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Lange galten Himmlers Dienstkalender der beiden letzten Kriegsjahre als verschollen - bis man sie in einem russischen Archiv in der Nähe von Moskau fand. Die darin erfolgten Eintragungen sind deshalb so brisant, weil dieser Zeitraum den Höhepunkt der deutschen Gräueltaten an den Völkern Europas markiert. Erstmals werden sie nun durch ausgewiesene Experten für die Geschichte des Holocaust und der NS-Diktatur entschlüsselt und einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Der spektakuläre Fund belegt, wie diese Verbrechen vom Reichsführer-SS initiiert und organisiert wurden. Die Kalendernotizen…mehr

Produktbeschreibung
Lange galten Himmlers Dienstkalender der beiden letzten Kriegsjahre als verschollen - bis man sie in einem russischen Archiv in der Nähe von Moskau fand. Die darin erfolgten Eintragungen sind deshalb so brisant, weil dieser Zeitraum den Höhepunkt der deutschen Gräueltaten an den Völkern Europas markiert. Erstmals werden sie nun durch ausgewiesene Experten für die Geschichte des Holocaust und der NS-Diktatur entschlüsselt und einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Der spektakuläre Fund belegt, wie diese Verbrechen vom Reichsführer-SS initiiert und organisiert wurden. Die Kalendernotizen zeigen zudem, wer an diesen Entscheidungen beteiligt war, wer zum engsten Kreis um Himmler gehörte und wie jene Männer handelten, die Europa zerstörten und für den größten Massenmord der Geschichte verantwortlich sind.
Autorenporträt
Uhl, MatthiasDr. Matthias Uhl, Studium der Geschichte und der osteuropäischen Geschichte in Halle und Moskau. 2000-2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte/Abteilung Berlin. Seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Moskau. Forscht zur Geschichte der Sowjetunion und des Zweiten Weltkrieges. Veröffentlichte zur nationalsozialistischen Diktatur und sowjetischen Militärgeschichte.

Pruschwitz, ThomasThomas Pruschwitz, M. A., studierte Geschichte, Zeitgeschichte und Germanistische Literaturwissenschaft in Halle. Forschungsschwerpunkt Nationalsozialismus, insbesondere die Geschichte der SS. Arbeitet derzeit als freier Historiker: thomas-pruschwitz.de.

Holler, MartinMartin Holler, MA, studierte Geschichte und Slawistik. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der Geschichte des Nationalsozialismus und des Stalinismus. Er ist Autor diverser Beiträge zur nationalsozialistischen Verfolgung der Sinti und Roma im besetzten Europa und ihrer Erinnerung nach 1945.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.04.2020

