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1933 ist Tamara Danischewski 21 Jahre alt. Sie studiert in Dresden Tanz bei Mary Wigman und Gret Palucca. Abends tritt sie im Kabarett auf, um für sich und ihre Mutter Geld zu verdienen. Dort lernt sie den Maler Otto Dix kennen, der sie während vieler Sitzungen porträtiert, eine Freundschaft entsteht. Dann aber verlässt Dix, als einer der ersten Künstler in der NS-Zeit aus dem Lehramt entlassen, die Stadt. Tamara bekommt einige große Auftrittsangebote, doch sie geht das Wagnis eines ungesicherten Lebens als Tänzerin nicht ein. Stattdessen heiratet sie 1936 einen Mann, der ihr und ihrer Mutter…mehr

Produktbeschreibung
1933 ist Tamara Danischewski 21 Jahre alt. Sie studiert in Dresden Tanz bei Mary Wigman und Gret Palucca. Abends tritt sie im Kabarett auf, um für sich und ihre Mutter Geld zu verdienen. Dort lernt sie den Maler Otto Dix kennen, der sie während vieler Sitzungen porträtiert, eine Freundschaft entsteht. Dann aber verlässt Dix, als einer der ersten Künstler in der NS-Zeit aus dem Lehramt entlassen, die Stadt. Tamara bekommt einige große Auftrittsangebote, doch sie geht das Wagnis eines ungesicherten Lebens als Tänzerin nicht ein. Stattdessen heiratet sie 1936 einen Mann, der ihr und ihrer Mutter zwar eine gesicherte Existenz bieten kann, Tamara jedoch das Tanzen verbietet und dem sie sich, wie viele Frauen ihrer Generation, zur Gänze unterordnet. Alt geworden, erinnert sich Tamara an ein glanzvolles Leben, in dem noch alles möglich schien.
Autorenporträt
Jäckle, Nina
Nina Jäckle 1966 in Schwenningen geboren, in Stuttgart aufgewachsen, absolvierte Sprachschulen in der französischen Schweiz und Paris; eigentlich wollte sie französische Literatur übersetzen, beschloss dann aber, lieber selbst zu schreiben. Bei Klöpfer & Meyer erschien von ihr 2010 die Erzählung »Nai oder was wie so ist«, 2011 der Roman »Zielinski« und 2014, gefördert vom Deutschen Literaturfonds, der Roman »Der lange Atem«, für den sie 2014 mit dem Tukan-Preis der Stadt München und 2015 mit dem Evangelischen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Zudem erhielt sie 2015 den Italo-Svevo-Preis für ihr Gesamtwerk und das Stipendium der Deutschen Akademie Rom Villa Massimo 2016/17.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.07.2017

Das beste Porträt der Tänzerin ist von nun an das geschriebene
Nina Jäckle nimmt für ihren Roman "Stillhalten" das von Otto Dix gemalte Bildnis einer jungen Frau zum Ausgangspunkt einer späten Selbstbefreiung

Nina Jäckle ist nicht die Frau für dicke Bücher, aber deshalb keineswegs auch die Frau für dünne Themen. Die Romane der 1966 geborenen Schriftstellerin sind vielmehr von einer Konzentration, die noch die komplexesten Ereignisse im Spiegel individueller Existenz zu fassen versteht. Mustergültig führte das vor drei Jahren "Der lange Atem" vor, ein Kurzstreckenbuch über einen japanischen Phantombildzeichner, der mittels seiner Begabung die Gesichter der bei der Atomkatastrophe von Fukushima Verschollenen wieder ins Gedächtnis ruft - weniger in der Hoffnung, diese noch zu finden, als im Bemühen, den Hinterbliebenen damit einen Trost zumindest in der Memoria zu bieten.

So zeitaktuell ist der nun gerade erschienene neue Roman "Stillhalten", der mit knapp 190 Seiten wieder ähnlich schmal geraten ist wie "Ein langer Atem" (und wie alle weiteren fünf früheren Jäckle-Romane seit dem 2004 erschienenen "Noll"), nicht. Er erzählt in mehrfacher Hinsicht davon, was eine kleine Liebe ist. Die von der 1912 geborenen Tamara Danischewski zum modernen Ausdruckstanz, der damals in ihrem Wohnort Dresden von Revolutionärinnen wie Mary Wigman und Gret Palucca gelehrt wurde - von der Letzteren auch der jungen Tamara. Klein musste diese Liebe bleiben, weil mit der Weimarer Republik die für die ästhetische Kraft dieser Kunstform nötige Offenheit endete; Tamara verdingte sich danach als Varietétänzerin und fand als solche Gefallen bei einem jungen Nazi-Offizier, der sie 1936 heiratete. Aber auch das blieb eine kleine Liebe, denn Kinder kamen nach einer Fehlgeburt keine mehr, und der Mann erwartete trotzdem, dass sich seine Gattin ein Leben lang als Hausfrau betätigte. Und schließlich jene kleine Liebe, die 1933 aus der Faszination eines großen Künstlers, Otto Dix, für die hübsche junge Frau entstanden war und in ein berühmtes Bild mündete: das heute im Kunstmuseum Stuttgart befindliche Porträt der Tänzerin Tamara Danischewski. Noch im selben Jahr wurde Dix von seinem Lehrstuhl an der Dresdner Kunstakademie verjagt, und mehr als das Bild blieb nicht von einer Liebe, die nicht übers Atelier hinauswachsen konnte.

