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Als Karl Corino 2003 nach rund 40 Jahren Recherche seine 2000 Seiten umfassende Biographie Robert Musils vorlegte, konnte man glauben, Leben und Werk des Schriftstellers seien nun bis in den letzten Winkel erforscht. Das war eine Illusion. In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten wurden Funde gemacht, mit denen nicht zu rechnen war. Neu entdeckte Dokumente und Fotos schlossen Lücken in der Biographie Musils, und an die Stelle der Vermutung trat mitunter Gewissheit. So sammelt das vorliegende Werk verstreut gedruckte Aufsätze, sie stehen neben Studien, die eigens für diesen Band geschrieben…mehr

Produktbeschreibung
Als Karl Corino 2003 nach rund 40 Jahren Recherche seine 2000 Seiten umfassende Biographie Robert Musils vorlegte, konnte man glauben, Leben und Werk des Schriftstellers seien nun bis in den letzten Winkel erforscht. Das war eine Illusion. In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten wurden Funde gemacht, mit denen nicht zu rechnen war. Neu entdeckte Dokumente und Fotos schlossen Lücken in der Biographie Musils, und an die Stelle der Vermutung trat mitunter Gewissheit. So sammelt das vorliegende Werk verstreut gedruckte Aufsätze, sie stehen neben Studien, die eigens für diesen Band geschrieben wurden. Die Fotos bilden einen ausdrücklichen Mehrwert. Zahlreiche werden hier erstmals veröffentlicht.
Autorenporträt
Karl Corino, geb. 1942 in Ehingen am Hesselberg als Sohn eines Landwirts und Kantors. 1952-1961 humanistisches Gymnasium in Dinkelsbühl. Durch Karlheinz Deschners Kitsch, Konvention und Kunst 1959 erste Begegnung mit Texten Musils. 1961-1966 Studium der Germanistik, Altphilologie und Philosophie in Erlangen und Tübingen. 1966-1967 Katalogisierung von Musils Nachlass in Rom, zusammen mit seiner späteren Frau Elisabeth Albertsen. 1969 Promotion bei Friedrich Beißner mit einer Studie zur historisch-kritischen Ausgabe von Musils Vereinigungen. Von 1970-2002 Mitarbeiter in der Literaturabteilung des Hessischen Rundfunks, seit 1985 deren Leiter. 1988 veröffentlichte er den großformatigen Band Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten, Vorstufe zu der 2.000 Seiten umfassenden Biographie Musils (erschienen 2003). Den Abschluss seiner Musil-Trilogie bildete die Sammlung von Augenzeugenberichten in der Reihe En face (2010). Wegen seiner Verdienste um Musil wurde er Ehrendoktor der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und Ehrenpräsident der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Jochen Hieber hat keinen Zweifel an Karl Corinos Expertise betreffend Leben und Werk Robert Musils. Die erscheinenden Misszellen, größere und kleinere Aufsätze Corinos, die meisten bereits vorher veröffentlicht, aber auch sechs unpublizierte, bieten dem Rezensenten daher hübsche Fundsachen wie die über Musils erste Kinderfrau oder den Bodybuilder Musil und Musil-Anekdoten wie jene über den Haus-Floh. Gewichtigeres wie den Aufsatz über Musils Mussolini-Ansichten, verschlingt Hieber ohnehin mit Wonne. Richtig ärgerlich findet der Rezensent allerdings die "unseriöse Komposition" des Bandes ohne Sinn, Maß und Erläuterungen, dafür mit Redundanzen noch und nöcher. Auf redaktionelle Sorgfalt muss der Leser leider verzichten, klagt der Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.07.2022

Nachrichten aus dem Leben eines Flohs
Auch das Kleinste ist einem Megalomanen genehm: Karl Corino schraubt mit einem Sammelband eigener Texte seine Musil-Bilanz auf weit mehr als dreitausend Seiten

