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Die Jahre von 1900 bis ca.1940 wurden durch eine Generation von glänzenden Dichtern, Pädagogen, Komponisten, Philosophen, Tänzern, Schriftstellern und Politikern geprägt, die ihre Zeit als Übergang erlebten und eine mit revolutionären und religiösen Erwartungen erfüllte Endzeit herbeisehnten. Dazu gehörte auch die radikale Ablehnung der Weimarer Republik, die teilweise in den Vorhöfen (und in den Lagern) von Faschismus, Nationalsozialismus und sowjetischem Kommunismus endete.
Antonia Grunenberg stellt Walter Benjamin als den kühnsten europäischen Denker seiner Zeit in den Mittelpunkt ihres
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Produktbeschreibung
Die Jahre von 1900 bis ca.1940 wurden durch eine Generation von glänzenden Dichtern, Pädagogen, Komponisten, Philosophen, Tänzern, Schriftstellern und Politikern geprägt, die ihre Zeit als Übergang erlebten und eine mit revolutionären und religiösen Erwartungen erfüllte Endzeit herbeisehnten. Dazu gehörte auch die radikale Ablehnung der Weimarer Republik, die teilweise in den Vorhöfen (und in den Lagern) von Faschismus, Nationalsozialismus und sowjetischem Kommunismus endete.

Antonia Grunenberg stellt Walter Benjamin als den kühnsten europäischen Denker seiner Zeit in den Mittelpunkt ihres Buches und entfaltet von ihm aus das Drama der deutschen Intelligenz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

"Ein abenteuerliches Unterfangen, ein Drahtseilakt im Angesicht der totalitären Versuchung. Es war das großartige Denken einer Generation, als deren Leuchtgestalt Walter Benjamin herausragt. Es trug sein Scheitern in sich - und beunruhigt uns immer noch und immer wieder." Antonia Grunenberg
Autorenporträt
Antonia Grunenberg, geb. 1944, em. Professorin für Politikwissenschaft mit den Schwerpunkten Politische Theorie und Politische Kultur. Leiterin des Hannah Arendt-Zentrums und Archivs an der Universität Oldenburg, zahlreiche Veröffentlichungen zur politischen Theorie und politischen Kultur, Erschließung des Gesamtwerkes von Hannah Arendt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.01.2019

Regieanweisungen zur Tragödie einer Epoche
Zwischen Fingerspitzengefühl und Spekulation: Antonia Grunenberg sichtet das Leben der Intelligenz, die um den Fixstern Walter Benjamin kreiste

Er sei, so Jürgen Habermas über Walter Benjamin, ein "unübersichtlicher Autor", an dessen Werk keine "unbilligen Konsistenzanforderungen" gestellt werden dürften. Dennoch - oder gerade deshalb? - ist eine Bibliothek von Interpretationen über Leben und Werk dieses Unfassbaren entstanden, worüber den Überblick zu behalten eine schier unlösbare Aufgabe für seine Biographen darstellt. 1984 zählte Momme Brodersen für seine Benjamin-Biographie bereits 1800 Titel, die er abzuarbeiten gehabt habe. Auf welche Höhe mag mittlerweile diese Zahl angestiegen sein!

Die gründlichen und verehrenden Vorarbeiten sind Hilfe und Last zugleich für jeden, der erneut - und warum überhaupt erneut? - eine Biographie Walter Benjamins versucht. Noch schwerer hat es, wer, wie Antonia Grunenberg, den "unübersichtlichen Autor" zum Mittelpunkt einer Epoche macht, um an seinem Beispiel, an dem seiner Freunde und Kontrahenten, "Aufstieg und Fall der Intelligenz" in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts darzustellen. Und doch ist Antonia Grunenberg dies Kunststück gelungen, wenngleich nicht unbedingt zum Glück des Lesers.

Die Politikwissenschaftlerin hält sich bei ihrer Darstellung der Benjamin-Ära strikt an Chronologie und Fakten. Wissenschaftliche Strenge mit Anschaulichkeit zu verbinden ist trotzdem bei einem Autor wie Walter Benjamin nicht schwer. Nur wenige Schriftsteller haben so viele Nachrichten über sich und die Umstände ihres Daseins hinterlassen wie er; noch seltener haben sie ihre Erfahrungen in eine solch faszinierende sprachliche Form gebracht. Der Reiz, über Benjamin zu schreiben, geht nicht zuletzt von den Zitaten aus, mit deren Hilfe die Verfasser ihre wissenschaftlichen Texte mit den Intarsien eines poetischen Stils anreichern können.

Auch Grunenberg nutzt diese Chance weidlich. Sie beginnt mit den für die Biographie obligatorischen Kapiteln über die Kindheit und siedelt diese im Ambiente der Bourgeoisie an, wie sie Benjamin selbst beschrieben hat. Die Anschaulichkeit ihrer Beschreibung bezieht sie aus Benjamins "Berliner Kindheit" und "Berliner Chronik". Schon hier aber unterläuft Grunenberg eine Verwechselung, zu der Benjamins Schriften die Biographen verführen: Was er in Poesie verwandelte, halten sie für Realität. Benjamins "Berliner Kindheit" ist die Idee von den sinnlichen Erfahrungen in der Großstadt, in die sich die Leser dieser Aufzeichnungen verlieben. Auch die Biographen verfallen dem Irrtum, diese seine Darstellung bilde seine wirklichen Erlebnisse ab und diese wiederum ergäben ein zuverlässiges Porträt der Zeit.