Tamara Danischewski war die Großmutter von Nina Jäckle, doch das tut nur insofern etwas zur Sache, als dass es begreiflich macht, wie sehr sich die Protagonistin aus "Stillhalten" von ihrem historischen Vorbild gelöst hat. Nicht ein Nacherzählen dieses Lebens ist die Absicht des Romans, sondern er zielt auf das Psychogramm einer Frau ab, die im bewegten Neuen ihr Ideal gefunden hatte und dann ins starre Alte gezwungen wurde, zum Stillhalten eben. Auch schon von Dix - als Modell ohnehin, doch ebenfalls als Porträtierte, deren Bildnis die Neue Sachlichkeit schon hinter sich gelassen und auf Ausdrucksmittel der deutschen Renaissance zurückgegriffen hat. In einer bewegenden Stelle des Buchs erinnert sich Tamara, deren Bewusstseinsstrom auktorial dargeboten wird, eines Gesprächs mit der eigenen Mutter über den aus Dresden in den äußersten Südwesten Deutschlands ausgewichenen Dix: "Du hast recht, hatte sie damals zu ihrer Mutter gesagt, für mich ist es besser, dass er sein Atelier, dass er die Stadt verlassen hat, dass er aufs Land gezogen ist und nur mehr auf friedliche Landschaft sieht, so muss ich nicht miterleben, was aus ihm nun werden wird, zur Idylle ist die Kunst gezwungen, Fackelträger statt Bettler, blauer Himmel und Sonne statt Schutt und Asche. Genau so wird Grausamkeit erst möglich, denn sobald man das Leid verschweigt, ist Mitleid nicht mehr erforderlich. Sie haben uns das Schweigen beigebracht." Mit dem letzten Satz, dem Wechsel von "er" zu "uns", wendet sie die Diagnose des Dixschen Verstummens als Künstler auch gegen sich selbst.

Erzählt wird in "Stillhalten" aus einer viel späteren Perspektive: Die Ehe von Tamara besteht nach mehreren Jahrzehnten nur noch der Form nach, weil ihr nach dem Krieg nun in Westdeutschland als Steinbruchbesitzer lebender Mann den gesellschaftlichen Erwartungen entsprechen will. Doch jetzt ist sein Geschäft gescheitert, er selbst hat das Haus verlassen, und Tamara wartet darauf, dass die Gläubiger auch sie hinauswerfen. In der Situation dieser Zwischenzeit, die alles, was sie an Opfern gebracht hat, im Nachhinein ins Unrecht zu setzen scheint, erinnert sie sich während der unbeirrt fortgesetzten alltäglichen Rituale in Haus und Garten mittels ständig wieder von der Gegenwart unterbrochenen Impressionen an die Dresdner Zeit, an die doppelte Flucht mit der Mutter (erst als kleines Kind aus Finnland nach Sachsen, dann später vor der Roten Armee von dort in den Westen), an die Porträtsitzungen bei Dix, an die Engagements in den Nachtlokalen, die erste Zeit mit ihrem Mann, die Fehlgeburt, die Entfremdung. "Stillhalten" ist ungeachtet seines Titels eine Folge von Variationen über diese Themen: Immer mehr Details sammeln sich an, immer präziser wird das geschriebene Porträt Tamaras, bis die junge Tänzerin in der alten Frau wieder erwacht: "Der Plan ist, sich federleicht in die Luft zu erheben, sich durch einen einfachen Lufthauch in Bewegung zu setzen und fortzuschweben, um sich niederzulassen, um von Neuem zu beginnen an einem anderen Ort, worauf warte ich, wird Tamara denken, es wird bereits dunkel geworden sein." Es ist die große Prosakunst von Nina Jäckle, dass wir diese Selbstbefreiung aus dem Stillhalten wahlweise als Phantasie, als frischen Lebensmut oder auch als letztes Aufflackern deuten können. "Stillhalten" bewegt auf die schönste Weise.

