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Das Eichsfeld war ein politisches Ausnahmegebiet in der DDR, das die SED-Diktatur vor besondere Herausforderungen stellte, ja bis an den Rand der Verzweiflung trieb. Um die Einflusssphäre der katholischen Kirche zurückzudrängen und in der industriearmen Region die soziale, wirtschaftliche, aber auch kulturelle Infrastruktur auszubauen, beschloss die Partei 1959 den »Eichsfeldplan«. Aus der katholischen Hochburg sollte eine sozialistische Industrieregion werden. Christian Stöber bilanziert die Eichsfeldpolitik der SED, aber auch die gesellschaftlichen Reaktionen und Wechselwirkungen - und…mehr

Produktbeschreibung
Das Eichsfeld war ein politisches Ausnahmegebiet in der DDR, das die SED-Diktatur vor besondere Herausforderungen stellte, ja bis an den Rand der Verzweiflung trieb. Um die Einflusssphäre der katholischen Kirche zurückzudrängen und in der industriearmen Region die soziale, wirtschaftliche, aber auch kulturelle Infrastruktur auszubauen, beschloss die Partei 1959 den »Eichsfeldplan«. Aus der katholischen Hochburg sollte eine sozialistische Industrieregion werden.
Christian Stöber bilanziert die Eichsfeldpolitik der SED, aber auch die gesellschaftlichen Reaktionen und Wechselwirkungen - und zeigt, wie sich das katholische Milieu mit missmutiger Anpassung, Eigensinn und weltanschaulicher Verweigerung gegenüber den staatsparteilichen Drangsalierungen und Repressionen erfolgreich zu behaupten wusste.
Autorenporträt
Jahrgang 1987, Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Friedens- und Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg, Promotionsstipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung, seit 2017 pädagogischer und wissenschaftlicher Leiter des Grenzmuseums Schifflersgrund in Thüringen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.12.2019

Zement
statt CDU
Christian Stöber erklärt anschaulich, wie die SED mit
den vielen gläubigen Katholiken im Eichsfeld umsprang
VON RENÉ SCHLOTT
Kahle Bäume, weiße Felder. Eine Landschaftsidylle im Winter. In der Bildmitte erhebt sich eine Kirche mit prägnantem Turm. Rund herum stehen schneegepuderte Wohnhäuser. Doch im Hintergrund des Schwarz-Weiß-Fotos erhebt sich ein riesiges Fabrikgebäude, dessen Türme Häuser und Kirche weit überragen, ja zu erdrücken scheinen, ihnen aber standhalten.
Man könnte diese beeindruckende Aufnahme des Fotografen Roger Melis aus dem Jahr 1976, die das thüringische Dorf Deuna und sein Zementwerk zeigt, für eine Allegorie auf die Geschichte des Eichsfelds von 1945 bis 1989 halten. Jene katholische Region in der DDR, in der die SED und andere Staatsorgane über vier Jahrzehnte hinweg versucht haben, mit brachialer Industrialisierung und fortgesetzter Indoktrinierung dem Sozialismus zum Durchbruch zu verhelfen. Auf welche Widerstände und Beharrungskräfte dieses Unterfangen stieß, wie es der SED zum Teil aber auch gelang, in das katholische Milieu einzubrechen, beschreibt der Historiker Christian Stöber in seiner Marburger Dissertationsschrift, in der sich außer zahlreichen anderen zeitgenössischen Fotografien, auch die Aufnahme von Melis (1940 – 2009) findet.
In Deuna mit seinen etwas mehr als 1000 Einwohnern wurde 1975 eines der modernsten Zementwerke Europas errichtet. Es sollte dem landwirtschaftlich geprägten Eichsfeld, das schon vor 1945 als rückständig und arm galt, Fortschritt und Arbeitsplätze bringen und so der „Stärkung der Arbeiterklasse im Eichsfeld“ dienen. Schon 1958 hatte der 5. Parteitag der SED dazu einen „Eichsfeldplan“ mit einem Investitionsvolumen von mehr als 200 Millionen DDR-Mark verabschiedet, der etwa den Bau der größten Baumwollspinnerei der Republik mit 5000 Arbeitsplätzen im Dorf Leinefelde vorsah. Das Eichsfeld, neben der sorbischen Lausitz und der thüringischen Rhön das einzig mehrheitlich katholische Gebiet in der DDR (mit mehr als 80 Prozent Katholiken), hatte auch deshalb eine Sonderstellung, weil es direkt an der innerdeutschen Grenze lag und Teile der Kulturlandschaft zu Niedersachsen und Hessen gehören. Der „Eichsfeldplan“ sollte die Blaupause für den Aufbau des Sozialismus auch in anderen katholischen Gebieten Deutschlands liefern: „Aber wenn wir im Eichsfeld nicht vorankommen, wie wollen wir dann die Lage in Bayern ändern, wenn die Konföderation verwirklicht ist?“, hieß es in einem Dokument aus dem SED-Zentralkomitee von 1958, als man dort noch Wiedervereinigungspläne hegte.
