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Anfang der 1970er Jahre stehen die Protestbewegungen in Paris, Rom und Berlin vor der Frage nach dem bewaffneten Kampf und dem Abtauchen in den Untergrund. Auch wenn die Antworten unterschiedlich ausfallen, beginnt in allen drei Ländern ein Jahrzehnt politischer Gewalt, das auf den "Straßen eines Europas im Frieden die Leichen Hunderter Männer und Frauen hinterließ, wie Hunde abgeknallt". Als Zeuge dieses Jahrzehnts der Wut, Hoffnung und großen Worte erlebt der Ich-Erzähler seine sexuelle und politische Bewusstwerdung, doch als er "am Zuge ist", in das Weltenspiel einzutauchen, ist die…mehr

Produktbeschreibung
Anfang der 1970er Jahre stehen die Protestbewegungen in Paris, Rom und Berlin vor der Frage nach dem bewaffneten Kampf und dem Abtauchen in den Untergrund. Auch wenn die Antworten unterschiedlich ausfallen, beginnt in allen drei Ländern ein Jahrzehnt politischer Gewalt, das auf den "Straßen eines Europas im Frieden die Leichen Hunderter Männer und Frauen hinterließ, wie Hunde abgeknallt". Als Zeuge dieses Jahrzehnts der Wut, Hoffnung und großen Worte erlebt der Ich-Erzähler seine sexuelle und politische Bewusstwerdung, doch als er "am Zuge ist", in das Weltenspiel einzutauchen, ist die Hoffnung seiner älteren Brüder an den Mauern der Repression zerschellt oder in mörderischen Sackgassen gestorben. Zu jung für den Kampf, wird es für ihn und seine Geliebten noch eine kurze intensive Zeit geben, in der sie sich den großen Freuden wie den tiefen Nöten der Politik und des Körpers hingeben, denn "Sex gibt's nicht getrennt von der Welt". Dann aber wird sie "eine Epidemie niedermähen wieHunde" und "der Feind ein anderes Gesicht haben". Geschrieben mit der Wut eines hilflosen Zeitzeugen, der Lügen eines ganzen Kontinents, erinnert uns 'Und dazwischen nichts' daran, dass Geschichte vor allem eines ist: Fiktion.
Autorenporträt
Riboulet, MathieuMathieu Riboulet, 1960 geboren, war ein französischer Autor und Regisseur. Er drehte über zehn Jahre zahlreiche Filme, bevor er sich ganz der Schriftstellerei widmete. Seit Anfang der 2000er-Jahre ist ein umfangreiches einzigartiges literarisches Werk entstanden. 2012 erhielt er für Les Oeuvres de miséricorde (Die Werke der Barmherzigkeit) den Prix Décembre. Im Sommer 2017 war er Stipendiat am Literarischen Colloquium Berlin.

Uttendörfer, KarinKarin Uttendörfer arbeitet als Übersetzerin, Autorin und Herausgeberin in Berlin und Paris. Zu den von ihr übersetzten Autoren gehören u. a. Eric Hazan, Jacques Yonnet, Marcel Aymé, Judith Perrignon und Mathieu Riboulet. 2017 war sie Mitglied der Jury für den Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis. Für ihre Übersetzung von Jean-Baptiste Del Amos Tierreich wurde sie 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.09.2017