ANDREAS PLATTHAUS

Nina Jäckle: "Stillhalten".

Roman.

Verlag Klöpfer & Meyer,

Tübingen 2017. 190 S., geb., Abb., 20,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.11.2017

Der Wald, der
See, das Dorf
Nina Jäckles Roman über ihre
Großmutter, die Tänzerin
In einem dunkelgrausamtenen Kleid steht sie kerzengerade da. Herzförmiges Gesicht, kleine Augen, schmale Lippen, die lächeln, goldenes Haar. Zwischen Daumen und Zeigefinger hält sie eine Iris. Hoffnungsvoll scheint sie der Zukunft entgegenzublicken. Ganz anders als die Verlorenen und Verwelkten, die der Maler sonst abbildet. Im Hintergrund wuchert der Hopfen. Rückblickend wird man sagen können, das Gewächs stehe sinnbildlich für den sich ausbreitenden Nationalsozialismus. Rückblickend wird ihre Enkelin schreiben, das Bild enthalte alles, „was an Bedeutendem geschehen ist, gleichsam alles das, was daraus noch hätte entstehen können“.
Im Jahr 1933 porträtierte Otto Dix die junge Tänzerin Tamara Danischewski. Sie studierte Ausdrucktanz bei Mary Wigman in Dresden. Um Geld für sich und ihre Mutter zu verdienen, trat Tamara abends im Kabarett auf. Dort begegnete sie Dix zum ersten Mal. Er bittet sie, für ihn Modell zu stehen. Doch für beide, den Maler und die Tänzerin, wird das fertige Bildnis zum Wendepunkt, die Pose zur Lebensform: Stillhalten. Dix wurde 1933 aus seinem Lehramt an der Dresdner Akademie entlassen. Als einer der ersten Künstler verließ er die Stadt. Tamara heiratete drei Jahre später einen Mann, der ihr das Überleben sicherte und sie zwang, das Tanzen für immer aufzugeben. „Er hat mich gefragt, und ich sagte Ja, und gleichzeitig auch sagte ich Nein, zu allem anderen, das vielleicht hätte werden können.“
„Stillhalten“ ist ein großer Möglichkeitsroman. Nina Jäckle erzählt die Geschichte eines vergebenen Lebens. Von Sehnsucht und der Sogkraft der Erinnerung. Die Frage, die der Text unaufhörlich stellt, lautet, was wäre wenn? Hat dieser Mann, der ihrer Großmutter im entscheidenden Moment die Hand reichte und sie von der Bühne hinab in den Zuschauerraum holte, Tamara gerettet oder ins Unglück gestürzt? Vielleicht beides. „Es hätte Turin sein können, Mailand, Genua, es hätte Amerika sein können, und es wurde der Wald, der See, das Dorf.“ Ausgerechnet ein zum See gewordener Steinbruch, wird zum Ort ihres Lebens. Die ehemals Schwebende zum Findling, „hierher verfrachtet und nicht mehr unter seinesgleichen“.
Wie der getretene Hund im Zwinger, sitzt die alt gewordene Tamara bei angestellter Alarmanlage im Obergeschoss des Hauses. „Meine verriegelte Welt, wer hätte das gedacht, einst, als ich noch jung war und mit keinem meiner Füße den Boden berührte“, schreibt sie in ihr Abrechnungsbuch. Nebensächliches und Existenzielles sind darin immer eins. Über dem Schreibtisch hängt das Duplikat des Bilds. Regelmäßig bekommt sie Postkarten, auf denen steht, wo es im Original zu sehen ist. Ihr Porträt reist um die Welt, während Tamara nie mehr fort kommt. Ihr neuer Rahmen ist das Fenster, aus dem sie nach draußen sieht und sich fragt, „ob sie nicht mehr vom Himmel, mehr vom Leben verdient hätte“.
Nina Jäckle erzählt ganz nah an ihrer Protagonistin. Der Name Otto Dix fällt auf 180 Seiten kein einziges Mal. Bedeutung generiert sich durch genaues Beobachten und eine präzise, bildhafte Sprache, die einer assoziativen Logik folgt. Vergangenheit und Gegenwart sind ineinander verwoben. So entfaltet sich im Leser wie nebenbei auch eine Idee von der Entstehung des Kunstwerks. Der Text fungiert sozusagen als Making-of des Bilds, etwa in der Szene, als Dix und Tamara tanzen, während eine Farbschicht trocknet.
Es sind vor allem die Dinge, denen sich Tamara auf ihrer ständigen Suche nach Klang und Schönheit zuwendet. Der Welt der Pflanzen und Tiere fühlt sie sich verbunden. Ihrem Mann, der das Erdgeschoss des Hauses bewohnt, begegnet sie nur vier Mal im Monat, sonntags beim gemeinsamen Frühstück. Im Roman bleibt Tamaras Ehe kinderlos. Umso berührender liest sich jene Passage, in der sich die Enkeltochter als Möglichkeit in den Text hineinschreibt. Was bleibt ist eine Leerstelle, der Abdruck einer Fliege vielleicht, die im Moment des Nachdenkens gegen die Fensterscheibe prallte.
Diese Stellen, an denen der Text über sich selbst und sein Gestaltungsprinzip nachdenkt, sind so schön wie erhellend. Die geschriebene Geschichte erscheint so nur als eine von vielen möglichen Varianten, genau wie Otto Dix’ Bildnis der jungen Tänzerin. Es könnte alles auch ganz anders sein. Alles ist beliebig, in der Kunst wie im Leben. Auf die ästhetische Umsetzung kommt es an.
„Nun stehe ich hier in dieser Variante“, denkt Tamara, und „wischt mit einem weißen Stofftaschentuch über die Fensterscheibe“. Es ist einer jener kurzen Momente geglückter Gegenwart und Dichte, die nur die Literatur hervorzubringen vermag.
JESSICA SABASCH
Als sie jung war, berührte sie mit
keinem ihrer Füße den Boden,
nun ist die Welt verriegelt
Nina Jäckle: Stillhalten. Roman. Verlag Klöpfer und Meyer, Tübingen 2017.
190 Seiten, 20 Euro.
E-Book 13,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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"Nina Jäckle hat einen bezaubernden Weg gefunden, die Tänzerin Tamara Danischewski durch ihr Leben zu begleiten. Klar, deutlich, poetisch schön: Stillhalten! - unbedingt lesen."
Christel Freitag, Südwestrundfunk

