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Rudolf Zacharias reist nach Berlin. Dort will der Dokumentarfilmer die Vernissage seiner früheren Studentin Milena Sonntag besuchen. Thomas Lehrs Roman spielt an einem Sommertag des Jahres 2011 - und zugleich in einem ganzen Jahrhundert. Denn in ihrer Ausstellung zieht Milena nicht nur eine künstlerische Lebensbilanz, sondern die ihrer Zeit. Mit sprachlicher Kraft werden historische Katastrophen neben die privaten Verwicklungen dreier Menschen gestellt, führen die Spuren von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs bis ins heutige Berlin. Thomas Lehr entwickelt ein überwältigendes Fresko…mehr

Produktbeschreibung
Rudolf Zacharias reist nach Berlin. Dort will der Dokumentarfilmer die Vernissage seiner früheren Studentin Milena Sonntag besuchen. Thomas Lehrs Roman spielt an einem Sommertag des Jahres 2011 - und zugleich in einem ganzen Jahrhundert. Denn in ihrer Ausstellung zieht Milena nicht nur eine künstlerische Lebensbilanz, sondern die ihrer Zeit. Mit sprachlicher Kraft werden historische Katastrophen neben die privaten Verwicklungen dreier Menschen gestellt, führen die Spuren von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs bis ins heutige Berlin. Thomas Lehr entwickelt ein überwältigendes Fresko dieses deutschen Jahrhunderts: tragisch, komisch, grotesk, und immer wieder ganz persönlich und intim.
Autorenporträt
Thomas Lehr, 1957 in Speyer geboren, lebt in Berlin. Bei Hanser erschienen u.a. Größenwahn passt in die kleinste Hütte (Kurze Prozesse, 2012), die Novelle Frühling (2019) sowie die Romane September. Fata Morgana (2010), 42 (2013), Zweiwasser (2014), Nabokovs Katze (2016), Schlafende Sonne (2017), Die Erhörung (2021) und Manfred - Bekenntnisse eines Außerirdischen (2023). Sein Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Berliner Literaturpreis, dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis, dem Bremer Literaturpreis, dem Spycher-Literaturpreis sowie dem Kranichsteiner Literaturpreis.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.08.2017