Terminsache
Massenmord
Wichtige Teile von Himmlers Dienstkalender galten
als verloren – nun liegt eine aufwendige Edition vor
VON RUDOLF WALTHER
Ein Kalender ist kein Buch, sondern ein Rohdatenhaufen. Denn in Kalendern stehen – im Unterschied zu Tagebüchern – nur Ort und Zeit von Besprechungen, Ereignissen, geselligen Veranstaltungen sowie Namen und Funktion von Gesprächspartnern und Kurznotizen über nichtdienstliche Aktivitäten und Termine. Vor einigen Jahren wurden in einem Moskauer Archiv die verloren geglaubten Dienstkalenderblätter Heinrich Himmlers für die Zeit vom 1. Januar 1943 bis 14. März 1945 entdeckt, also für 804 Tage. Nur für sechs Tage fehlen die Blätter des Kalenders. Ein lesbares und obendrein höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügendes Buch wurde aus dem Datenhaufen auf den Kalenderblättern erst durch die ingeniöse Feinarbeit von fünf Historikern – Matthias Uhl, Thomas Pruschwitz, Martin Holler, Jean-Luc Leleu und Dieter Pohl.
Mit bewundernswürdiger Präzision haben sie in Kooperation mit Archivaren und Bibliothekaren die Rohdaten aus Himmlers Dienstkalender, aus seinem handschriftlich geführten Tischkalender sowie aus seinen Telefonbuchnotizen ergänzt und sachkundig kommentiert. Sie stützen sich dabei auf Quellenmaterial in den Archiven, auf Literatur zum historischen Kontext und wissenschaftliche Literatur, die sich auf das bezieht, was Himmler besprach, veranlasste oder verbot, was er kommentierte oder kaschierte. Erst durch diese akribische Dokumentation und Einordnung der Kalenderblätter der fünf Historiker gewinnen diese Konturen, die sich für den Leser zu einem facettenreichen Bild des Managers des Terrors und zu einer nuancierten Darstellung des arbeitsteilig und bürokratisch organisierten Verbrechens zusammenfügen.
Es waren keine irren Monster, die die Vernichtung des europäischen Judentums planen und durchführen ließen, sondern Männer einer durch die Kriegsniederlage von 1918, die missratene Revolution und den verbiesterten Frieden von Versailles geprägte, akademisch gebildete Generation. Diese orientierte sich mental und emotional an Ideen, die auf nationalistisch-völkisch-militaristischen Ressentiments beruhten. Deren ideologische Basis bildete der hetzerische Dualismus von Freund und Feind, der nach der Wirtschaftskrise von 1929 das Weltbild der bürgerlichen Eliten total und fast der Mehrheit der deutschen Bevölkerung vergiftete. In diesem politischen Klima wurde für Heinrich Himmler, Sohn eines bildungsbürgerlich-katholischen Gymnasiallehrers, im völkisch-antisemitischen Dunst Münchens in den 20er-Jahren die verrückt erscheinende Idee der Vernichtung der Juden zum zentralen Lebensthema: „Das Wichtigste ist mir nach wie vor, dass jetzt an Juden nach Osten abgefahren wird, was überhaupt nur menschenmöglich ist“ (9.4.1943). Er wurde Ende der 30er-Jahre, mit noch nicht 40 Jahren, zum „Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei“ und damit zu dem nach Hitler mächtigsten Mann. Er verfolgte drei Ideen, die sich zum historisch-weltanschaulich verbrämten Irrsinn eines „Germanentums“ amalgamierten – einem wüsten Gemisch aus rassistisch-nationalistischem Wahn, germanisch-arisch-deutscher Volkstumsideologie und unbegrenztem Vertrauen auf Gewalt als Mittel der Politik.
Was das im Alltag bedeutete, verrät der Dienstkalender nicht, wohl aber die Kommentierung und quellengestützte Kontextualisierung der Herausgeber. So schlug Himmler am 8. Februar 1943, an dem es eher um Routinesachen ging, seinem Stabschef vor, rund um die Außenanlagen der KZ Gassen zwischen Drahtverhauen zu errichten, in denen Hunde laufen sollten, die „mit Ausnahme ihres Wärters jeden anderen zerreißen“. Vier Tage später verzeichnet sein Dienstkalender für den 12. Februar lapidar: „Besichtigung des SS-Sonderkommandos“. Die Historiker bargen aus archivalischen Quellen den tatsächlichen Vorgang: Himmler ließ sich im Vernichtungslager Sobibor die Wirkung von Gas demonstrieren. Weil kein Häftlingstransport eintraf, improvisierten SS-Gruppenführer Odilo Globocnik und sein Kollege Friedrich Wilhelm Krüger und beschafften 200 jüdische Mädchen und Frauen, deren Ermordung mit Motorabgas Himmler beiwohnte. Dann versprach Himmler Globocnik „für die besonderen Leistungen dieser harten Aufgabe (…) nach Abschluss der Arbeiten“ eine Auszeichnung. Das bezog sich auf die „Aktion Reinhardt“, also den Massenmord an 250 000 Juden in Sobibor. Im Herbst 1943 gab Himmler dem Chef des SS-Wirtschafts- und Verwaltungsamtes den Befehl, Wehrmachtsschuhe von Häftlingen im KZ Sachsenhausen testen zu lassen. 170 schlecht ernährte Häftlinge mussten auf einer nur 700 Meter langen Teststrecke bis zu 48 Kilometer zurücklegen. Täglich starben dabei 15 bis 20 Menschen vor Erschöpfung oder wurden erschossen. Am 27. Oktober 1943 befahl Himmler, bevorzugt SS-Männer zu befördern, die sich im Kampf gegen Partisanen und Juden „in brutalster Form ausgezeichnet hatten“.