"Nina Jäckles Poetisierung der Erfindungsgabe - oder was man mit Sprache alles anfangen kann."
Süddeutsche Zeitung

"Nina Jäckle hat bewirkt, was in der deutschsprachigen Literatur selten geworden ist: Sie hat mit ihren Büchern einen Stil geschaffen."
Deutschlandfunk
Das beste Porträt der Tänzerin ist von nun an das geschriebene
Nina Jäckle nimmt für ihren Roman "Stillhalten" das von Otto Dix gemalte Bildnis einer jungen Frau zum Ausgangspunkt einer späten Selbstbefreiung

Nina Jäckle ist nicht die Frau für dicke Bücher, aber deshalb keineswegs auch die Frau für dünne Themen. Die Romane der 1966 geborenen Schriftstellerin sind vielmehr von einer Konzentration, die noch die komplexesten Ereignisse im Spiegel individueller Existenz zu fassen versteht. Mustergültig führte das vor drei Jahren "Der lange Atem" vor, ein Kurzstreckenbuch über einen japanischen Phantombildzeichner, der mittels seiner Begabung die Gesichter der bei der Atomkatastrophe von Fukushima Verschollenen wieder ins Gedächtnis ruft - weniger in der Hoffnung, diese noch zu finden, als im Bemühen, den Hinterbliebenen damit einen Trost zumindest in der Memoria zu bieten.

So zeitaktuell ist der nun gerade erschienene neue Roman "Stillhalten", der mit knapp 190 Seiten wieder ähnlich schmal geraten ist wie "Ein langer Atem" (und wie alle weiteren fünf früheren Jäckle-Romane seit dem 2004 erschienenen "Noll"), nicht. Er erzählt in mehrfacher Hinsicht davon, was eine kleine Liebe ist. Die von der 1912 geborenen Tamara Danischewski zum modernen Ausdruckstanz, der damals in ihrem Wohnort Dresden von Revolutionärinnen wie Mary Wigman und Gret Palucca gelehrt wurde - von der Letzteren auch der jungen Tamara. Klein musste diese Liebe bleiben, weil mit der Weimarer Republik die für die ästhetische Kraft dieser Kunstform nötige Offenheit endete; Tamara verdingte sich danach als Varietétänzerin und fand als solche Gefallen bei einem jungen Nazi-Offizier, der sie 1936 heiratete. Aber auch das blieb eine kleine Liebe, denn Kinder kamen nach einer Fehlgeburt keine mehr, und der Mann erwartete trotzdem, dass sich seine Gattin ein Leben lang als Hausfrau betätigte. Und schließlich jene kleine Liebe, die 1933 aus der Faszination eines großen Künstlers, Otto Dix, für die hübsche junge Frau entstanden war und in ein berühmtes Bild mündete: das heute im Kunstmuseum Stuttgart befindliche Porträt der Tänzerin Tamara Danischewski. Noch im selben Jahr wurde Dix von seinem Lehrstuhl an der Dresdner Kunstakademie verjagt, und mehr als das Bild blieb nicht von einer Liebe, die nicht übers Atelier hinauswachsen konnte.

