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»Mir war schon immer klar, dass meine Mutter verrückt ist.«
Muss man seine Familie lieben? Eine intrigante Mutter, die ihren Sohn bei ihren Eltern abgibt, um im Ausland das Scheitern ihrer Ehe zu verwinden; ein geiziger Stiefvater mit einem geheimen Nummernkonto in der Schweiz; ein nur »Erzeuger« genannter biologischer Vater samt osteuropäischer Geliebter; eine Tante mit legendärem Männerverschleiß; ein verkappt homosexueller Onkel; ein patriarchaler Großvater - und mittendrin: Hervé Le Tellier, der Erzähler, der erschreckt feststellt, dass er für alle diese Komödianten seiner eigenen Familie nichts empfinden kann. …mehr

Produktbeschreibung
»Mir war schon immer klar, dass meine Mutter verrückt ist.«

Muss man seine Familie lieben? Eine intrigante Mutter, die ihren Sohn bei ihren Eltern abgibt, um im Ausland das Scheitern ihrer Ehe zu verwinden; ein geiziger Stiefvater mit einem geheimen Nummernkonto in der Schweiz; ein nur »Erzeuger« genannter biologischer Vater samt osteuropäischer Geliebter; eine Tante mit legendärem Männerverschleiß; ein verkappt homosexueller Onkel; ein patriarchaler Großvater - und mittendrin: Hervé Le Tellier, der Erzähler, der erschreckt feststellt, dass er für alle diese Komödianten seiner eigenen Familie nichts empfinden kann.
Autorenporträt
Hervé Le Tellier wurde 1957 in Paris geboren. Er veröffentlichte zahlreiche originelle Bücher, Romane, Erzählungen, Gedichte und Kolumnen. Seit 1992 ist er Mitglied der Autorengruppe OuLiPo (Ouvroir de Littérature Potentielle), die von François Le Lionnais und Raymond Queneau gegründet wurde und der Autoren wie Georges Perec, Italo Calvino oder auch Oskar Pastior angehörten. Er lebt in Paris.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.11.2018

Mit den Kugelschreibern kamen die Tränen

Eine französische Mentalitätsgeschichte der vergangenen siebzig Jahre: Hervé Le Telliers leichtfüßiger Roman "All die glücklichen Familien".

Muss man seine eigene Sippe gernhaben? Oder sind diejenigen mit einer schwierigen Kindheit womöglich besser für das Leben gewappnet? Der französische Journalist und Autor Hervé Le Tellier geht diesen Fragen in seinem Roman "All die glücklichen Familien" nach. Gutgelaunt lehnt er sich gegen die "verdammte Pflicht" auf, seine Eltern zu lieben, "ganz gleich, ob diese gut oder böse, intelligent oder idiotisch, in einem Wort: liebenswert sind oder nicht".

Hervé Le Tellier, der als Mitglied der 1960 gegründeten "Werkstatt für potentielle Literatur" eigentlich die Beschränkung auf eine sprachliche oder formale Methode kultiviert, literarisiert in seinem neuen Roman ganz ungezwungen, oft ironisch, nie hämisch, mal wütend, mal nachdenklich den Fehler im System Familie. Er will sich in keine Ahnengalerie einsortieren. "Ich habe mich entschieden, nichts zu sein" - das muss man bei diesem Autor als existentialistisches Bekenntnis zur Freiheit verstehen.

Autobiographische Erinnerungsbücher über die eigene - schwierige - Kindheit haben derzeit Konjunktur in Frankreich. Jenseits der gesellschaftspessimistischen Perspektiven bei Didier Eribon, Edouard Louis oder dem aktuellen Goncourt-Preisträger Nicolas Mathieu präsentiert Hervé Le Tellier eine leichtfüßige, bitter-ironische und dennoch kompromisslos dem Leben zugewandte Familienchronik. Und anders als die etwas larmoyante Anklage seines Kollegen Sorj Chalandon, dessen Roman "Mein fremder Vater" 2017 im selben Verlag wie "All die glücklichen Familien" auf Deutsch erschien, gerät Hervé Le Telliers autobiographisch inspiriertes Buch nicht zur Abrechnung, sondern erzählt in einer tatsächlich romanesk anmutenden Geschichte, wie er sich von seiner Familie lossagt und sein Glück findet.

"Ich wusste immer schon, dass meine Mutter verrückt war", bekennt der französische Schriftsteller gleich zu Beginn. Sein leiblicher Vater verlässt 1957 mit gerade einmal zweiundzwanzig Jahren und wenige Monate nach der Geburt des Sohnes die Familie für eine andere Frau. "Mein Vater hatte keinerlei väterliche Ader", stellt Hervé Le Tellier fest und kommentiert trocken, dass er selbst "zweifellos zum ungünstigsten Zeitpunkt" zur Welt gekommen sei. Ranküne klingt anders.

