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Zweiter und abschließender Band der Dokumentation und Zwischenbilanz der großen Debatte über das Verhalten deutscher Geisteswissenschaftler in der Zeit des Nationalsozialismus.
Im Frühjahr 2004 erschien der erste, stark beachtete Band dieser Dokumentation zu Vernetzungen und Verflechtungen der Kulturwissenschaften mit dem Nationalsozialismus. Der zweite, abschließende Band befasst sich mit Leitbegriffen, Deutungsmustern, Paradigmenkämpfen und den wissenschaftlichen Auswirkungen von Exilerfahrungen. Er enthält Beiträge über Hans Baron, Ernst Cassirer, Bernhard Groethuysen, Ernst H.…mehr

Produktbeschreibung
Zweiter und abschließender Band der Dokumentation und Zwischenbilanz der großen Debatte über das Verhalten deutscher Geisteswissenschaftler in der Zeit des Nationalsozialismus.

Im Frühjahr 2004 erschien der erste, stark beachtete Band dieser Dokumentation zu Vernetzungen und Verflechtungen der Kulturwissenschaften mit dem Nationalsozialismus. Der zweite, abschließende Band befasst sich mit Leitbegriffen, Deutungsmustern, Paradigmenkämpfen und den wissenschaftlichen Auswirkungen von Exilerfahrungen. Er enthält Beiträge über Hans Baron, Ernst Cassirer, Bernhard Groethuysen, Ernst H. Kantorowicz, Golo Mann, Helmuth Plessner, Gerhard Ritter, Carl Schmitt und Paul Tillich; über die Leitbegriffe und Deutungsmuster von der »Vorherrschaft der deutschen Musik«, von »Volksgesundheit« und »Ordnung« sowie über »Plato und die Sophisten«; über die Paradigmenkämpfe gegen die so genannten Neukantianer und über die Auseinandersetzungen zum Thema »Bildung versus Ertüchtigung«; über Institutionen im Exil wie die New School of Social Research in New York und die Hebräische Universität in Jerusalem.

Autorenporträt
Friedrich Wilhelm Graf ist Professor em. für Systematische Theologie und Ethik an der Universität München und Ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.06.2005

