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Über Stereotype und gelebte Erfahrungen: Was es bedeutet, im 21. Jahrhundert jüdisch zu sein.Sander L. Gilman wurde mit seinem Buch über den jüdischen Selbsthass berühmt. In der aktuellen Essay-Sammlung blickt er aus einer sehr persönlichen Perspektive auf Fragen jüdischer Identität in Vergangenheit und Gegenwart. Angefangen vom jüdischen Humor über das Verhältnis des Judentums zum Alkohol bis hin zu aktuellen Vorwürfen, orthodoxe Jüdinnen und Juden seien mitverantwortlich für den Ausbruch des Covid-19-Virus. Dabei wird stets deutlich, dass es »das Jüdische an sich« nicht gibt, sondern es…mehr

Produktbeschreibung
Über Stereotype und gelebte Erfahrungen: Was es bedeutet, im 21. Jahrhundert jüdisch zu sein.Sander L. Gilman wurde mit seinem Buch über den jüdischen Selbsthass berühmt. In der aktuellen Essay-Sammlung blickt er aus einer sehr persönlichen Perspektive auf Fragen jüdischer Identität in Vergangenheit und Gegenwart. Angefangen vom jüdischen Humor über das Verhältnis des Judentums zum Alkohol bis hin zu aktuellen Vorwürfen, orthodoxe Jüdinnen und Juden seien mitverantwortlich für den Ausbruch des Covid-19-Virus. Dabei wird stets deutlich, dass es »das Jüdische an sich« nicht gibt, sondern es untrennbar verbunden ist mit Phantasien und Stereotypen, die seit jeher kursieren. Es scheint unmöglich zu sein, nicht mit der eigenen jüdischen Zugehörigkeit konfrontiert zu werden - ein Phänomen, das Sander Gilman als ein »Leben im Judenkreis« bezeichnet.
Autorenporträt
Sander L. Gilman, geb. 1944 in New York, ist Germanist und Historiker. Er hatte Lehraufträge an verschiedenen Universitäten inne; seit 2005 ist er Professor für Liberal Arts and Sciences an der Emory University, Atlanta. Veröffentlichungen u.a.: The Oxford Handbook of Music and Body (Mithg., 2019); Jüdischer Selbsthass. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden (1993).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.08.2022

Gegen die Macht einer Phantasmagorie, die keine Grenzen kennt
Wogegen nur die Beschreibung von Wirklichkeiten hilft: Sander L. Gilman über Stereotype und Imaginationen des Jüdischen

"Tausendmale habe ich es erfahren, und doch bleibt es mir ewig neu. Die Einen werfen mir vor, daß ich ein Jude sey; die Andern verzeihen mir es; der Dritte lobt mich gar darfür; aber Alle denken daran. Sie sind wie gebannt in diesem magischen Judenkreise, es kann keiner hinaus."

In Sander L. Gilmans neuem Buch bekommen die Sätze Ludwig Börnes eine gänzlich neue Bedeutung. Bei dem Germanisten und Historiker werden die erstmals 1833 in Offenbach publizierten "Mittheilungen aus dem Gebiete der Länder- und Völkerkunde" zunächst zum Ausgangspunkt einer Frage: Was geschieht, wenn Einzelne oder Gruppen eine Erfahrung analysieren, von der sie glauben, sie ließe sich ohne den Einbezug von Jüdinnen, Juden oder Jüdischem nicht verstehen, das Widerfahrene nicht meistern? Die Phantasien suchen, sobald der "magische Judenkreis" betreten ist, nach rationalen Erklärungsmustern, die Imagination greift auf historische Ereignisse zurück, erblickt immer mehr Zusammenhänge, die unausweichlich zu dem zurückführen, der von Anfang an verantwortlich war: zum Juden. Was als Obsession begann, wird pathologisch, greift um sich, sucht nach Verständnis und Verstärkung in der Umwelt, die dauernde Erregung verlangt nach Handlung, das Wissen muss zur Tat werden.

Wer all dies für ein plausibles Muster hält, um mittelalterliche Pogrome, die fatale Rückseite des aufklärerischen Emanzipationsversprechens oder die Entwicklungsdynamik hin zum Holocaust zu begreifen, der liegt nicht falsch. Die Schaffung von "Randfiguren", etwa Schwarzen, Zigeunern, Juden und Frauen, ihre Besetzung mit den Ängsten der Ausschließenden, die in der Folge für das Unglück der Mehrheitsgesellschaft verantwortlich gemacht werden, weil die angeblich zuvor bestandene Einheit und Reinheit der eigenen Gruppe wiederhergestellt werden muss, es war diese sich kontinuierlich steigernde Gewaltgeschichte, die Gilman erstmals 1981 systematisierte und fortan zum Mittelpunkt seiner Forschungen machte.

Doch bloß historisch ist daran nichts. Wer die umfängliche Analyse zur Stigmatisierung orthodoxer Gruppen und ihrer Rolle während der ersten Covid-19-Wellen in den Vereinigten Staaten liest, dem wird die Wirkmächtigkeit des "magischen Judenkreises" auf ebenso detaillierte wie dramatische Weise vor Augen geführt. Doch damit ist nur ein Teil von Gilmans Analysen benannt. Pathologisierungen machen vor ihren Opfern nicht halt. Und so lassen sich die gleichen Mechanismen innerhalb der Gruppen finden, die in den Vereinigten Staaten, aber auch in Israel für die Ausbreitung des Virus verantwortlich gemacht wurden. Doch die vermeintliche Parallelität ist tatsächlich eine weitere Drehung innerhalb von außen oktroyierter Verschwörungstheorien und ihrem "bösen Zauber" (Börne). Gilman vergisst nie, wer Opfer, wer Täter ist; vielmehr belegt er so die Macht einer Phantasmagorie, die keine Grenzen kennt und am Ende jene zu bestätigen scheint, die sie ausgelöst haben. Der Kreis um "den Juden" schließt sich und damit auch alle ein, die ihn betraten.