Im Innern der Spirale
In seinem neuen Roman „Schlafende Sonne“ rückt Thomas Lehr die
Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts ins Licht der Solarphysik
VON HELMUT BÖTTIGER
Seit jeher wollte Thomas Lehr den totalen Roman. Den Roman, der alles in sich auflöst, den Bewusstseins-, den Zeit- und den Gesellschaftsroman. Dabei geht es nicht einfach um die Handlung, sondern auch um die Sprache, die etwas anderes abbildet als die gemeine Wirklichkeit. Lehr zeigt nie nur äußere Umrisse. „Schlafende Sonne“ ist sein bisher größtes Projekt. Er steckt den Rahmen noch weiter als in den Romanen „September. Fata Morgana“ (2010) oder „Nabokovs Katze“ (1999 und nimmt ein ganzes Jahrhundert in den Blick, von der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart. Und am Ende steht: „wird fortgesetzt.“
Das Buch greift seine Figurenkonstellationen aus unterschiedlichen Zeiten heraus und bindet sie assoziativ aneinander. Während der Lektüre stellt sich allmählich heraus, dass der Roman nach dem Prinzip der „Bilder einer Ausstellung“ aufgebaut ist. Was in den einzelnen historischen Tiefenbohrungen erzählt wird, hat sein Pendant in bestimmten Installationen und Gemälden. Dreh- und Angelpunkt des Romans ist ein Tag im August 2011, als die bereits berühmte Künstlerin Milena Sonntag eine umfassende Werkschau eröffnet.
Milena Sonntag, geboren 1970 in Dresden, verbindet in ihrer Biografie Ost und West. Sie wächst als Tochter des DDR-Malers Andreas Sonntag in die Dresdner Kunstszene der 80er-Jahre hinein, und die Schilderung einer charakteristischen Performance wird zu einem der Kabinettstückchen des Romans. Unverkennbar der Gruppe um den „Neuen Wilden“ A. R. Penck nachgebildet, werden die Feuerbachthesen von Karl Marx zugespitzt und gegen die Verhältnisse in der DDR gerichtet. Die einzelnen Umstände des Abends zitieren konkrete historische Ereignisse: den heraufbeschworenen „Freejazz-Rock-Punk“ praktizierte damals in Dresden in derselben Weise die Gruppe um Penck, Helge Leiberg oder Lothar Fiedler, und der spätere Einbruch in das Atelier, bei dem die Artefakte zerstört werden, entspricht dem Fall Penck genauso wie die Art und Weise, wie die Stasi Andreas Sonntag zur Ausreise in den Westen zwingt. Das Fiktive ist in die reale Zeitgeschichte eingebettet. Eine neue ästhetische Ebene wird eingezogen, die etwas rätselhaft Gleißendes hat. Die biografischen Details der Hauptpersonen sind zwar äußerst differenziert ausgestaltet, sinnlich aufgeladen und mit überraschenden atmosphärischen Verdichtungen, aber sie scheinen noch etwas anderes mit zu transportieren.
Nach der Ausweisung ihres Vaters aus der DDR zieht Milena mit ihrer Mutter nach Berlin, der Hauptstadt der DDR, deren spießiger Alltag im Herbst 1989 explodiert. Ihren späteren Mann Jonas, einen Freiburger Physiker, lernt Milena 1991 dann in einem Nationalpark in den USA kennen, sie ist mit dem viel älteren flippigen Malerfreund Fred unterwegs und stößt auf den an beiden Händen verbundenen Mann aus dem Westen, der beim Klettern abgestürzt ist. Die gebundenen Hände, die Namen Jonas und Milena – das ist natürlich alles voller Anspielungen, aber es verbleibt meist in einem immer komplexer werdenden Subtext und wird nicht näher ausgeführt. Kurze Zeit später treffen sich die beiden zufällig in einem Göttinger Philosophieseminar wieder, und ihre erste Liebesnacht ist ein Motiv, das in den gesamten Roman ausstrahlt. „Schlafende Sonne“, der Titel des Romans, nimmt es auf und scheint etwas zu bündeln, was immer wieder im Text aufscheint. Es geht weniger um konkrete Schlüsselsituationen als um erratische Bilder, die vieldeutig sind und nicht bis ins Letzte zu entschlüsseln. Von daher wirkt dieser Roman eher wie ein großes Poem, ein Epos, das sich nicht im bloßen Erzählen und einer spannungsgeladenen Handlung erschöpft.
Jonas, der Freiburger, ist Astrophysiker und forscht über die Sonne. Als er in Göttingen in philosophische Kreise gerät, wird sein Satz „Ich bin nur Physiker“ zu einem geflügelten Wort, dem im Verlauf des Romans immer neue Wertigkeiten abgewonnen werden – ironisch, erkenntnistheoretisch, biografisch. Physik, Philosophie und Poesie gehen eineinander über. Und hier kreuzen sich auch die Interessen von Jonas und Milena. Der Solarforscher Karlheinz Plessner eröffnete dem siebzehnjährigen Jonas Anfang der Achtzigerjahre mit einem Vortrag im Freiburger Fraunhofer-Institut sein Lebensthema.