Karl Corino - er wird im Spätherbst achtzig Jahre alt - ist ein Gigant der Musil-Forschung. Im bürgerlichen Beruf von 1970 bis 2002 Literaturredakteur des Hessischen Rundfunks, veröffentlichte er 1988 den privatgelehrten Prachtband "Robert Musil - Leben und Werk in Bildern und Texten": Panorama wie Panoptikum nicht nur einer prekären Dichterexistenz, sondern auch gleich mehrerer Geschichts- und Gesellschaftsepochen. Von Musils Lebensdaten (1880 bis 1942) äußerlich begrenzt, setzt das Werk in seinem brodelnden Inneren nicht weniger als ein opulent illustriertes Welttheater zwischen der Glanzzeit der k.-u.-k.-Monarchie und den beiden Kriegshöllen des zwanzigsten Jahrhunderts in Szene. Zudem ist es Auftakt und Vorspiel zu Corinos eigentlichem Großauftritt, seiner 2003 erschienenen und mehr als zweitausend Seiten umfassenden Musil-Biographie.

Als Autor ist Corino der nimmermüde Existenzdetektiv seiner Hauptfigur, wobei sein Spürnasen-Ethos in erster Linie nach schierer Fakten- und Ereignisfülle heischt. Zwar weicht er, wo nötig, Urteilen nicht aus, verschweigt also nicht, wie schäbig Musil etwa seine frühe Verlobte Herma Dietz im Stich ließ. Weit mehr aber geht es um das extensiv-intensive Erspüren, Suchen, Finden, Sichern und Sammeln schwerwiegender wie federleichter Biographiedetails - auch ein eingeschleppter Floh in Musils Wiener Wohnung verdient selbstverständlich Erwähnung. Keineswegs zu Unrecht übrigens, finden sich im gewaltigen Nachlass Musils doch auch Notizen zu einem "Kriegstagebuch" des lästig-listigen Tierchens, das sich selbst als "Parasit des Bluts" begreift - und in flohhafter Selbstbegeisterung hinzufügt: "Welch ein Symbol!"

Nun ist die biografische Musil-Forschung ein durchaus vermintes Gelände. Die Einwände gegen sie hat Roger Willemsen, der 2016 gestorbene Publizist, Performer und exzellente Musil-Kenner, effektvoll auf den Punkt gebracht. Zum einen, schrieb er 2004 in seiner Rezension von Corinos Biographie, sei Musils Dichterleben ganz glanzlos gewesen - warum es also minutiös auf- und nachzeichnen? Zum anderen - und dieser Einwand ist gewichtiger - führe die biografische Annäherung gerade beim Jahrhundert-, mehr noch: beim Ewigkeitsroman "Der Mann ohne Eigenschaften" (1930/32) bloß zu Kurzschlüssen der Interpretation, zudem habe Musil selbst vehement gegen den Biographismus als wissenschaftliche Methode polemisiert. Richtig ist: Karl Corino ist eher Akkumulierer als Ausleger, eher Positivist als Hermeneut. Richtig aber ist auch: Selbst ein äußerlich eher glanzloses Leben verdient, ja benötigt genaue Kenntnis, wenn ihm - und daran besteht kein Zweifel - wenigstens zwei Werke von weltliterarischem Rang abgewonnen wurden: neben dem "Mann ohne Eigenschaften" auch "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" (1906), der Internatsroman einer k.-u.-k.-Jugend als Seelen-Vivisektion terroristischer Zurichtungen. Gerade beim "Törleß" kommt auch der Biographismus zu Ehren, führt hier die Anatomie des Musil'schen Lebensstoffs - vor allem der reale Hintergrund der Romanfiguren Reiting, Beineberg, Basini und natürlich jener von Törleß selbst - zwar nicht unmittelbar, aber höchst erkenntnisfördernd bis fast ins Zentrum des literarischen Geschehens.

