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Gewaltlosigkeit wird häufig als eine Praxis der Passivität verstanden, welche die ethische Einstellung sanftmütiger Einzelpersonen gegenüber existierenden Formen von Macht reflektiert. Dieses Verständnis ist falsch, wie Judith Butler in ihrem neuen Buch darlegt. Denn Gewaltlosigkeit kann durchaus eine aktive, ja aggressive Form annehmen, zudem ist sie ebenso wenig wie die Gewalt eine Angelegenheit einzelner Individuen, sondern stets eingebettet in soziale und politische Zusammenhänge. Auch deshalb gibt es erhebliche Meinungsverschiedenheiten darüber, wo die Grenze zwischen Gewalt und…mehr

Produktbeschreibung
Gewaltlosigkeit wird häufig als eine Praxis der Passivität verstanden, welche die ethische Einstellung sanftmütiger Einzelpersonen gegenüber existierenden Formen von Macht reflektiert. Dieses Verständnis ist falsch, wie Judith Butler in ihrem neuen Buch darlegt. Denn Gewaltlosigkeit kann durchaus eine aktive, ja aggressive Form annehmen, zudem ist sie ebenso wenig wie die Gewalt eine Angelegenheit einzelner Individuen, sondern stets eingebettet in soziale und politische Zusammenhänge. Auch deshalb gibt es erhebliche Meinungsverschiedenheiten darüber, wo die Grenze zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit verläuft sowie durch wen und wann Akte der Gewalt gerechtfertigt sind.

Mit Foucault und Fanon arbeitet Butler die Widersprüche und exkludierenden Phantasmen heraus, die häufig am Werk sind, wenn Akte der Gewalt legitimiert oder verdammt werden. Und mit Freud und Benjamin macht sie deutlich, dass wir noch grundsätzlicher fragen müssen: Wer sind wir und in welcher Welt wollen wir leben? Butlers kraftvolle Antwort lautet: in einer Welt radikaler sozialer Gleichheit, die getragen ist von der Einsicht in die Abhängigkeiten und Verletzlichkeiten menschlicher Existenz. Diese Welt gilt es, gemeinsam im politischen Feld zu erkämpfen - gewaltlos und mit aller Macht.
Autorenporträt
Judith Butler, geboren 1956, ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik, Gender Studies und kritische Theorie an der University of California, Berkeley. 2012 erhielt sie den Adorno- Preis der Stadt Frankfurt am Main.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Rezensent Thomas Ribi hat bald raus, dass es Judith Butler nicht darum geht, das Prinzip der Gewaltlosigkeit in sozialen Bewegungen zu verfestigen. Butler ist nicht Gandhi, sie hält eine gewisse "Aggressivität" im Kampf gegen Rassismus, Sexismus und Antiegalitärismus für durchaus notwendig und legitim, wie der Rezensent erklärt. Ihr geht es um etwas anderes, das der Rezensent nicht ganz dingfest machen kann, in dem er aber eine politische Ethik sieht, die sich vom Individualismus verabschiedet. Butler fordere eine "Perspektive radikaler Demokratie", in der jedes menschliche Leben gleichermaßen gewertschätzt werde. Die Gewalt, gegen die Butler hier anschreibe, erkennt Ribi in der Politik, mit der Europa und die USA versuchten, sich weiß und männlich zu halten.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.2020

Wider die Nutznießer staatlicher Gewalt
Abschied vom Realismus erleichtert das Anprangern: Judith Butler mobilisiert den Rassismusvorwurf gegen die europäische Migrationspolitik

Die Befürworter der politischen Gewaltlosigkeit haben in der jüngsten Vergangenheit nicht viele Erfolge vorzuweisen. Die Demokratiebewegung in Hongkong, der Widerstand gegen Lukaschenka in Belarus oder aktuell die Proteste gegen Polizeigewalt in Nigeria haben weltweite Beachtung gefunden - erreicht haben sie gegen die Gewalt der herrschenden Regime wenig bis nichts. Die Verfechter der Gewaltlosigkeit begründeten die heimliche Stärke ihrer Strategie mit dem Versprechen, irgendwann erschöpfe sich jede illegitime Gewalt an der Unbeugsamkeit und Duldsamkeit ihrer Opfer. Sie haben die Waffen, die Kerker und Folterkammern, wir aber die leeren Hände, die Wahrheit und die Geduld. Was aber, wenn sich die Herrschenden davon nicht beeindrucken lassen und von außen keine Hilfe kommt?

Wer solche Fragen stellt, wer über Gewaltlosigkeit als politische Strategie schreibt und beharrlich das alte Paradox wiederholt, dass in der Ohnmacht gerade die Macht liege, dass Schwäche eigentlich Stärke sei, der muss die Frage beantworten, wo er das schreibt und für wen. Judith Butler schreibt an einer amerikanischen Eliteuniversität in der sehr privilegierten Position einer Philosophin. Sie sitzt nicht in einem Gefängnis der weißrussischen Polizei oder in einem chinesischen Umerziehungslager. Wenn sie also im sicheren Berkeley eine moralphilosophische Verteidigung der Gewaltlosigkeit schreibt, liegt der Verdacht nahe, eine solche akademische Übung könne nur mit größter Distanz gegenüber den politischen Realitäten des 21. Jahrhunderts gelingen. Was rettet Judith Butlers neues Buch vor diesem Verdacht?