Und Milena hat bereits als 15-Jährige ihren Marxismus-Leninismus-Lehrer in der DDR mit der Frage nach den Grundlagen des Denkens von Marx bei dem Philosophen Hegel in die Enge zu treiben versucht und wandte sich erst der Kunst zu, nachdem sie sich in Göttingen in die Doktorarbeit der Philosophin Esther Goldmann vertiefte – und auch diese hat mit Karlheinz Plessner zu tun.
Diese Verbindungen sind es, die den Autor Thomas Lehr, der seinerseits Biochemie studiert hat, elektrisieren: das analytische Vorgehen der Naturwissenschaften bildet für ihn die Grundlage zum synthetisierenden der Literatur. Sein Roman setzt sehr subjektive Schwerpunkte und hat nicht nur die Phänomene der Astrophysik, sondern das Licht der Erkenntnis überhaupt im Visier. Auf der Ebene der Romanhandlung gibt es sich vielfach schneidende Linien. So ist der aus Göttingen stammende Solarphysiker Plessner eng mit dem Antiquar Friedrich Bernstorff befreundet, der wiederum zum wichtigsten Sammler Milenas wird. Zentralfiguren dieses Göttinger Milieus sind Esther Goldmann (die Edith Stein nachgebildet ist) und der Phänomenologe Edmond (also Edmund Husserl), dessen „lebensweltlicher“ Ansatz nach vielen Seiten hin ausgeführt wird. Er bildet offenkundig den Hintergrund für die Ästhetik des Romans, der daraus immer neue Funken schlägt.
In den vorangestellten Motti wird augenzwinkernd das Formprinzip des Buches verraten. Beide umkreisen das Phänomen der „Spirale“. Für die Installations-Künstlerin Louise Bourgeois, mit der die Hauptfigur Milena einmal verglichen wird, war die Spirale ein „Versuch, das Chaos unter Kontrolle zu bringen“, der Filmemacher Chris Marker sah „im Inneren der Spirale“ die Spannung von Macht und Freiheit, Schwermut und Betörung. Der Text des Romans vollführt Drehbewegungen, in jedem Kapitel gibt es Verschränkungen der Perspektiven. Wie bei einer Spirale wechseln so innen und außen. Erzählt wird von einem inneren Wirbel aus, nicht dem chronologischen Zeitstrahl entlang.
Man kann Milenas Ausstellungseröffnung im Jahr 2011 als dieses Zentrum erkennen, das – wie bei einer Sonne – radial die Erzählstränge freisetzt. Es gibt dabei sehr suggestive, rauschhafte Prosapassagen. Etwa wie Jonas früh versucht, auf den höchsten Punkt des Freiburger Münsters zu klettern und dabei erste sexuelle Obsessionen und viele Vorstellungen des Fleisches mit einfließen, oder ein satirisch nachgestelltes Staatsbankett zum 40. Jahrestag der DDR. Der Autor Lehr hat eine Vorliebe für etwas, was eigentlich längst nicht mehr geht, er ist weder cool noch abgeklärt, er neigt zu Bekenntnissen und liebt trunkene Bilder, Genitivmetaphern und das Schwelgen in Sprachwelten, die sich verselbständigen. Sehr plastisch werden etwa der „weißliche Film“, der sich nach der Ausweisung von Andreas über die DDR legt oder Michelangelos Statue des David in Florenz, in der verschiedene Zeitschichten und Wahrnehmungen zusammentreffen.
Milena definiert einmal den Standpunkt der Kunst als ein „radikales Außerhalb“, und das kann man genauso für den Roman von Thomas Lehr sagen. Es wirkt wie eine Provokation, wie wenig sich dieser Autor um landläufige Erzähltheorien und Schreibschultechniken schert. Der Beginn des Romans, in dem in einzelnen Tableaus Milenas Ausstellung erträumt und konzipiert wird, ohne Figurenpsychologie oder Fingerzeige einer Handlung, ist in seiner hermetischen Wucht ein großes Wagnis. Es geht hier um Literatur als Kunst, nicht als Serviceleistung für Gefühle oder als Wiedererkennungs-Akrobatik. Es geht, wie es an einer Stelle ungeschützt heißt, um „den Abgrund des Glücks“.
Thomas Lehr ist weder abgeklärt
noch cool, er liebt Bekenntnisse
und trunkene Bilder
Die Sonne ist „der Stern, der sich am Tage zeigt, und der einzige, der uns wärmt“.Thomas Lehrs Roman erzählt auch von der Solarphysik. Bei der Beobachtung von Sonnenflecken erfasst das Teleskop ein Flugzeug.  
Foto: mauritius images
Thomas Lehr: Schlafende Sonne. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2017.
640 Seiten, 28 Euro.
E-Book 20,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.09.2017

