leicht zu lesenden Satzbild und Illustrationen, die sich in den Text integrieren, ist dieses Buch eine Erinnerung daran, „dass gerade der materielle Gegenstand, den man in Händen hält, für jene Integrität und Stabilität sorgt, die ein Buch aus einem ununterscheidbaren Gewimmel von Wörtern heraushebt“. Auch dieser Satz stammt von Michael Hagner, allerdings aus einem älteren Werk. In seinem jüngsten Buch hat er für beides gesorgt: für eine solche Gestalt und für eine Arbeit, die einem solchen Anspruch standhält.
Eine kosmische Bewegung
schien auf beinahe menschliches
Maß gebracht zu sein
Die Physik ist über die
theoretischen Errungenschaften
Isaac Newtons hinweggegangen
Den Übergang von Wissenschaft
und Politik in Kunst
spiegelt auch das Buch selbst
Michael Hagner:
Foucaults Pendel
und wir. Anlässlich
einer Installation von Gerhard Richter.
Verlag der
Buchhandlung Walther König, Köln 2021. 396 Seiten, 38 Euro.
Berühmtestes Exemplar einer Versuchsanordnung: Das Foucaultsche Pendel zum empirischen Nachweis der Erdrotation in der nationalen Ruhmeshalle Panthéon von Paris.
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