Nach dieser Eröffnung, die ins Milieu des Berliner Bürgertums um 1900 führt, geht Grunenberg Schritt für Schritt das Leben Benjamins durch, seine Freiburger Studienzeit, den Aufbau eines Freundeskreises, die Begegnung mit Gershom Scholem, erste Beschäftigungen mit Baudelaire und Hölderlin, die Entdeckung der Zahlenmystik durch den jungen Schriftsteller, seine gescheiterte Habilitation. Die Aufzählung dieser Stadien und aller Personen, die Benjamin in den Phasen seines Lebens umkreisen, ist vollständig, aber gerade darin verrät sich eine Angst vor der Lücke.

Grunenberg umstellt das bemerkenswerte Leben Benjamins, das sich leicht als Symptom und Symbol für die Zeiterscheinungen nutzen und deuten lässt, mit den Klein-Biographien all jener, die ihm näher oder ferner standen. Diese Methode aber, die so gewissenhaft und wissenschaftlich korrekt wie mechanisch ist, provoziert die Frage, ob solche Unterrichtung des Lesers im Zeitalter der elektronischen Medien und ihrer Informationsquellen überhaupt noch notwendig sei, ob sie nicht ein Buch belaste, die Lektürezeit dehne und den Leser ermüde? Faktenorientierte Kurzmeldungen vom Leben einer bedeutenden Person braucht es heute nicht mehr. Wikipedia weiß schon genug und fordert gerade deshalb den Kenner und Fachmann zu eigenen Gedanken und Interpretationen heraus. Die Chance aber einer kritischen Darstellung aus eigener Perspektive verscherzt Grunenberg.

Lorenz Jäger nannte in seiner erst vor einem Jahr erschienenen Benjamin-Biographie die "Fingerspitzen" die sensiblen Beobachter, mit denen Benjamin die Welt ertastet, als "Szene", auf der er sich ein Welttheater erdichtet. Akzeptiert man diese Metapher, so erscheint Benjamin als ein Schriftsteller, dem der Gedanke aus der Hand ins Hirn und von den Fingern in den Geist steigt, als ein Autor also, der, so Jäger, Wirklichkeiten wie Texten gegenüber "äußerste Treue" wahrt und dies mit "äußerster Lässigkeit dem Sinn gegenüber verbindet". Diese Spannung zwischen Fingerspitzengefühl und Spekulation, zwischen Sensibilität und Provokation, hellwacher Rezeption und scharfsinnigem Urteil wäre erst zu analysieren, um den Charme von Benjamins Schriften und deren Faszination auf die Biographen zu erklären.

Grunenberg kennt und begreift allerdings diesen "noblen Außenseiter": "Dem buchhalterischen Sammler von Zitaten und Gedanken", so schreibt sie, "steht der ausgreifende Arrangeur zur Seite, der Gedanken wie Marionetten gegeneinander führt. Dem wiederum tritt der Kritiker als ,Stratege im Literaturkampf' entgegen, der die Fundstücke seiner assoziativen Streifzüge wie ein Meisterkoch eindampft, auf dass sie eine kristalline Gestalt annähmen". Diese an Metaphern reiche Beschreibung macht aber den Wirbel der Wahrnehmungen, die sich in Benjamins Texten niederschlagen, und das Geheimnis seines Stils kaum sichtbar.

Als "Götterdämmerung" diagnostiziert Grunenberg - in Anlehnung an Wolfgang Schivelbuschs "Intellektuellendämmerung", ein Buch über das Frankfurt zu Zeiten Benjamins - die Epoche, in der sich die Intellektuellen mit dem Nationalsozialismus konfrontiert sahen. "Götter" waren diese Intellektuellen aber auch damals nicht. Immer sind sie Abenteurer gewesen, die sich mit Witz und Geist gegen die feindliche Umwelt, auch gegen diesen feindlichen Staat stellten. Der Untergang dieser hilflosen "Götter" ist eine Tragödie des Geistes. Tatsachen allein können sie nicht fassen. Fakten, die das Buch überreich bietet, könnten vielleicht wie eine Art Zeit- und Ortsbeschreibung gelesen werden, die man kennen muss, ehe man überhaupt erst den Untergang der Genies und ihren schicksalhaften Auftritt zu begreifen beginnt.

Zuverlässiger, vollständiger als Antonia Grunenberg kann man diese Regieanweisungen zur Tragödie der Epoche nicht geben - doch begänne damit erst das bewegte Spiel der Figuren, ihres Geistes, ihrer Fingerspitzen.

HANNELORE SCHLAFFER

Antonia Grunenberg: "Götterdämmerung". Aufstieg und Fall der deutschen Intelligenz

1900-1940.

Herder Verlag, Freiburg 2018. 611 S., geb., 40,- [Euro].

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