In der Erbse zittert das Nichts

Der Roman als Erkenntnisinstrument: Thomas Lehr erzählt in "Schlafende Sonne" Bilder einer Ausstellung und überschreitet die Grenzen zwischen Kunst, Wissenschaft und Lebenswelt.

Der Physiker C. P. Snow hat 1959 in einem epochemachenden Aufsatz die letztlich nicht mehr aufhebbare Trennung von naturwissenschaftlich-technischer und geisteswissenschaftlich-literarischer Kultur konstatiert. Zwar könne eine Begegnung dieser Kulturen höchst produktiv sein, sie käme aber nicht zustande, weil es keine gemeinsame Sprache mehr gebe. Einen amüsanten Kommentar zu der seitdem anhaltenden Diskussion lieferte 1994 "Sokals Hoax". Dem Physiker Alan Sokal war es gelungen, einen Aufsatz zur "Hermeneutik der Quantengravitation" in eine jurierte Fachzeitschrift einzuschmuggeln, in dem er als Invektive gegen die postmodernen französischen Denker vorführte, wie man in der Vermischung von naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Begrifflichkeit imposanten Unsinn produziert.

Die sich vertiefende Kluft zwischen Literatur und Wissenschaft ging allerdings von vornherein, jedenfalls seit Francis Bacon, in die Dialektik der Aufklärung ein. Einerseits sollte allen Menschen das Weltwissen zugänglich sein, andererseits entzog sich der Fortschritt der Wissenschaft in rasantem Tempo der Sichtbarkeit und damit dem Vorstellungsvermögen der meisten Menschen, womit das Irrationale und Okkulte, der ganze Hokuspokus der Volksverdummung durch die Hintertür der Wissenschaft selbst zurückkehrte.

Dagegen waren sich Goethe und die Romantiker einig in der Wiedervereinigung von Kunst und Wissenschaft in diskursiver Geselligkeit, in der die Vielfalt und Buntheit der Welt vor Augen kommen sollte, ohne die mühsam errungene Vernunft preiszugeben. Die wissenschaftliche Theorie sollte der Anschauung nichts entziehen. Ohne wahnhafte Züge ging das nicht. Da konnte Novalis auf den verwegenen Gedanken eines Romans des Weltalls verfallen. Auch das Universum spreche zum Menschen, wenn er ihm das Gehör nur nicht verweigere.

Thomas Lehrs neuer Roman "Schlafende Sonne" lässt sich als zeitgemäße Fortsetzung der "Progressiven Universalpoesie" der Romantiker lesen, mit allem kosmisch Übersteigerten des gelegentlich nicht nur romantisch, sondern auch surrealistisch inspirierten unzensierten Einfalls, das von je dazugehörte. Mit der fröhlichen Wissenschaft der Postmoderne aber hat Lehr nichts zu verhandeln. Mit Goethe hätte sein Roman auch den Untertitel "Die Taten und Leiden des Lichts" tragen können. Die Motivik des (Sonnen-)Lichts als Urquelle aller schöpferischen Potenz und universale Metapher des Denkens durchzieht die Erzählung von Anfang bis Ende. Bei Lehr ist der Roman ein Erkenntnisinstrument, das die Abstraktionen der Wissenschaft und die Trennungen der Ausdifferenzierungen in Kunst und Wissenschaft in der Moderne aufheben und in die Lebenswelt mit all ihren Trivialitäten zurückversetzen will, ohne die Schwierigkeiten populistisch unter den erkenntnistheoretischen Teppich zu kehren.

Dabei wird freilich die Baconsche Dialektik mitgeschleppt bis hinein in die geschilderten persönlichen Beziehungen. Der Physiker Jonas, der, in seine Tabellen vertieft, weit draußen bei seinen Monster-Sonnen weilt, braucht einen Anker im Irdischen und findet ihn vorübergehend in der Göttinger Buchhändlerin Marlies. In seinem Kopf aber toben Vorstellungen und Abstraktionen: "Verknotete Diagramme, Berechnungs- und Programmierprobleme, Theorie und Praxis der adaptiven Optik, bei der die Lichtwellenamplituden in Echtzeit von den Turbulenzeffekten der Atmosphäre gesäubert werden mussten".