Halbes Jahrhundert Forschungseifer

Beim nun schon mehr als ein halbes Jahrhundert währenden Forschungseifer Corinos - 1969 reichte er in Tübingen seine naturgemäß von Musil handelnde Doktorarbeit ein - hat es nahezu von Anfang an auch eine spezifische und keineswegs immer leseleichte Nachahmung des Forschungsgegenstands gegeben, eine Art Musil-Imitatio: Wie der Meister selbst, der ein ebenso ausdauernd wie stupend reflektierender und selbstreflexiver Erzähler war, neigt auch Corino zu exzessiven sprachlichen Anhäufungen, Aufschichtungen, Ausuferungen. Dass dem Fragment gebliebenen, aber als Fragment vollendeten Riesenroman "Der Mann ohne Eigenschaften" überhaupt ein substanzielles Nachleben beschert war und blieb, verdankt sich vor allem Adolf Frisé (1910 bis 2003), dem ersten Giganten der publikumsnahen Musil-Forschung: Er hat die zu Lebzeiten des Autors gedruckten und die im Nachlass erhaltenen Kapitel und Entwürfe - in toto mehrere tausend Seiten - zumal in der zweibändigen Ausgabe von 1978 auf emphatische Weise erst zugänglich gemacht. Corinos Musil-Studien haben ihrerseits die Dreitausend-Seiten-Marke längst überschritten. Nun kommen weitere achthundert hinzu: Gerade erschienen ist ein aufs Neue üppig bebilderter Backsteinband, der "Nachträge zur Biographie und zum Werk Robert Musils" versammelt.

Es handelt sich um eine Handvoll Miszellen, um viele kleinere Aufsätze und mehrere umfangreichere Abhandlungen, die zwischen 1980 und 2020 entstanden sind und meist in Fach- oder Publikumszeitschriften sowie in Tages- und Wochenzeitungen publiziert wurden. Vierzig Texte in toto, von denen lediglich sechs jetzt erstmals im Druck erscheinen. Darunter als beiläufig-hübsche Fundsache die Identifikation von Klein-Roberts erster Kinderfrau, der Architektentochter Berta Plochberger, die den drei- bis sechsjährigen Knaben im oberösterreichischen Steyr betreut hat. Oder das von Corinos Kollegen Vojen Drlik beim Bezirksgericht im tschechischen Brünn entdeckte Dokument über die Entmündigung von Musils Vater Alfred, dem berühmten, 1924 aber in dementer Hilflosigkeit endenden Maschinenbauprofessor der dortigen Universität. Eine skurrile, dabei für den sportbegeisterten Dichter signifikante Miszelle gilt dem Bodybuilder Robert Musil, der trotz gefährlich hohem, damals nur unzureichend zu behandelndem Blutdruck noch jenseits des fünfzigsten Geburtstags "vor dem Morgenkaffee und der ersten Zigarette . . . ein straffes gymnastisches Programm" absolvierte: "Seilspringen, Liegestützen, Hantel-Arbeit."

Musil als Mussolini-Versteher

Der bedeutsamste Erstdruck ist aber gewiss der gut zehn Seiten umfassende Aufsatz über Musils Äußerungen und Ansichten zu Benito Mussolini, inklusive einer für heutige Putin-Versteher durchaus lehrreichen Kurzanalyse darüber, wie der Faschisten-Duce einst "Menschen nach seinem Willen zu zwingen, zu beugen und zu brechen" wusste. Den bereits erwähnten Hausfloh schließlich setzt Corino mit einer hinreißenden Musil-Anekdote ins beste Licht.