Das chaotische Liebesleben seines Erzeugers, dessen neue Frau schließlich mit dem Notar durchbrennt, der zuvor ihren Ehevertrag aufgesetzt hatte, erzählt er mit einer urkomischen Verve, die an die absurden Szenerien eines Jacques Tati erinnert. Sein Stiefvater wiederum, ein talentloser Englischlehrer, der mit seiner Mutter "den seltenen Fall eines symbiotischen Paares ohne Liebe" bildet, ermöglicht es seiner Frau nur aufgrund einer unverhofften Erbschaft, ihrer zentralen gesellschaftlichen Aktivität nachzugehen: den Schein zu wahren.

Hervé Le Tellier zeichnet mit hintersinnigem Humor in geistreich plaudernden Kapiteln ebenso eingängige wie lebendige Personenporträts. Zugleich eröffnet er Einblicke in die französische Gesellschafts- und Mentalitätsgeschichte der letzten siebzig Jahre. Das beginnt bei seinem Großvater mütterlicherseits, dem "einzigen festen Sockel" seiner Kindheit. Nach dem Krieg brachte es dieser "Held, der stets so sanft lächelte", als Ingenieur bei Citroën zu gesellschaftlicher Anerkennung, betrog seine Frau Amélie unaufhörlich und erging sich im Zuge des Algerien-Kriegs in offener Verachtung der Nordafrikaner, dieser "Bauern, die zu den Händen Frankreichs" geworden waren. Auch aus dem anderen Familienzweig, den Le Telliers, dräut Unheil. Die Eltern seines aristokratischen Stiefvaters lehnten dessen Verbindung mit einer geschiedenen Bürgerlichen strikt ab. Als Produzenten von Füllfederhaltern verloren sie aber selbst rasant an Rang und Ansehen, nachdem das französische Bildungsministerium im Jahr 1965 den Gebrauch von Kugelschreibern an Schulen gestattete.

Hervé Le Telliers früher Eindruck, dass mit seiner Familie "etwas nicht stimmte", gilt auch und vor allem für seine im Jahr 1929 geborene Mutter. Mit dreizehn Jahren wurde sie nachweislich Zeugin der Kollaboration und Massendeportation der französische Juden, will sich aber partout nicht daran erinnern, sondern kultiviert stattdessen bis heute antijüdische Klischees und schimpft auf ihre Schwester, "diese Nutte", die sich damals mit einem amerikanischen Soldaten einließ. Es ist diese Mutter, die Le Tellier als Säugling bei den Großeltern zurückließ, mit deren Angstattacken, Wutausbrüchen und "Unfähigkeit zu lieben" er aufwuchs, die ihm schließlich zur Flucht aus dem Familienjoch treibt.

Es seien die Risse in seiner Persönlichkeit, durch die das echte Leben in ihn eingedrungen sei, heißt es in einer schönen Formulierung Le Telliers. Erst gegen Ende seines Romans weicht sein fein ironisch-tänzelnder Ton dann zunehmend einer nachdenklichen Selbstreflexion. Den Abschiedsbrief an seine Mutter, in dem er ihr seine intimsten Gefühle offenbart, liest man etwas ratlos, weil er genau das zu widerlegen scheint, was der Autor zuvor so locker und scheinbar abgeklärt über sich und seine Vergangenheit preisgegeben hat. Dennoch gelingt es ihm, seine Jugend als "kleiner, weißer, katholischer, in Paris geborener Junge ohne jede Exotik" so zu erzählen, dass daraus eine eindringliche Geschichte darüber wird, wie einer nach dem Ausbruch aus dem Gefängnis Familie seine Lebenslust entdeckt.

Unglückliche Familien bieten eben den besseren literarischen Stoff, zumindest in diesem Sinne hatte Tolstoi Recht. Hervé Le Tellier hat darüber einen Roman geschrieben, der das Lebensthema Familie sehr charmant vom Kopf auf die Füße stellt.

CORNELIUS WÜLLENKEMPER

Hervé Le Tellier: "All die glücklichen Familien".

Roman.

Aus dem Französischen von Jürgen und Romy Ritte. dtv Verlag, München 2018. 186 S., geb., 20,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Der Roman ist immer unterhaltsam, hochinteressant und an vielen Stellen urkomisch. Katja Buchholz ekz Bibliotheksservice 20181126