Dergleichen stellt den naturwissenschaftlich unterbelichteten Leser vor die Frage, wie er lesen will oder soll. Soll er je nachschlagen, wovon die Rede ist, was genau es mit dem Higgs-Feld auf sich hat, warum gemäß Olbers Paradox der Himmel nicht hell erleuchtet ist, was die Gaußsche Krümmung besagt und so fort, oder soll er es metaphorisch, als Chiffren der Bewusstseinstätigkeit einer Person zur Kenntnis nehmen? Das ist umso mehr die Frage, als der Leser gelegentlich argwöhnt, von Lehr veräppelt zu werden, wenn persönliche Beziehungen nebst zahlreichen Sexszenen kosmisch aufgedonnert werden. "Es gibt kein regelrechtes Nichts. Also auch kein Nichts vor dem Urknall unserer Begegnung, Jonas. Was ich nicht alles von Dir gelernt habe! Irgendwie zittert das Nichts wie ein ungeheurer Wahnsinn in einer Erbse, und aus dem Quantenschaum der Frühe fluktuieren die merkwürdigsten Geschöpfe hervor." Da soll sich wohl Heidegger im Grabe herumdrehen. In der Erzählung der Begegnungen mit diesen Geschöpfen, unzähligen Nebenfiguren, die je aus verschiedenen Perspektiven geschildert werden, aber auch im Übermaß gelehrter Anspielungen, wird sich der Leser nicht selten verirren. Da hilft keine Hermeneutik der Quantenphysik.

Zum Glück gibt es einen raumzeitlichen Attraktor in dem Roman, auf den alle einzelnen Episoden zulaufen. Ähnlich wie in Joyces "Ulysses" spielt die Handlung in vierundzwanzig Stunden, genauer am 19. August 2011. An dem Tag wird in Berlin unter dem Titel des Romans die Retrospektive der 1970 in der DDR geborenen, inzwischen weltberühmten Künstlerin Milena Sonntag eröffnet. Die Ausstellung bilanziert nicht nur ihre Entwicklung, sondern auch die der deutschen Geschichte des zurückliegenden Jahrhunderts, was sie in der Gestaltung des deutschen Pavillons auf der Biennale fortsetzen soll. Ihre Exponate werden in "Boxen" präsentiert, deren Öffnung je die Episoden der Erzählung anzieht. Zu der Ausstellung in Berlin reist auch Milenas ehemaliger Lehrer und Liebhaber, der Kulturwissenschaftler Rudolf Zacharias, aus Japan an. Ihm ist wegen zu vieler schlauer Bemerkungen das Fegefeuer bestimmt. Und natürlich kommt auch ihr Mann, der Solarphysiker Jonas, obwohl sie gerade die eheliche Wohnung verlassen hat, nachdem Jonas die Überforderung des Familienlebens mit einer Affäre kompensierte.

Lehr erzählt die Lebensgeschichten der drei Personen und ihre Begegnungen von den Freuden und Schmerzen der Jugend über die Studienzeit in Göttingen und Freiburg nicht als je kontinuierliche Geschichten, sondern, Goethes "Wanderjahren" ähnlich, als "Roman des Nebeneinander", der sich zu einem umfassenden Bild der Zeit fügen soll.

Die Darstellung der Personen folgt einem von Husserls Phänomenologie inspirierten Prinzip der Anschauung, das die ihre Erfahrung realisierenden Subjekte in ihrem Mitsein zeigt. Das Subjekt soll nicht als einsames Individuum noch als bloßer physikalischer Körper erscheinen, sondern als "ein fühlender, geistig aktiver, eine halbe Unendlichkeit einschließender Leib". Solche Phänomenologie öffnet das Fenster der Monade, ermöglicht Einfühlung und gibt den Blick frei auf die Leibhaftigkeit der anderen, die sich in der Sexualität sinnlich bestätigt. Selbst in den Früchten der Erde kann sich der Mensch erblicken, wenngleich nicht immer im Ernst. "Tomaten sind treulos und platzen vor Eitelkeit."

Der Leib des Menschen, zumal der weibliche, wird im phänomenologischen Blick Lehrs lesbar wie ein Buch. In der Häufigkeit der Schilderung sexueller Begegnungen erscheint das Begehren des anderen Leibs als eine Wirkmacht von kosmischer bildproduzierender Dimension der Nähe wie der notwendigen Distanz oder Diskrepanz. Die bildlichen Verknüpfungen und überraschenden Analogiebildungen sind dabei oft erheiternd. So müssen zwei nach dem Sex als einer Reinigung noch "einige Minuten still nebeneinander ruhen und warten, bis das blütenduftende, schaumig knisternde Badewasser des postorgiastischen Zustands abgeflossen war, um sich dann mit einigen fehlplatzierten Sätzen ins Befremden zu frottieren".

