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"Briefe an Dich" sind die Erinnerungen der letzten Zeitzeugin des "russischen Berlins" der zwanziger Jahre. In einer Mischung aus Tagebuch und Briefen schildert Vera Lourié ihre Kindheit und Jugend in St. Petersburg, wo sie behütet aufwuchs und sich als junge Frau der Schauspiel- und Dichtkunst zuwandte. Sie erzählt von der dramatischen Flucht der Familie nach der Oktoberrevolution ebenso anschaulich wie von den russischen Kreisen in Berlin. Hier verkehrte sie in einer Bohème aus Künstlern und Literaten, erlebte Intrigen und Liebesaffären. Die Zeit des Nationalsozialismus überlebte sie trotz…mehr

Produktbeschreibung
"Briefe an Dich" sind die Erinnerungen der letzten Zeitzeugin des "russischen Berlins" der zwanziger Jahre. In einer Mischung aus Tagebuch und Briefen schildert Vera Lourié ihre Kindheit und Jugend in St. Petersburg, wo sie behütet aufwuchs und sich als junge Frau der Schauspiel- und Dichtkunst zuwandte. Sie erzählt von der dramatischen Flucht der Familie nach der Oktoberrevolution ebenso anschaulich wie von den russischen Kreisen in Berlin. Hier verkehrte sie in einer Bohème aus Künstlern und Literaten, erlebte Intrigen und Liebesaffären.
Die Zeit des Nationalsozialismus überlebte sie trotz Kontakten zum deutschen Widerstand, der Festnahme durch die Gestapo und der Inhaftierung ihrer Mutter im KZ Theresienstadt. Ihre beherzte Geistesgegenwart kam ihr auch zugute, als die sowjetische Armee einmarschierte, die den bürgerlichen russischen Flüchtlingen feindlich gesonnen war. Sie überstand Not und Hunger der Nachkriegszeit und war dann lange vergessen, bis sie als Literatin und Zeitzeugin wiederentdeckt wurde und sich im hohen Alter noch einmal verliebte. Dies beflügelte sie zur Niederschrift ihrer Memoiren, die hier, um autobiographische Texte, Dokumente und Fotos aus dem Nachlass ergänzt, erstmals vollständig veröffentlicht werden.
Autorenporträt
Vera Lourié, 1901 in St. Petersburg geboren, gehörte einer Dichtergruppe um Nikolaj Gumiljow an und floh mit ihrer Familie 1921 nach Berlin. Sie überlebte dort den Nationalsozialismus, den Krieg und den Einmarsch der Roten Armee. In den 80er Jahren wurde sie erstmals als Zeitzeugin befragt und ein Band mit ihren Gedichten publiziert. Vera Lourié starb 1998. Doris Liebermann, 1953 in Thüringen geboren, lebt seit 1977 in West-Berlin. Sie studierte Osteuropäische Geschichte und Slavistik und arbeitet als Autorin für Funk, Fernsehen und Printmedien. Anfang der 80er Jahre lernte sie Vera Lourié kennen, mit der sie Interviews für Radiosendungen und für einen Film über das russische Berlin der zwanziger Jahre führte.
Rezensionen
"In Vera Louriés Erinnerungen leuchtet noch einmal die russische Moderne auf - ein kostbares Geschenk!" -- Olga Martynova, Bachmann-Preisträgerin 2012

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.07.2014

Ohne Rücksicht auf Verluste
Unheimlicher Lebensbericht: Wie die Russin Vera Lourié alle Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts überstand - frei von jeglichem Selbstzweifel

Man stelle sich vor, eine Dame, etwas mehr als achtzig Jahre alt, verliebt sich in eine jüngere Frau und schreibt ihr Briefe. In ihnen geht es, da die Liebe unerwidert bleibt, um das, worum es in solchen Fällen meistens geht, das Alter scheint keine Linderung zu verschaffen: "Kann man denn die Sehnsucht mit Pillen bekämpfen? Warum gibt es keine Fee, die einem armen Sünder drei Wünsche erfüllt", schreibt Vera Lourié und würde ihre Leser mit diesen Fragen bald außerordentlich langweilen - wenn sie nicht die Kraft, die ihr die neue, späte Liebe schenkt, für eine Erinnerung nutzen würde, die sie sechzig Jahre zurückführt.

In den "Briefen an Dich" ist das gegenwärtige Leid immer der Ausgangspunkt für eine Reise in die Vergangenheit, deren Ereignisreichtum in groteskem Gegensatz zur Monotonie der Liebeslitanei steht. Vera Lourié wurde 1901 in Sankt Petersburg geboren und erlebte eine wohlbehütete, etwas eingeengte Kindheit in reichem Haus. Nach der Revolution emigrierte sie 1921 mit ihrer Familie nach Deutschland und verbrachte ihr gesamtes Leben in Berlin, wo sie, völlig verarmt, 1998 starb.

"Erinnerungen an das russische Berlin" lautet denn auch der Untertitel ihrer nun erschienenen Briefe, von der Journalistin und Slawistin Doris Liebermann sorgsam ediert. Liebermann hatte Lourié schon in den achtziger Jahren ein paar Mal besucht und interviewt. Als Zeitzeugin entdeckt worden war Lourié aber schon zuvor von dem amerikanischen Slawisten Thomas R. Beyer, der das 1987 veröffentlichte Überblickswerk "Russische Autoren und Verlage in Berlin nach dem Ersten Weltkrieg" mitherausgegeben hat.