Bei den Kommunal- und Landtagswahlen 1946 erreichte die CDU im Eichsfeldkreis Ergebnisse von mehr als 60 Prozent. In Politik und Verwaltung konnte die SED anfangs nur wenige systemtreue Kommunisten installieren, sodass es 1950 zum handstreichartigen Austausch der Administration kam, als Staatssicherheit und Volkspolizei das Kreistagsgebäude in Heiligenstadt besetzten. Die Exil-CDU sprach später vom „Eichsfelder Fenstersturz“, weil einer der Anwesenden dabei gewaltsam aus dem Gebäude gestoßen wurde. Letztlich akzeptierte die SED im „Parteinotstandsgebiet“ (so die Ost-CDU) auch Mitglieder, die gleichzeitig der Kirche und der Partei angehörten. Allerdings waren diese abfällig als „Rosenkranz-Kommunisten“ bezeichneten Genossen nur geduldet und mussten sich immer für ihre Religionszugehörigkeit rechtfertigen. Viele hielten dem Druck nicht stand und traten schließlich aus der Kirche aus.
Auf aktiven Widerstand stieß die SED-Politik nur selten. Der spätere Fuldaer Bischof Johannes Dyba, später bekannt geworden als konservativer Hardliner, gehörte während seiner Jugend im Eichsfeld der FDJ an. Selbst am 17. Juni 1953 meldete die Volkspolizei aus dem Eichsfeld in die Bezirkshauptstadt Erfurt: „Alles ruhig.“ Sowohl im Ost- wie im Westteil des Eichsfelds gelang es der Staatssicherheit, Informanten zu gewinnen. 1989 erfolgte der „gesellschaftliche Aufbruch im Eichsfeld vergleichsweise spät“. Zuvor lag die Region bei der Zahl der Ausreiseantragsteller unter dem DDR-Durchschnitt.
Stöber beurteilt den Zurückhaltungskurs der katholischen Kirche im Hinblick auf das Regime als „strategisches Arrangement“ und die mehrheitlich passive Einstellung der Bevölkerung als „Resistenz“, die sich etwa in der Nichtteilnahme am atheistischen Jugendweihe-Ritual oder den massenhaften Beteiligungen an den jährlichen Prozessionen und Wallfahrten zeigte. Einige dieser Wallfahrtstraditionen wurden erst in der Zeit der DDR, als Antwort auf die Maßnahmen der SED, begründet, sodass in den Kirchen und Kapellen eine Gegenöffentlichkeit entstand, in der zwar nicht zum offenen Bruch mit dem Regime aufgerufen wurde, man aber auch nicht die sonst allgegenwärtigen Staatsparolen zu hören bekam.
Stöber hat eine beeindruckende Menge an Dokumenten in mehr als ein Dutzend Archiven gesichtet und sie zusammen mit der fast unüberschaubaren Menge an Forschungsliteratur souverän in seiner durchweg gut lesbaren und nicht übertheoretisierten Darstellung integriert (beides ist bei einer geschichtswissenschaftlichen Dissertation nicht unbedingt selbstverständlich). Seine Arbeit folgt dabei einem Forschungstrend der vergangenen Jahre, der sich der Untersuchung der SED-Herrschaft auf regionaler und lokaler Ebene widmete, um Stabilität und Ende der DDR auch von ihrer Peripherie her besser zu verstehen.
Dass Stöber mit seiner Schlussfolgerung richtigliegt, wonach das katholische Milieu auch nach 40 Jahren DDR und 30 Jahren Transformation weitgehend intakt ist, zeigt ein Blick auf die jüngsten Wahlergebnisse im Nordwesten Thüringens. Das „sozialistische Märchen“, so 1971 das Neue Deutschland über das Eichsfeld, blieb nur eine Episode. Das Zementwerk Deuna allerdings produziert bis heute.
René Schlott ist Historiker am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Er stammt aus dem Eichsfeld.
Prozessionen und Wallfahrten
erhielten starken Zulauf und
bildeten eine Gegenöffentlichkeit
Das „sozialistische Märchen“
in dem Landstrich blieb
letztlich nur eine Episode
Christian Stöber:
Rosenkranzkommunismus. Die SED-Diktatur und
das katholische Milieu im Eichsfeld 1945-1989.
Ch. Links-Verlag,
Berlin 2019.
424 Seiten, 40 Euro.
Läuft seit 1975: einst VEB Eichsfelder Zementwerk Deuna, heute Deuna Zement GmbH.
Foto: Uwe Gerig / SZ Photo
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