Lehrs Methode des Sichtbarmachens löst virtuell die Grenzen zwischen Menschen wie Kulturen auf. Kunst, Wissenschaft, Technik und Politik, die Angleichung der inneren und der äußeren Welt, die der Mensch ständig vollzieht, werden in ihren Ursprung in der Lebenswelt zurückversetzt. Da geht das Intime und Private wie selbstverständlich in die Weltgeschichte über.

Das ergibt eine große metapherngesättigte Hymne auf die Kreativität und Entwicklungsfähigkeit im Guten wie im Bösen, die das Staunen lehrt über das unentwegte Spektakel der Sichtbarkeit, dem der Mensch den Sinn geben kann. Als Urbild aller Kreativität aber erscheint der Körper der Frau, "die gewaltigste Maschine, die mächtigste und die wichtigste, seit Jahrtausenden imstande, Menschenwesen zu fabrizieren, Millionen und Milliarden." Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst als ewiges Wunder der Fortzeugung.

Die Figur, in der das Chaos bewältigt und verständlich werden kann, ist in Lehrs Roman nicht der Kreis, die Wiederkehr des Gleichen, sondern die Spirale als eines der ältesten Symbole der Unendlichkeit des Möglichen. Sich in der Mitte einer Spirale zu imaginieren bedeutet als Aufgeben zwanghafter Kontrolle den Entschluss zum Leben, zu der freien Entscheidung, sich in dieser Welt heimisch zu fühlen trotz aller irdischen Widerwärtigkeiten wie der beängstigenden Unermesslichkeit des Alls. Produktive Galaxien weisen die Form der Spirale auf, sie ist als Kodifizierung der scheinbar widersprüchlichen menschlichen Begehrungen des Menschen auch als Strukturprinzip von Lehrs Schreibart zu begreifen.

Das ist leichter gesagt als getan bei diesem gewaltigen Epos der menschlichen Kreativität, das ja noch zwei ebenso gewichtige Fortsetzungen finden soll. Zwar ist "Schlafende Sonne" über weite Strecken durchaus vergnüglich und unterhaltsam, doch wird auch der sehr gebildete Leser bei Lehrs Überschreitungen der Grenzen zwischen Literatur und Wissenschaft immer wieder an die Grenzen seiner "cerebralen Software" stoßen und das Buch nicht selten erschöpft für eine Weile aus der Hand legen.

FRIEDMAR APEL

Thomas Lehr: "Schlafende Sonne". Roman.

Hanser Verlag, München 2017. 640 S., geb., 28,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Thomas Lehr hat sich mit seinem "Universalroman" viel vorgenommen, sehr viel, und mit den ersten 640 Seiten ist es noch lange nicht getan - einige Tausend mehr sind noch in Planung, weiß Rezensent Paul Jandl. Dass er seinem Anspruch gerecht wird, lässt sich nur zwischen den Zeilen der Rezension lesen, vielleicht will sich Jandl ein abschließendes Urteil noch nicht und erst nach Abschluss des Großprojekts erlauben. Dass dieses jedoch in seinem hohen Anspruch beeindruckt und reizt und, abgesehen vom etwas befremdlichen "Adjektiv- und Metapherngerammel" in den zahlreichen Beschreibungen erotischer Szenen, von hoher erzählerischer Qualität ist, lässt sich scheinbar bereits feststellen. Es ist ein Zeitpanorama der DDR, ein Porträt, eine Sozialstudie, ein physikalischer Roman, ein "krachendes und knatterndes Ding", so der faszinierte Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH
"'Schlafende Sonne' ist ein himmelschießendes Kunstwerk. Zum Verzweifeln gut." Markus Clauer, Die Rheinpfalz, 09.10.17

"'Schlafende Sonne' ist sprachlich und in seinem Bau ein Wagnis. Eines, das gelingt. ... Wer die Herausforderung dieses Romans annimmt, wird mit einem Text belohnt, der kompromisslos auf die Probe stellt, was Literatur jenseits des Geschichtenerzählens kann." Cornelia Zetzsche, Bayern 2, 30.09.17