Wie ein roter Faden zieht sich durch den Dienstkalender Himmlers idée fixe des Niedergangs der „völkischem“ Entwicklung des Reiches. Dies motivierte ihn dazu, medizinische Untersuchungen an „fremdvölkischen“ KZ-Häftlingen zu bewilligen. Bei diesen Experimenten starben zahllose Menschen. Junggesellen in Hitlers Wachmannschaft ließ Himmler am 26. November 1944 befragen, „was sie bisher getan haben, um ihr Ledigsein bald aufhören zu lassen“. Einem SS-Mann gratulierte er zwei Monate vor dem Ende des Weltkriegs zum achten Kind und übernahm die Patenschaft für das neugeborene Mädchen. Notorisch kehren seine Bemühungen wieder, die Ehefrauen von Frontsoldaten „für gemeinsame Urlaubstage“ mit ihren Männern in Erholungsheime der SS einzuladen (19.6., 25.8., 2.10.1943). Geradezu skurril erscheint die Anordnung, Untersuchungen zur „Bekämpfung der Sterilität durch Moorbäder“ fortzusetzen oder SS-Männer darüber aufzuklären, „wann Frauen am besten Kinder bekommen.“ Den Wunsch eines Gestapo-Mitarbeiters, eine 50-jährige Frau zu heiraten, beschied Himmler negativ, „da aus dieser Ehe keine Kinder zu erwarten“ seien und empfahl, den Heiratswilligen „in das schwierigste Bandenkriegsgebiet zu versetzen“ (17.6.1943).
Himmler war machtbewusst und wusste, wie man Macht erringt, sichert und mehrt. Er hatte fast ein Dutzend Ämter inne, das wichtigste war das des Reichsführer-SS. Mit der Schaffung seiner Gefolgschaft von gewissenlos-ergebenen Höheren SS- und Polizeiführern (HSSPF) baute er seine Macht über das besetzte Europa aus. Entscheidend war aber der fast unbeschränkte Zugang zum „Führer“. Von 1943 bis März 1945 trafen sich Hitler und Himmler 168 Mal, also etwa alle fünf Tage. Mit seiner Ernennung zum Innenminister am 20. August 1943 und zum Befehlshaber des Ersatzheeres am 20. Juli 1944 gelangte er an die Spitze. Mit Hitler verband ihn besonders der Ausbau der SS, die Himmler zwischen Dezember 1942 von 246 000 Mann auf 600 000 Mann im Frühjahr 1944 ausbaute.
Am 21. März 1943 ernannte Himmler Erich von dem Bach-Zelewski, HSSPF Russland Mitte und Kommandant der Einsatzgruppe B, zum Chef der Bandenkampfverbände, die in Russland, Weißrussland und auf dem Balkan Zehntausende Partisanen, Juden und andere Zivilisten ermordeten. Von dem Bach leitete auch die Niederschlagung des Warschauer Aufstands im Herbst 1944, in deren Verlauf 100 000 Polen zur Zwangsarbeit nach Deutschland und 60 000 Juden nach Auschwitz deportiert wurden. Als Dank für die „Ausräumung des Weichselkessels“ und für die Unterstützung bei der Absetzung des „Reichsverwesers“ Miklós Horthy in Budapest („Operation Panzerfaust“) gewährte Himmler seinem skrupelfreien Gehilfen eine Kur in Karlsbad und verschaffte ihm eine Ju-52 als leistungsfähiges Dienstflugzeug und Ersatz für eine kleine Maschine. Die Loyalität seiner mörderischen Untergebenen sicherte sich von dem Bach, indem er an sie Uhren und andere Wertgegenstände verteilte, die er zuvor Juden rauben hatte lassen. In seinem Tagebuch notierte der Massenmörder von Himmlers Gnaden: „Gewiss ist die Liquidierung von Frauen und Kindern ein Verbrechen. (...) Mein Gewissen ist jedenfalls rein geblieben, denn ich habe stets die menschliche Linie vertreten, auch dort, wo ich hassen muss“.
Seine organisatorischen Fähigkeiten bewies Himmler mit dem forcierten Ausbau des KZ-Systems, das zum Rückgrat der Rüstungsindustrie wurde. Die Zahl der dafür gebauten Außenlager stieg bis Kriegsende auf mehr als 1000 und jene der Häftlinge von 120 000 im Jahr 1943 auf 718 000 Ende 1944.
Privat führte Himmler ein abgeschirmtes Doppelleben mit Ehefrau und Tochter am Tegernsee, wohin er selten fuhr, und seiner ehemaligen Sekretärin in Mecklenburg, mit der er zwei uneheliche Kinder zeugte, deren Vaterschaft er diskret anerkannte. Bei der Geliebten hielt er sich im Unterschied zur Ehefrau oft auf und kaschierte diese Abstecher in seinem Dienstkalender als „Inspektionsreise“ oder mit dem Hinweis „unterwegs“.
Uneingeschränkten Respekt verdienen die fünf Herausgeber für ihre wissenschaftliche und editorische Pionierleistung.
Matthias Uhl, Thomas Pruschwitz, Martin Holler, Jean-Luc Leleu, Dieter Pohl (Hg.): Die Organisation des Terrors. Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1943-1945. Piper Verlag, München 2020. 1148 Seiten, 48 Euro.
Uhrzeit und Namen aller
Teilnehmer der Besprechung,
Tag für Tag
Entscheidend war für Himmler
der fast unbeschränkte Zugang
zu Adolf Hitler
Als besonderen Dank
für einen Terrorgehilfen gab
es eine Kur in Karlsbad
Heinrich Himmlers Notizen
in seinem Tischkalender
vom 16. September 1943 (oben).
Die zugehörigen Terminblätter
(unten) wurden erst vor
wenigen Jahren entdeckt.
Foto: Scherl/SZ Photo,
Faksimile: Piper-Verlag (2)
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Dietmar Süss findet lohnende Lektüre in den von Matthias Uhl, Thomas Pruschwitz, Martin Holler, Jean-Luc Leleu und Dieter Pohl herausgebenen Dienstkalendern Heinrich Himmlers von 1943-1945. Nicht am Stück zu lesen seien diese Aufzeichnungen Himmlers über Treffen, Reisen, Vorträge, Besuche bei der Geliebten und vor allem die bürokratischen Prozesse der Judenvernichtung, meint Süss. In der vorbildlichen Edition finden sich laut Rezensent zwar keine sensationellen Funde oder Privates, dafür aber eine Fülle an Informationen über Netzwerke und Arbeitsweisen des Machtmenschen Himmler und seiner Entourage, über die Expansion des Lagersystems und die "Brutalität der Vernichtung".