Das Börne-Zitat hat noch eine weitere Funktion. Wie kann es gelingen, sich im "Judenkreise" aufzuhalten, ohne in die geschilderten Abgründe zu geraten? Gilman antwortet darauf mit seiner intellektuellen Biographie, von der man nur hoffen kann, dass er sie zu einem ganzen Buch ausweiten wird. Der 1944 in New York Geborene beginnt mit einer Szene am Frankfurter Hauptbahnhof. 1965 ist er erstmals in Deutschland, isst Bratwürste und fühlt sich allein. Das Gefühl beherrscht ihn nicht, sondern löst Neugier aus. Es folgen München, Berlin und weitere Stationen. Jede Erfahrung, mit deutschen Kollegen, der aus Deutschland stammenden Ehefrau und der gegründeten Familie, wird in das Gesamt der Gilman antreibenden Fragen eingewoben.

Die vermeintlich konventionelle Aufstiegs- und Bildungsgeschichte, stets begleitet von der in Fußnoten dokumentierten, über neunzig Bücher umfassenden Werkentwicklung, wird zu einem Lehrstück produktiver Selbstkritik. Bis in die jüngste Gegenwart führt Gilman, lässt dabei teilhaben an Erfolgen und Niederlagen, immer geleitet von der Idee, dass in der eigenen Geschichte sich etwas Beispielhaftes zeigt. Die Selbstkritik ruht auf einem starken, stets offenen Selbst, die Kritik ist der Motor, der jede Antwort zur Frage werden lässt, um die jeweilige Gegenwart aus sich heraus und nicht ausschließlich als Ergebnis historischer Bedingungen zu begreifen. Gilman ersetzt auf diese Weise das immer schon entstellte, weil mal als magisch, mal als faszinierend-abschreckend manipulierte Konstrukt namens Judentum durch dessen Wirklichkeiten und ihre Ausformungen, öffnet dabei Wissensräume und bietet zahlreiche Beispiele gelungenen Lebens im "Judenkreise".

Damit endet das Buch nicht. Vielmehr wird der Lehrstückcharakter der Autobiographie erst dann ganz verständlich, wenn man den letzten, den kürzesten und zugleich komplexesten Text gelesen hat. Vordergründig handelt es sich um eine Meditation über das Warten als das eigentliche Schicksal des praktizierenden Juden Sander L. Gilman. Ein tätiges Warten, keines, das bloß hinnimmt und sich dem Kommenden ergibt, vielmehr eines, das den gewährten Aufschub vor dem Tod zu formen fest entschlossen ist.

Dass Gilman hier auch Heideggers Überlegungen einbezieht, ist für den selbstkritischen Autor nur natürlich, weil erkenntniserschließend. Verbunden wird solches Warten mit der Bindung des Isaak. Die Geschichte und ihre Rezeption haben die beiden Knechte zu Randfiguren gemacht, dabei werden sie vom Erzähler gleich nach Abraham genannt, noch vor Isaak. Aber sie müssen warten, während sich auf dem von Gott verheißenen Berg die dramatische Geschichte abspielt. Schließlich gehen die Knechte gemeinsam mit Abraham hinab. Isaak hingegen bleibt verschwunden. Nur ein Midrasch erzählt, er sei in ein Lehrhaus des Schem gegangen. Man kann Gilman so verstehen, dass es die Wartenden sind, die wissen, die aus ihrem Tätigsein ihre Erfahrungen schöpfen - und so kehren sie in die Mitte der Geschichte zurück.

Gilmans Buch gehört in diesen Tagen noch in eine andere Geschichte, die einem nach der Lektüre bekannt vorkommt. Es ist Geschichte der antisemitischen Bilder bei der Documenta 15 und des Wartens, das bis heute kein Tätigsein ist, ein Hineinbegeben in die "magischen Judenkreise" und die daraus folgenden Pathologisierungen. Es ist in diesem Land vor allem diese Geschichte, die Gilmans Buch zur Pflichtlektüre macht. THOMAS MEYER

Sander L. Gilman: "Gebannt in diesem magischen Judenkreis". Essays.

Aus dem Englischen von Thomas Stauder. Wallstein Verlag, Göttingen 2022. 296 S., Abb., geb., 20,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Thomas Meyer hält die Essays von Sander L. Gilman für eine "Pflichtlektüre". Nicht nur, weil sich bei der Lektüre die historischen Muster des Judenhasses erschließen, sondern auch, weil die aktuellen Erscheinungsformen davon berührt werden - wie der Vorwurf, Juden seien Schuld an der Verbreitung des Coronavirus oder die antisemitischen Vorfälle auf der Documenta 15. Vor allem aber gefällt dem Rezensent, wie der Autor eigene Erfahrung und deren Reflexion in seinen Texten verarbeitet. Er hält sie für ein "Lehrstück produktiver Selbstkritik", bei dem das Persönliche nicht nur auf etwas Allgemeines verweist, sondern diese gelebte Wirklichkeit auch antisemitischen Konstruktionen gegenübergestellt wird.

© Perlentaucher Medien GmbH