Tamara Danischewski war die Großmutter von Nina Jäckle, doch das tut nur insofern etwas zur Sache, als dass es begreiflich macht, wie sehr sich die Protagonistin aus "Stillhalten" von ihrem historischen Vorbild gelöst hat. Nicht ein Nacherzählen dieses Lebens ist die Absicht des Romans, sondern er zielt auf das Psychogramm einer Frau ab, die im bewegten Neuen ihr Ideal gefunden hatte und dann ins starre Alte gezwungen wurde, zum Stillhalten eben. Auch schon von Dix - als Modell ohnehin, doch ebenfalls als Porträtierte, deren Bildnis die Neue Sachlichkeit schon hinter sich gelassen und auf Ausdrucksmittel der deutschen Renaissance zurückgegriffen hat. In einer bewegenden Stelle des Buchs erinnert sich Tamara, deren Bewusstseinsstrom auktorial dargeboten wird, eines Gesprächs mit der eigenen Mutter über den aus Dresden in den äußersten Südwesten Deutschlands ausgewichenen Dix: "Du hast recht, hatte sie damals zu ihrer Mutter gesagt, für mich ist es besser, dass er sein Atelier, dass er die Stadt verlassen hat, dass er aufs Land gezogen ist und nur mehr auf friedliche Landschaft sieht, so muss ich nicht miterleben, was aus ihm nun werden wird, zur Idylle ist die Kunst gezwungen, Fackelträger statt Bettler, blauer Himmel und Sonne statt Schutt und Asche. Genau so wird Grausamkeit erst möglich, denn sobald man das Leid verschweigt, ist Mitleid nicht mehr erforderlich. Sie haben uns das Schweigen beigebracht." Mit dem letzten Satz, dem Wechsel von "er" zu "uns", wendet sie die Diagnose des Dixschen Verstummens als Künstler auch gegen sich selbst.

Erzählt wird in "Stillhalten" aus einer viel späteren Perspektive: Die Ehe von Tamara besteht nach mehreren Jahrzehnten nur noch der Form nach, weil ihr nach dem Krieg nun in Westdeutschland als Steinbruchbesitzer lebender Mann den gesellschaftlichen Erwartungen entsprechen will. Doch jetzt ist sein Geschäft gescheitert, er selbst hat das Haus verlassen, und Tamara wartet darauf, dass die Gläubiger auch sie hinauswerfen. In der Situation dieser Zwischenzeit, die alles, was sie an Opfern gebracht hat, im Nachhinein ins Unrecht zu setzen scheint, erinnert sie sich während der unbeirrt fortgesetzten alltäglichen Rituale in Haus und Garten mittels ständig wieder von der Gegenwart unterbrochenen Impressionen an die Dresdner Zeit, an die doppelte Flucht mit der Mutter (erst als kleines Kind aus Finnland nach Sachsen, dann später vor der Roten Armee von dort in den Westen), an die Porträtsitzungen bei Dix, an die Engagements in den Nachtlokalen, die erste Zeit mit ihrem Mann, die Fehlgeburt, die Entfremdung. "Stillhalten" ist ungeachtet seines Titels eine Folge von Variationen über diese Themen: Immer mehr Details sammeln sich an, immer präziser wird das geschriebene Porträt Tamaras, bis die junge Tänzerin in der alten Frau wieder erwacht: "Der Plan ist, sich federleicht in die Luft zu erheben, sich durch einen einfachen Lufthauch in Bewegung zu setzen und fortzuschweben, um sich niederzulassen, um von Neuem zu beginnen an einem anderen Ort, worauf warte ich, wird Tamara denken, es wird bereits dunkel geworden sein." Es ist die große Prosakunst von Nina Jäckle, dass wir diese Selbstbefreiung aus dem Stillhalten wahlweise als Phantasie, als frischen Lebensmut oder auch als letztes Aufflackern deuten können. "Stillhalten" bewegt auf die schönste Weise.

ANDREAS PLATTHAUS

Nina Jäckle: "Stillhalten".

Roman.

Verlag Klöpfer & Meyer,

Tübingen 2017. 190 S., geb., Abb., 20,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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