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.08.2020

Führungspersonal wurde persönlich geprüft
Entschlüsselungsarbeit: Eine Edition des Dienstkalenders Heinrich Himmlers aus den letzten Kriegsjahren

Vier saßen zusammen um halb zehn abends in der Feldkommandostelle Hochwald. Der Tag klang langsam aus, und die Herren spielten eine Runde Doppelkopf: SS-Oberst- Gruppenführer Kurt Daluege, SS-Obergruppenführer Karl Wolff, Obersturmbannführer Dr. Rudolf Brandt und der Chef persönlich, Heinrich Himmler. Es war der 17. August 1943. Himmler wusste bereits, was wenige Tage später offiziell würde: seine Ernennung zum Reichsminister des Inneren - und damit ein weiterer Schritt auf seinem Weg zum "Herrn der Sicherheit" im Reich und in den besetzten Gebieten. Er werde, kündigte Himmler an, die neue Behörde auch nicht als Minister, sondern als Reichsführer SS führen - und das verhieß vor allem eine weitere Radikalisierung der Germanisierungs- und Vernichtungspolitik. In diese Monate, in den Spätsommer und Herbst 1943, fiel die Endphase der berüchtigten "Aktion Reinhardt", bei der etwa 1,5 Millionen Juden aus ganz Europa in den Vernichtungslagern ermordet wurden.