Teil der Lösung oder Teil des Problems
„Und dazwischen nichts“: Mathieu Riboulet erzählt von einer Jugend, die – schwul, politisch motiviert, selbstzweiflerisch – ein bisschen zu spät dran ist
Sieben Jahre alt ist der spätere Autor und Filmregisseur Mathieu Riboulet, als Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 während der Demonstration gegen den Schah-Besuch von dem Polizisten Karl-Heinz Kurras erschossen wird. Mit sieben begreift man noch nichts von der Wucht solcher Geschehnisse. Aber der Schuss hallt nach. Er ist noch in den Siebzigerjahren zu hören. Da sind bereits neue Schüsse gefallen, weitere Morde und Attentate hinzugekommen.
Die Kugeln, die Ohnesorg und später Petra Schelm, Georg von Rauch und viele andere töten, brauchen eine Weile, bis sie den Heranwachsenden erreichen. Aber sie streifen schließlich auch ihn, spätestens als am 25. Februar 1972 der 23-jährige Maoist Pierre Overney von einem Angehörigen der privaten Werkspolizei der Renault-Werke in Billancourt nur drei Busstationen vom Elternhaus Riboulets entfernt „abgeknallt“ wird. „Wenn wir in der Undurchdringlichkeit Afrikas sterben, auf im Chinesischen Meer umhertreibenden birmanischen Nussschalen oder in der eisigen Hölle Magadans, sterben wir Menschen nicht wie Hunde, wir sind Hunde und als solche sterben wir. Sterben wir hingegen da, wo der westliche Geist sein Gravitationszentrum festgemacht hat und der ganzen Welt seinen Takt aufzwingt, sterben wir wie Hunde, weil wir Menschen sind und Menschen nicht abgeknallt wie Hunde auf der Straße, sondern mit geöffneten Händen in ihrem Bett sterben. Die Stunden schlagen nicht für alle gleich, die Chronologie ist eine Fiktion. Ein Schuss aus nächster Nähe auf offener Straße.“
1972 ist Mathieu Riboulet zwölf Jahre alt. Seine Eltern würde man als linksliberal charakterisieren, sie fahren mit dem Sohn in den Sommerurlaub nach Polen, sind schockiert von den politischen Ereignissen in Europa, von der Vehemenz, mit der sich der Staat in Frankreich, Deutschland, Italien gegen die sich radikalisierenden Studenten zur Wehr setzt. Die frühen Erfahrungen prägen das Schreiben, den Blick auf die Politik, die Geschichte, den Sex und die Sprache.
Davon handelt Mathieu Riboulets Buch „Und dazwischen nichts“, das aus guten Gründen keine Gattungsbezeichnung trägt. Zwischen Autobiografie, Essay und Roman changierend, erforscht es die ersten Spuren eines politischen und sexuellen Bewusstseins. Als Homosexueller muss Riboulet nicht erst mühsam lernen, dass Politik und Sex miteinander verbunden sind: „Schwulsein deklassiert dich in null Komma nichts.“ Riboulet ist schwul, linksradikal und gehört einer Zwischengeneration an. Zu jung, um wie die „älteren Brüder“ den bewaffneten Kampf aufzunehmen gegen die Geschichtsvergessenheit und Gleichgültigkeit der Eliten, die eine Illusion von Frieden aufrechterhalten und den Rauch, der aus den Krematorien gekommen ist, einfach so wegfächeln wollen.
Zu alt wiederum, um nicht hineingezogen zu werden in den Strudel der gewalttätigen Ereignisse in den Siebzigern. Noch in anderer Hinsicht ist es eine Zwischenzeit. Ein paar Jahre lang steht neben der politischen Bedrängnis und zunehmenden Hoffnungslosigkeit die Utopie sexueller Befreiung. Mit dem ersten Geliebten Martin steigt der Erzähler ein „in das große Spiel der Ärsche und der Politik“, bis die jungen Männer ins Visier einer unheilvollen Krankheit genommen werden. Riboulet schildert das Exzessive dieser Jahre in Schleifen, immer wieder kehren bestimmte Schlüsselszenen wieder. Er beschreibt die Selbstzweifel angesichts der Tatsache, ein bisschen zu spät dran zu sein und eben nicht zur Waffe zu greifen, sich stattdessen aber der Lust hinzugeben. Aus revolutionärem Kampf wird Identitätspolitik.
Ein Ungenügen bleibt, ein Mangel, etwas Unverarbeitetes in dieser linken Biografie, deren Perspektive sich von den „Gewehrläufen“ hin zu einer „Virusladung“ verschiebt. Das Scheitern der älteren Brüder wird durch den Rückzug der jüngeren ins Bett besiegelt, das Bett wird zum Schlachtfeld dieser Generation. Martin, der Jugendfreund, stirbt 1989 an Aids, wenige Tage vor dem Fall der Berliner Mauer, am Ende eines ernüchternden Jahrzehnts.
Das Buch ist ein persönlicher Rechenschaftsbericht darüber, wie die gesellschaftlichen Umstände und das eigene Hineinwachsen in die Welt das Handeln bestimmen. Riboulet zitiert Ulrike Meinhofs Worte „entweder du bist ein Teil des Problems oder ein Teil der Lösung. Dazwischen gibt es nichts“, und er umkreist dieses Dazwischen in immer wieder neuen Anläufen, nähert sich der Leerstelle und entfernt sich wieder.
Das Bemerkenswerte an dieser Prosa ist nicht, dass Riboulet sich um Verstehen bemüht. Sondern dass sich einer – durchaus mit dem Pathos der Jugend – zurückversetzt in sein früheres Ich, sich nicht geläutert oder altklug über die Vergangenheit hermacht, um sie zu denunzieren. Dabei aber mitreflektiert, dass die Welt heute eine andere ist. Das hat durchaus etwas Quälerisches und Verstörendes – eine Qualität, die vielen Veteranenberichten aus jenen Jahren abgeht. Die Unbedingtheit, die Drastik und Direktheit der Sprache lassen dem Leser keine Wahl, diese kreisenden Bewegungen mitzumachen, die Wut, Lust, Energie zu spüren. Man laufe immer Gefahr, die Geschichte umzuschreiben, heißt es einmal. „Ich balanciere auf einem sehr dünnen Seil und kann diese Geschichten unmöglich niederschreiben, indem ich so tue, als wüsste ich nicht, was inzwischen aus uns geworden ist. Aber es ist natürlich der Spalt, der sich zwischen der Stunde des Handelns und der späteren, manchmal sehr viel späteren Stunde des Erzählens auftut, der die Übung nährt.“
Mathieu Riboulets „Und dazwischen nichts“ ist das radikale, aufrichtige, poetische Protokoll einer jugendlichen Revolte, an deren Ende die politischen und ökonomischen Kräfte, die sie eigentlich bekämpfen wollte, erst richtig entfesselt wurden.
ULRICH RÜDENAUER
„Schwulsein deklassiert
dich in null
Komma nichts.“
„Ich balanciere
auf einem
sehr dünnen Seil.“
Mathieu Riboulet: Und dazwischen nichts. Aus dem Französischen von Karin Uttendörfer. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017.
210 Seiten, 22 Euro.
E-Book 16,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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