"Thomas Lehr hat ein enorm dichtes und virtuos komponiertes Buch geschrieben, in dem Handlungsstränge und Personen auf vielfältige und komplexe Weise miteinander verknüpft sind." Holger Heimann, WDR 3, 29.09.17

"Mit 'Schlafende Sonne' hat Thomas Lehr jetzt den ganz großen Wurf gewagt. Lehrs neues Buch versteht sich als eine Art Universalroman und reiht sich ein in die Literatur der Moderne, etwa eines James Joyce, die nach neuen, experimentellen Ausdrucksformen sucht." FOCUS online, 26.09.17

"Der Roman als Erkenntnisinstrument: Thomas Lehr erzählt in 'Schlafende Sonne' Bilder einer Ausstellung und überschreitet die Grenzen zwischen Kunst, Wissenschaft und Lebenswelt." Friedmar Apel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.09.17

"Wer sich aber einlässt auf dieses Experiment, diese Explosion von Gedanken, Theorien und Erinnerungen, der wird reich belohnt werden durch eine unglaubliche Vielfalt an Ausdrücken und Assoziationen und einen literarischen Wagemut, wie er in der deutschen Gegenwartsliteratur derzeit fast einmalig ist." Jan Ehlert, NDR Kultur, 20.09.17

"Man kann 'Schlafende Sonne' einen Eheroman nennen, einen Künstler-, Epochen- und Wissenschaftsroman, einen Roman über die deutsche Teilung und ihre Vorgeschichte, aber auch ein Energiegeschoss, einen Feuerball, eine Gedankenexplosion ... Ein Epos auf der Höhe der Zeit, sonnentrunken und riskant." Meike Fessmann, Der Tagesspiegel, 14.09.17

"Der Autor verknüpft in seinem Roman ... virtuos Philosophie, Kunsttheorie und Naturwissenschaft. 'Schlafende Sonne' ragt heraus aus der Produktion des Herbstes." Holger Heimann, WDR 5, Bücher, 09.09.17

"Der Blick auf Oberflächen und in die Tiefe hat in Thomas Lehr einen Zeremonienmeister, der Bilder schaffen kann wie kaum ein anderer. Lehr weiss das, und er betreibt einen Aufwand, dem es egal ist, ob er gerade auf den Schlachtfeldern bei Verdun ist oder auf dem Gästesofa einer Buchhändlerin." Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung, 30.08.17

"Entscheidend sind aber weniger konkrete Ereignisse als zentrale Motive, die ein Eigenleben bekommen. ... Dabei kommt es zu zum Teil rauschhaften Erzählschüben, die von großer Suggestivität sind. ... Es geht um Lebenswelten, um die konkrete Verankerung in Details und Atmosphären. So entsteht zwischen den Figuren und Zeiten ein eigener poetischer Raum, der sich im zentralen Bild der 'Sonne', des 'Lichts' zeigt." Helmut Böttiger, Deutschlandfunk Kultur, Studio 9, 26.08.17

"Es wirkt wie eine Provokation, wie wenig sich dieser Autor um landläufige Erzähltheorien und Schreibschultechniken schert. ... Es geht hier um Literatur als Kunst, nicht als Serviceleistung für Gefühle oder als Wiedererkennungs-Akrobatik. Es geht, wie es an einer Stelle ungeschützt heißt, um 'den Abgrund des Glücks'." Helmut Böttiger, Süddeutsche Zeitung, 23.08.17

"Es sind kleine, kluge, sensible Beobachtungen, die Thomas Lehrs Schreiben ausmacht, er liefert überzeugende Psychogramme in außergewöhnlicher, kunstvoller Sprache, jenseits von abgegriffenen Adjektiven und Wendungen. Seine menschlichen Skizzen auf Papier werden mit wenigen Worten zu einem ganzen Leben. ... Der letzte Satz dieses Buches jedenfalls wird wohl - wie das ganze Buch selbst - unterschiedliche Emotionen hervorrufen: 'Wird fortgesetzt'. Zwei weitere Teile sind geplant und schon in Arbeit. Wahnsinn. Und Genie. Ein Megaprojekt - für den Autor und die Leser." Anne-Dore Krohn, rbb Kulturradio, 21.08.17
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