Über diese Entdeckung hat sich Lourié zweifelsohne gefreut, und man darf annehmen, dass das späte Interesse einen entscheidenden Anteil an dem Entschluss hatte, ihre Erinnerungen doch noch zu Papier zu bringen. Interessanter als ihre eigenen schriftstellerischen Arbeiten, von denen einige kürzere Texte dem Band hinzugefügt wurden, sind tatsächlich die Anekdoten, die sie aus ihrer Zeit als junge Frau in Berlin zu berichten weiß: Mit dem russischen Symbolisten Andrej Belyj etwa tanzte sie in einem Café am Viktoria-Luise-Platz "zu den Rhythmen von One-Step und Shimmy einen von ihm selbst erfundenen Tanz, der nicht die geringste Ähnlichkeit mit den Modetänzen hatte, das Publikum aber so begeisterte, dass ich Blumen geschenkt bekam".

In der großen Gemeinde russischer Emigranten traf sie zudem mit dem Schriftsteller Ilja Ehrenburg, dem Kunstsammler Lasar Mejerson und dem Maler Iwan Puni zusammen, der, wie Lourié schreibt, "obgleich verheiratet, wenig Interesse an Frauen" hatte. Diese letzte, lapidare Bemerkung ist indes nicht nur wegen des Stils typisch für Lourié. Es fällt überhaupt auf, dass sie sich weit weniger an die inhaltlichen Debatten der russischen Bohème jener Tage erinnert, umso mehr aber daran, wer mit wem gerade welchen Ehepartner betrog. Da überrascht es nicht, dass sie ausführlich von ihrer Liaison mit dem russisch-jüdischen Rechtsanwalt Alexander Posnjakow berichtet. Erstaunlich ist gleichwohl, mit welcher Naivität sie auf die Umstände seines Todes blickt. Denn Posnjakow war mit einer Deutschen verheiratet, die ihren Mann wiederum mit einem anderen hinterging.

Als Lourié sich von Posnjakow einmal schlecht behandelt fühlte, erzählte sie ihm davon. In der Folge stritten und trennten sich die Eheleute, und die verärgerte Gattin verriet ihren Mann, der einen falschen luxemburgischen Pass besaß, bei der Gestapo. "Meine Rache war gemein", schreibt Lourié nun, "und ich trage teilweise die Schuld daran, dass Posnjakow später im KZ Dachau umgebracht wurde." Nicht nur an dieser Begebenheit lässt sich beobachten, wie Louriés Lakonie immer stärker in eine geradezu ärgerliche Ignoranz kippt, je mehr sie sich zeitlich dem Nationalsozialismus nähert. Als Halbjüdin - ihre Mutter war jüdischer Herkunft und überlebte das KZ Theresienstadt - gelang es ihr, den Krieg in Berlin unbeschadet zu überstehen. Auch nach der Kapitulation, als russische Soldaten in den Luftschutzkeller ihres Hauses traten und sie, weil sie Russisch sprach, von den Nachbarn nach vorne geschoben wurde, konnte sie an den Soldaten vorbei in ihre Wohnung zurückkehren. Das aber, was danach in dem Keller geschah, beschreibt sie nur mit einem einzigen Satz: "Ich nahm die schwangere Hauswartsfrau und ihren dreijährigen Sohn mit hinauf. Im Keller fanden Massenvergewaltigungen statt."

Schließlich verleitet sie ihre (gefährliche) Tätigkeit als Schwarzhändlerin von Lebensmitteln, mit der sie sich nach dem Krieg über Wasser hielt, zu der Einschätzung: "Es ging uns wirklich gut. Ich war dick und rund, eine richtige Reklame für die Besatzer." Dass es anderen weniger gut erging, ist ihr zwar durchaus bekannt. Und Lourié spart auch nicht mit Beschreibungen des um sie herum herrschenden Elends. Reflexionen aber über das schlechthin Unwahrscheinliche ihres eigenen Glücks vermag dieses Wissen nirgends in Gang zu setzen. Das eigene Überleben und die körperlich-seelische Unversehrtheit als Frau werden von ihr auch nach Jahrzehnten als schöne Tatsachen hingenommen - und weiter beschwiegen.

Man liest und staunt: Wie kann eine Frau, deren Leben so verknüpft war mit den Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts, so frei von jedem relativierenden Zweifel über dieses Leben schreiben? Denn das tut sie: Vera Lourié erzählt ihre Geschichte, als wäre sie ein Roman. Und genau darin, in der krassen Diskrepanz zwischen Erzählhaltung und Geschehen, liegt die wahre Wirkkraft dieses Buchs. Es ist gespenstisch.

LENA BOPP.

Vera Lourié: "Briefe an Dich". Erinnerungen an das russische Berlin.

Hrsg. von Doris Liebermann. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2014. 261 S., geb., 22.95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Für Lena Bopp liegt die Wirkungskraft dieses Erinnerungsbuches der aus St. Petersburg stammenden Vera Lourie an ihre Zeit im Berlin der russischen Besatzungszeit eher unfreiwillig in der Diskrepanz zwischen Erzählhaltung und Geschehen. Ärgerlich geradezu erscheint Bopp etwa, wie wenig die Autorin das eigene Glück des Überlebens und Wohlergehens in Relation setzt zum Unglück und Elend ihrer Zeit. Die eigene Geschichte zu erzählen, als wäre sie ein Roman, findet Bopp beinahe obszön angesichts des um die Autorin herum geschehenen Leids unter dem Nationalsozialismus. Wenn sich Lourie an die russische Bohème in Berlin erinnert, wundert es die Rezensentin also kaum noch, dass dabei Beziehungsgeschichten im Vordergrund stehen und nicht etwa inhaltliche Debatten.

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