Heinrich Himmler, im Jahr 1900 in München geboren und Sohn eines Oberstudiendirektors, war einer der zentralen Architekten der Judenvernichtung: Reichsführer SS, Chef der deutschen Polizei, Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums, zuletzt, im Jahr 1944, auch noch Befehlshaber des Ersatzheeres. In seiner Person bündelte sich die ganze Macht des nationalsozialistischen Maßnahmenstaates, und gemeinsam mit seinem Stab waren Terror, Ausbeutung und Mord das tägliche Geschäftsfeld dieser gutbürgerlichen "Weltanschauungskrieger", die sich mit dem Deckmantel vermeintlicher kühler "Rationalität" und charakterlicher "Unbedingtheit" umgaben.

Dass nun eine Gruppe von Historikern an unterschiedlichen Standorten sich aufgemacht hat, in mühevoller Kleinarbeit den Dienstkalender Himmlers für den Zeitraum von Januar 1943 bis zum 14. März 1945 zu edieren, ist ein wahrhafter Glücksfall. Nicht, weil die Edition mit sensationellen neuen Funden, gar mit einer Neubewertung Heinrich Himmlers aufwarten würde. Solch großspuriges Auftreten hat die Gruppe um Mathias Uhl vom Deutschen Historischen Institut in Moskau gar nicht nötig. Die Edition ist deshalb ein so außerordentlicher Gewinn, weil sie es im Detail ermöglicht, die Alltagsroutinen, die Netzwerke und Arbeitsweisen nicht nur Himmlers, sondern seiner ganzen Entourage genau nachzuvollziehen. Sichtbar werden - hinter den nüchternen Eintragungen über Treffen, Reisen und Vorträge - die bürokratischen Prozesse und die pure Gewalt, die Himmlers Arbeit prägte. Man sieht hier gewissermaßen Verbrechern bei der Arbeit zu. Und Himmler war einer der größten.

Er persönlich steuerte den Mord an den Juden im besetzten Polen. Am 17. Juli 1942 hatte er an der Ermordung von Juden in Auschwitz teilgenommen, und am 12. Februar 1943 ließ er sich in Sobibor genauestens vorführen, wie mit Gas effizient getötet werden könne. Was ihn interessierte, waren die Gaskammern im Lagerteil III. Allerdings, und das stellte sich aus der Sicht seines Stabes und der Verantwortlichen vor Ort als Problem dar, gab es an diesem Tag keinen neuen Deportationszug. Die Antwort: Die SS brachte zweihundert Mädchen und Frauen aus der näheren Umgebung ins Lager, um für Ersatz zu sorgen. Anschließend besprach sich Himmler unter anderem mit Odilo Globocnik, dem Chef der "Aktion Reinhardt" und Verantwortlichen für die Vernichtungslager Belzec, Treblinka und Sobibor. Himmlers Forderung: Alles, was aus dem geraubten jüdischen Besitz stamme, müsse aufgelistet und erfasst werden. Dafür und "für die besonderen Leistungen dieser harten Aufgabe" könne Globocnik mit einer Auszeichnung rechnen.

Im Kalender finden sich für diese Dienstreise nur wenige, spröde Einträge: "12.30 Uhr: Start mit dem Wagen nach Cholm. 14.00 Uhr: Start von Cholm mit Sonderzug zum SS-Sonderkommando; 15.00 - 16.00 Uhr: Besichtigung des SS-Sonderkommandos; 16.00 Uhr: Rückfahrt nach Cholm". Die Editorengruppe hat nicht nur den Dienstkalender sorgsam kommentiert und Treffen um Treffen entschlüsselt, sie hat die Dokumente auch um weitere wichtige Quellen wie Himmlers handschriftlich geführten Tischkalender und seine Telefonbuchnotizen ergänzt.