Im Grunde wenig. "Die Macht der Gewaltlosigkeit" ist keine Handreichung für Protestbewegungen, keine politische Analyse der heutigen Formen staatlicher Repression und möglicher Strategien, diese mit gewaltlosen Mitteln zu überwinden. Natürlich kann man wie Butler Argumente für Gewaltlosigkeit schon bei Mahatma Gandhi finden, oder bei Benjamin, Freud, Fanon und Foucault. Auch wenn man wie Butler in diesem Buch der Auffassung ist, wir hätten Gewalt noch gar nicht richtig verstanden, es mangele uns immer noch an einer "tragfähigen Definition" von Gewalt, kann man von diesen Autoren viel lernen. Doch zum Einsatz sozialer Medien in der Organisation von Widerstandsbewegungen, zur Rolle von Desinformationskampagnen und Internetzensur kann man von ihnen noch nichts lernen. Das mag Judith Butler in ihrem Anliegen nicht interessieren, sie kann sich dafür als Philosophin nicht zuständig erklären. Ihr Zugeständnis, dass gewaltloser Widerstand "durchaus aggressiv verfolgt werden kann und muss", klingt zeitgenössisch, stammt aber von Gandhi aus dem Jahr 1920. An wen wendet sie sich also dann mit ihrem Buch?

Die Gewaltlosen, die etwa heute in Minsk auf die Straße gehen, stehen vor keiner Wahl. Sie brauchen keine Argumente für die Legitimität ihres gewaltlosen Protestes, schließlich steht ihnen gar keine andere Protestform zur Verfügung. Umgekehrt wird man in den Reihen der Diktatoren, Autokraten und religiösen Fanatiker niemanden vermuten, der sich durch philosophische Argumente bekehren ließe. Butler zielt denn auch mit ihrer Analyse der Gewalt erstaunlicherweise auf eine dritte Gruppe, die man gar nicht auf der Anklagebank eines solchen Buches erwartet hätte. Das sind jene, die sich für gewaltlos halten, dabei aber zumindest stillschweigende Dulder oder gar Nutznießer staatlich organisierter Gewalt sind. Also wir, die unbescholtenen Bürger westeuropäischer Gesellschaften. Was hat Butler uns vorzuwerfen?

Unseren Rassismus. Wir könnten viel über Gewaltlosigkeit phantasieren und glauben, eigentlich auf der Seite der Gewaltlosen zu stehen, doch solange wir uns nicht dessen bewusst würden, wie tief wir in die "stillschweigenden, ja unbewussten Formen des Rassismus" verstrickt seien, die "den staatlichen und öffentlichen Diskurs über Gewalt und Gewaltlosigkeit prägen", sollten wir Europäer nach Butler wohl besser schweigen - und zur Besinnung kommen. Die eigentliche Herausforderung der Utopie der Gewaltlosigkeit ist für Butler nämlich die ihr vorausgehende "Verpflichtung auf eine radikale Gleichheit" allen schutzwürdigen Lebens. Wer aber, so Butler, "Migranten hinstelle, als seien sie auf die Zerstörung der europäischen Kultur aus", wer also "alle Handlungen, sie aufzuhalten, unbegrenzt festzuhalten, sie ins Meer zurückzutreiben", toleriere, der praktiziere eine "moralisch verbrämte Destruktivität". Deren Gewalt werde dann "mithilfe dieser rassischen Moralisierung (...) ummantelt und gerechtfertigt". Der heutige europäische Rassismus habe vielleicht auch andere Formen, schränkt Butler ein, aber die Bemühungen, Migranten von Europa fernzuhalten, gründeten mindestens zum Teil im Wunsch, diesen Kontinent "weiß" zu halten. Und solange wir Teil dieser Politik seien, begingen wir Verrat am Prinzip der Gewaltlosigkeit, weil wir unser Leben höher bewerteten als das der Migranten.

"Die Macht der Gewaltlosigkeit" ist ein maßloses, wütendes und extremes Buch. Butler verlangt von ihren Lesern nicht weniger als den "Abschied von der Realität, wie sie sich heute darstellt". Das muss wohl so sein, wenn man dem ganz anderen Imaginären einer totalen Gleichheit und dem utopischen Denken Raum geben möchte. Wer gegenüber dem damit verknüpften Vorwurf von Rassismus und Kriegslogik der europäischen Migrationspolitik ein Bedürfnis nach Realismus und Differenzierung verspürt, sollte zu anderen Büchern greifen.

GERALD WAGNER

Judith Butler: "Die Macht der Gewaltlosigkeit". Über das Ethische im Politischen. Aus dem Englischen von Reiner Ansén. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 250 S., geb., 28,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Judith Buders Denken verfugt über eine intellektuelle Reichweite, die jede Mittelstreckenrakete - sei es eine der Nato, des Islamischen Staates oder irgendeines libyschen Warlords - übertrifft.«
Cord Riechelmann, Philosophie Magazin 02/2021