Moratorium der Mandarine
Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften
Der vorliegende Band zur Rolle der Kulturwissenschaften im Nationalsozialismus (man beachte die pointierende Umstellung beider Begriffe im Buchtitel!) dokumentiert die Vorträge zweier Tagungen aus den Jahren 2001 und 2002. Er schließt damit ein höchst anspruchsvolles Vorhaben des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen und seiner beiden Direktoren Lehmann und Oexle ab, das mit einer ersten Veranstaltung im März 2000 begann und „Fächer - Milieus - Karrieren” überschrieben war. Die Beiträge zu dieser einleitenden Fachtagung sind bereits im Frühjahr 2004 erschienen.
Die Trennung zwischen Individuen, Institutionen und Ideen ist in der Fachgeschichtsschreibung nicht immer leicht zu ziehen, und so besteht auch Band 2 überwiegend aus Fallstudien zu einzelnen Disziplinen (Musikwissenschaft, Staatsrecht, Philosophie, Geschichte, Pädagogik, protestantische Theologie), Hochschulen (Universitäten Marburg und Göttingen, New School for Social Research in New York, Hebräische Universität in Jerusalem, Universität Groningen) und Karrieren (Carl Schmitt, Gerhard Ritter, Ernst Cassirer, Bernhard Groethuysen, Hans Baron, Paul Tillich, Helmuth Plessner, Ernst Kantorowicz, Golo Mann, Hans Liebeschuetz, Ludwig Feuchtwanger, Erich Eyck). Allerdings ist die erste Hälfte der Beiträge begriffsgeschichtlich ausgerichtet. Sie geht von der These aus, daß zentrale Leitbegriffe, Deutungsmuster und Paradigmen, die sich nach 1933 als „anschlussfähig” erwiesen, von den Nazis nicht erfunden, sondern lediglich gebündelt und fokussiert wurden.
Die zweite Hälfte der Vorträge ist vor allem der Frage gewidmet, welche Mitglieder deutscher Universitäten seit dem Frühjahr 1933 aus ihren Positionen verdrängt wurden, und ob jüngere Emigranten es in ihren Zufluchtsländern (die Fallstudien berühren die USA, Palästina, Frankreich, die Niederlande und Großbritannien) leichter hatten, sich zu assimilieren oder die in ihrer Heimat begonnenen Forschungen fortzusetzen als ältere Emigranten. Die einzelnen Beiträge setzen Maßstäbe, was ihre methodische Fundierung, ihre quellenmäßige Absicherung sowie ihre Exemplarität angeht, wobei die jüngeren Mitarbeiter durchaus mit erfahrenen Forschern wie Lutz Niethammer, Anselm Gerhard, Michael H. Kater, Lutz Raphael, Wolfgang Keim, Claus-Dieter Krohn oder Friedrich Wilhelm Graf mithalten können, denen die Forschung maßgebliche Handbücher und Monographien zum Gegenstand verdankt.
Beide Bandteile sind von den Herausgebern mit grundlegenden Einleitungen versehen worden, die die Fragestellungen umreißen und geschickt zu den einzelnen Beiträgen hinführen, deren Ergebnisse knapp benennen und offen gebliebene Problemfelder und Forschungsdefizite aufweisen. Oexle verbindet zudem seine Einleitung mit einer eigenständigen Untersuchung zum Begriff „Neueuropa”, der vor allem seit dem Überfall auf die Sowjetunion dazu diente, die deutsche Vorherrschaft über den europäischen Kontinent zu legitimieren. Der Verfasser demonstriert, überraschend genug, das nationalsozialistische Europakonzept, welches zum Leitbegriff für Kunst und Literatur, Ökonomie, Bevölkerungspolitik und Kriegsführung wurde, an der Produktwerbung in der damaligen Tages- und Wochenpresse.
Insgesamt misst Oexle der Begrifflichkeit wohl eine allzu große Bedeutung bei, denn er unterstellt gewissen Konzepten eine Teleologie, die sie nicht hatten. Die einzelnen Beiträge dokumentieren geradezu die Beliebigkeit von Begriffen, die, je nach dem Wandel der politischen Großwetterlage, abgeändert, ergänzt oder völlig aufgegeben wurden, handele es sich um „Europa”, „Staat”, „Großraum”, „Ordnung”, „Machtstaat”, „Rasse”, „Volksgesundheit”, „Bildung” oder „Ertüchtigung”.
Selbst der Begriff „Deutsch”, mit dem sich einzelne Wissenschaften schmückten, war nicht eindeutig definiert, da im Rahmen von „Neueuropa” nicht nur die germanischen „Brüder” im Westen und Norden, sondern selbst Balten, Kelten und Romanen für „artverwandt” erklärt und zu Trägern wie Rezipienten „Deutscher” Wissenschaft gemacht wurden. Andererseits hielten selbst Exilierte (Tillich, Plessner, Kantorowicz) in der Anfangszeit der Naziherrschaft ihre wissenschaftlichen Arbeiten nicht immer frei von „anschlussfähiger” Begrifflichkeit. Hier wäre ein Rekurs auf Band 1 nützlich gewesen, denn zahlreiche Termini erfuhren ihre Virulenz erst in dem Maße, in dem im Ringen der Polykraten einzelne NS-Führer oder NS-Ministerien ihn verwendeten und für ihre Ziele instrumentalisierten.
So liefert das eindrucksvolle Triptychon der beiden Bände zum „Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften” (bewusst?) kein kohärentes Bild, zumal die Herausgeber auf eine Zusammenfassung und ein Gesamtregister verzichtet haben. Immerhin kann Bernd Weisbrods Beitrag zur Selbstentnazifizierung der Göttinger Professorenschaft als vorläufiges Fazit dienen. Er dokumentiert, wie Professoren ihre eigene Person, ihre Institute und die von ihnen beforschten und gelehrten Gegenstände über die Schwellenjahre 1933 und 1945 hinwegretteten. Dies war nur möglich dank eines Verhaltens, das Weisbrod als das „Moratorium der Mandarine” bezeichnet. Dahinter verbirgt sich das kollektive Standesbewusstsein der Ordinarien, welche sich zu „Auserwählten des Geistes” stilisierten. Dadurch konnten sie sich (mit der Ausnahme ihrer Rassenzugehörigkeit im Dritten Reich) nicht nur vor allzu starken Behördeneingriffen schützen, sondern später lange Zeit eine Offenlegung ihrer NS-Vergangenheit verhindern. Es ist dies nichts anderes als eine soziologische Begründung für die in den Universitäten zu konstatierende Kontinuität der Personen und Ideen über einschneidende politische Umbrüche hinweg.
FRANK-RUTGER HAUSMANN
HARTMUT LEHMANN / OTTO GERHARD OEXLE (Hrsg.): Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften. Band 2: Leitbegriffe - Deutungsmuster - Paradigmenkämpfe. Erfahrungen und Transformationen im Exil. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; 211). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004, 549 Seiten, 18 Abb., 78,00 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Frank-Rutger Hausmann weist auf die prägnante Umstellung im Titel des Sammelbandes hin, der die Rolle der Kulturwissenschaften im Nationalsozialismus untersucht. Der vorliegende Band - bereits der zweite - dokumentiert Beiträge von zwei Tagungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte. Der erste Teil widmet sich - eher begriffsgeschichtlich ausgerichtet - einzelnen Disziplinen, Hochschulen oder Karrieren, faßt Hausmann zusammen, der andere Teil verfolgt, welche Professoren aus deutschen Hochschulen verdrängt wurden und ob jüngere Emigranten bessere Chancen im Ausland gehabt hätten als ältere Kollegen. Beide Teile seien durch knappe wie profunde Einleitungen der Herausgeber miteinander verknüpft, versichert Hausmann. Am Beitrag des Herausgebers Oexle mäkelt er allerdings herum: dieser versucht sich an einer Bestimmung des Begriffs "Neueuropa", wie ihn die Nazis benutzten. Hier unterstelle der Autor der Begrifflichkeit mehr Teleologie, als sie tatsächlich gehabt habe, wendet er ein. Gerade die anderen Beiträge, deren methodisch-inhaltliche Qualität Hausmann herausstellt, demonstrierten ja ihre beliebige Verwendbarkeit - je nach politischer Wetterlage.

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