Es besteht kein Grund, an der fachlichen Substanz der größeren Abhandlungen zu zweifeln. Belehrend-unterhaltsam Epoche machen kann etwa der Langessay zu den "drei Leben der May Török alias Dajvidan Hanum", einer ungarischen Salonlöwin und temporären Herzens- und Haremsdame des ägyptischen Vizekönigs Abbas II. Einzig ihr drittes Leben aber transzendiert May Töröks längst verblichenen Illustriertenruhm in die Dauerstabilität großer Literatur: Sie ist, unter dem herrlichen Musil-Namen "Bonadea" (gute Göttin), die wichtigste der Geliebten von Ulrich, dem titelgebenden "Mann ohne Eigenschaften". An Bonadea - wie übrigens an allen Bewohnern des Roman-Universums - lässt sich erkennen, dass Musil die selbst von Thomas Mann nie erreichte Gabe besaß, identifizierbare Vorbilder aus dem sogenannten wirklichen Leben auf unnachahmliche Weise in wahrhafte Fiktion zu verwandeln.

Natürlich nutzte Musil dabei das ganze Arsenal des charakterisierenden Könners. Mal also ironisiert, karikiert, verspottet oder bemitleidet er sein Personal, mal idealisierte und erhöhte er es hemmungslos - aus dem kleinwüchsigen, bitterarmen, rasch alternden und schwerkranken Robert Musil wird eben Ulrich, ein großer, stattlich-vornehmer, unverwüstlich-jugendlicher, kerngesunder und überaus wohlhabender Supermann der Wiener Society am Vorabend des Ersten Weltkriegs, der sich seine lässige Luzidität in jeder Beziehung leisten kann. Auf die Idee, der Autor vergöttere sich dadurch selbst, kommt man allerdings nicht eine Sekunde lang. Musil-Figuren, heißt das, sind in und für sich so evident und über-lebens-wahr, dass ihre reale Herkunft bloß ganz beiläufig und wie reinster Zufall wirkt.

Einen seriös-positivistischen Forscher wie Karl Corino muss solche Deutung eher halbseiden anmuten. Damit lässt sich gut leben. Weniger gut akzeptieren lässt sich die unseriöse Komposition der neuen Sammlung. Für sich allein genommen, sind die meisten Aufsätze erkenntnisfördernd und damit gewinnbringend: Musil als Offizier und Redakteur zweier Soldatenzeitungen im Ersten Weltkrieg, Musil und die Musik, Musil und sein schwieriges Verhältnis zur Mutter, Musil und der Sexualmörder Christian Voigt, Musilzensur im Nationalsozialismus und anderes mehr: alles gut, vieles schön. Allein, dem dicken Band fehlt jedes Maß. Redaktionelle Sorgfalt: Fehlanzeige.

Das Zusammenspiel der vierzig Texte ist dauerdissonant, ständig wiederholen sich Namen, Fakten, Hinweise, Erklärungen, ganze Sätze, halbe Absätze, selbst Fotos werden mehrfach verwendet und gedruckt. Mal gibt es Fußnoten, mal nicht. Erklärungslos wird, etwa bei "Die Macht der Bilder", eine Abhandlung nicht etwa aus einer entlegenen Zeitschrift, sondern aus dem nach wie vor lieferbaren Prachtband von 1988 noch einmal gedruckt. Warum? Dass Corino für die Musil-Erschließungen eines halben Jahrhunderts Lob und Ehre gebühren, steht außer Frage. Dass sich vor wie nach den vierzig eigenen Texten aber zwei Laudationes aus fremder Feder finden, lässt das Ganze wie eine missratene, weil unproportionierte Festschrift erscheinen, schlimmstenfalls als ein von außen geborgtes Eigenlob des Autors.

Als Leser hat man immerhin die Wahl. Entweder nimmt man diesen Backstein-Band als geschenkten Gaul und lässt alles Weitere auf sich beruhen. Oder man schaut, nachsichtig resignierend, in den hinteren Winkel von Corinos Musilgarten, in dem gelehrtes Kraut und philologische Rüben eben einfach durcheinandersprießen. JOCHEN HIEBER

Karl Corino: "Von der Seele träumen dürfen". Nachträge zur Biographie und zum Werk Robert Musils.

Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2022. 794 S., Abb., br., 78,- Euro.

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