Die Edition vermittelt einen umfassenden Einblick in die Expansion des KZ-Systems und die Verbrechen der Endphase, und sie macht dank der Kommentierung deutlich, wie eng verbunden die scheinbare Banalität des bürokratischen Alltags und die Brutalität der Vernichtung waren. Himmler trieb diese Politik voran und genehmigte persönlich die Menschenversuche in den Konzentrationslagern: die Gelb- und Fleckfieber-Versuche und auch die Experimente mit dem Kampfstoff Lost. Einen beträchtlichen Teil seiner Arbeit widmete Himmler, von Hitler persönlich dazu ernannt, dem Kampf gegen Partisanen. Die Politik der "toten Zone", als die SS schließlich im Sommer 1943 dazu überging, solche Regionen von Einwohnern zu räumen, in denen man Partisanen vermutete, führte zu einer immer weiteren Ausdehnung der Übergriffe gegen die sowjetische Zivilbevölkerung. Sie waren die größte Opfergruppe unter den vermutlich 400 000 bis 500 000 Getöteten in den besetzten sowjetischen Gebieten.

Über Himmler als Privatmann geben die Kalender nur indirekt Aufschluss. Seine Frau und seine Tochter, die in Gmund am Tegernsee wohnten, besuchte Himmler immer wieder, wenn er in München zu tun hatte. Seit Ende 1938 hatte Himmler ein Verhältnis mit seiner damaligen Privatsekretärin, Hedwig Potthast. Sie lebte zunächst in Berlin, später dann im oberbayerischen Schönau. Ein Besuch bei ihr fand sich im Kalender dann als "Inspektionsreise", manchmal hieß es auch einfach nur "unterwegs" oder ein Eintrag unterblieb ganz.

Aufschlussreicher als diese Details aus seinem Privatleben sind die Hinweise auf seine zahlreichen persönlichen Treffen mit dem NS-Führungspersonal. Beinahe täglich gingen Divisions- und Regimentsführer bei Himmler ein und aus, und selbst für niedrigere Funktionsträger nahm sich Himmler Zeit, wenn sie in der Feldkommandostelle zu tun hatten. "Menschenführung" von "Mann zu Mann", mit dem Ziel, Autoritäts- und Loyalitätsbande zu knüpfen und zudem sich ein eigenes Bild über die Lage an der Front, die Stimmung in der Truppe oder der SS zu verschaffen - ein solches Verständnis von "Führung" prägte Himmler, bestimmte seinen Arbeitsalltag und bot ihm zudem die Chance, den weltanschaulichen Nachwuchs an sich zu binden. Himmlers Kalender war ein wichtiges Instrument seiner Herrschaftsführung, insofern verbergen sich in den dürren Einträgen zentrale Komplexe nationalsozialistischer Verbrechenspolitik, die die Herausgeber Schritt für Schritt freilegen. Sie zeigen Himmler als einen radikalen, immer auf die Ausdehnung der eigenen Kompetenzen setzenden Machtpolitiker und Antisemiten.

Die Dokumente dieser Edition haben eine eigene Geschichte, die es lohnt, erzählt zu werden. Gerne hätte man ein klein wenig mehr über eine Geschichte in der Geschichte erfahren, nämlich den verschlungenen Weg der 2600 Kisten, die die Sondereinheiten der Roten Armee und des Geheimdienstes NKWD an sich gebracht und dann nach Moskau gebracht hatten. Die Aktenberge, in denen sich auch Himmlers Aufzeichnungen befanden, gelangten zunächst in das Sonderarchiv des sowjetischen Innenministeriums. Der KGB übernahm sie schließlich, und bei ihm lagen sie dann bis zum Ende der Sowjetunion. Ende der neunziger Jahre fanden Historiker den Schatz - und veröffentlichten den Dienstkalender für die Jahre 1941/42. Solche Editionen lesen sich nicht am Stück, bedeuten für die Leser Arbeit. Aber es ist eine Lektüre, die lohnt.

DIETMAR SÜSS

"Die Organisation des Terrors". Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1943-1945.

Hrsg. von Matthias Uhl, Thomas Pruschwitz, Martin Holler, Jean-Luc Leleu und Dieter Pohl. Piper Verlag, München 2020. 1152 S., geb., 48,- [Euro].

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»Uneingeschränkten Respekt verdienen die fünf Herausgeber für ihre wissenschaftliche und editorische Pionierleistung.« Süddeutsche Zeitung 20200406