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Zehn Tage nachdem Siegfried Unseld am 1. April 1959 die Leitung des Suhrkamp Verlags übernommen hat, reist er nach Ost-Berlin, um Brechts Witwe Helene Weigel zu besuchen. Zurückgekehrt, diktiert er den ersten der von ihm selbst so genannten Reiseberichte.
In über 1500 Berichten hat er bis zu seinem Tod 2002 die für ihn und seine Mitarbeiter wesentlichen Resultate seiner Gespräche festgehalten. Die Weitergabe an Personen außer Haus war streng verpönt. Zum 70-jährigen Verlagsjubiläum wird das Betriebsgeheimnis nun gelüftet.
Die spannenden Reportagen, darunter eindrucksvolle Schilderungen
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Produktbeschreibung
Zehn Tage nachdem Siegfried Unseld am 1. April 1959 die Leitung des Suhrkamp Verlags übernommen hat, reist er nach Ost-Berlin, um Brechts Witwe Helene Weigel zu besuchen. Zurückgekehrt, diktiert er den ersten der von ihm selbst so genannten Reiseberichte.

In über 1500 Berichten hat er bis zu seinem Tod 2002 die für ihn und seine Mitarbeiter wesentlichen Resultate seiner Gespräche festgehalten. Die Weitergabe an Personen außer Haus war streng verpönt. Zum 70-jährigen Verlagsjubiläum wird das Betriebsgeheimnis nun gelüftet.

Die spannenden Reportagen, darunter eindrucksvolle Schilderungen seiner Reisen nach Japan und Israel in den 1980er und 1990er Jahren, offenbaren einen Blick hinter die Kulissen des literarischen Lebens und bieten die einmalige Gelegenheit, den Aufbau des Suhrkamp Verlags aus der Sicht des Verlegers zu verfolgen. Sie dokumentieren die wichtigsten kulturellen Ereignisse innerhalb der letzten vier Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in Begegnungen zwischen Verleger und den für diese Zeit bedeutsamsten deutschen und internationalen Autoren - mal dramatisch, mal entspannt urlaubend, mal kämpferisch.

Die hier in Auswahl zum ersten Mal publizierten Reiseberichte Siegfried Unselds führen in die Welt des Verlegers und Verlegens mit all ihren Höhe- und Tiefpunkten, ihrem Glanz und Elend - ob beim Geburtstag von Max Frisch in New York, mit Samuel Beckett in Paris, mit Peter Weiss in Kopenhagen, mit Jurek Becker in Leipzig, bei Ingeborg Bachmann in Rom, mit Amos Oz in Israel, mit Thomas Bernhard in Wien oder mit Peter Handke auf der ganzen Welt - und zeichnen das Porträt der kulturellen Nachkriegsgesellschaft aus der Sicht eines ihrer wirkungsmächtigsten Akteure.
Autorenporträt
Siegfried Unseld wurde am 28. September 1924 in Ulm geboren und starb am 26. Oktober 2002 in Frankfurt am Main. Nach dem Abitur wurde er im Zweiten Weltkrieg zum Kriegsdienst einberufen und war drei Jahre lang, bis 1945, als Marinefunker im Einsatz. Nach seiner Rückkehr absolvierte er beim Ulmer Aegis Verlag eine Lehre als Verlagskaufmann. 1947 erhielt er durch die Vermittlung von Professor Weischedel die erstrebte Zulassung an der Universität Tübingen und studierte dort Germanistik, Philosophie, Nationalökonomie, Völkerrecht, Bibliothekswissenschaften und Sinologie. Seinen Lebensunterhalt bestritt Unseld als Werkstudent. Bis 1950 arbeitete er im Verlag J. C. B. Mohr in Tübingen. 1951 promovierte er mit einer Dissertation über Hermann Hesse zum Dr. phil. 1952 trat er in den Suhrkamp Verlag ein, wurde 1958 Gesellschafter der Suhrkamp Verlag KG und übernahm nach dem Tod Peter Suhrkamps die Verlagsleitung. Neben seiner beruflichen Tätigkeit besuchte er 1955 das von Henry Kissinger geleitete Internationale Seminar der Harvard Universität in Cambridge/Mass. (USA). Unseld führte die Verlage Suhrkamp und Insel und den 1981 von ihm gegründeten Deutschen Klassiker Verlag bis zu seinem Tod im Jahr 2002.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.06.2020

Betriebsgeheimnis
Die "Reiseberichte" von Siegfried Unseld

Zum 70. Geburtstag des Suhrkamp Verlags ist jetzt endlich ein Buch erschienen, das schon lange angekündigt war und das der Cheflektor des Suhrkamp Verlags, Raimund Fellinger, vor seinem Tod am 25. April 2020, glücklicherweise noch fertigstellen und mit einem Nachwort versehen konnte: die "Reiseberichte" des ehemaligen Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld. Mehr als 1500 solcher Berichte verfasste dieser nach seinen Reisen, nachdem er 1959 - da war er 35 Jahre alt - die Nachfolge von Peter Suhrkamp angetreten hatte. 35 dieser Texte hat Fellinger ausgewählt, um zu zeigen, wie der junge Verleger "sich die Welt der Autoren, Kritiker, Agenten und Kulturinstitutionen über Deutschland hinaus aneignete": "Worüber man sprechen kann, darüber soll man berichten", sagte, frei nach Wittgenstein, Unseld 1967 einmal selber über diese Textform.

Wann immer er also den Verlag verließ und in Autos, Züge, Flugzeuge stieg, um Autorinnen oder Autoren zu treffen, Buchhändler, Agenten, Verlagsmitarbeiter im Ausland, mit denen er Verträge und Auslandslizenzen durchsprach, Theaterleute, mit denen er Premieren und Uraufführungen besuchte, hatte er ein Diktaphon dabei: ein Grundig Stenorette SL. Er machte sich kurze handschriftliche Notizen, diktierte dann das, was er für die Arbeit im Verlag für wichtig hielt. Eine der Sekretärinnen tippte es ab und verteilte es an die Abteilungsleiter und das Lektorat, die wiederum ihre Kenntnisnahme bestätigen und das Gelesene an den Verleger zurückgeben mussten. Alles streng vertraulich natürlich. Die Weitergabe des Inhalts an Personen außer Haus war verpönt.

Es sind deshalb Betriebsgeheimnisse, die wir hier lesen können, aufschlussreiche Dokumente über die zeitgenössischen Bedingungen der Verlagsarbeit. Der erste von Fellinger ausgewählte Bericht ist der von einer Berlin-Reise im April 1959 ins Brecht-Archiv, zu Brechts Witwe Helene Weigel, aber auch zur Buchhandlung Schoeller; der letzte stammt vom 18. Mai 1998 und protokolliert eine Reise nach München, deren Anlass die Beerdigung des Schriftstellers Hermann Lenz ist. Hans Magnus Enzensberger holt Unseld vom Flughafen ab, zusammen fahren sie bei der Buchhandlung Lehmkuhl vorbei. Im Anschluss an die Trauerfeier, bei der auch Peter Handke und der Verleger Michael Krüger sind, lädt Hubert Burda in das Restaurant "Grüntal" im Englischen Garten.

Dazwischen stehen New York, Boston, Detroit, Warschau, Paris, Zürich, Tokio, Kyoto, Israel, Wien, Prag oder Moskau. Siegfried Unseld ist ein Weltreisender. Und es mag auch am Entstehungsprozess der Berichte liegen, der eigentlich ein literarischer ist - Unseld schreibt auf, was man ihm sagt, er diktiert, das Diktierte wird in Schrift übertragen -, dass die Texte über das Protokollarische hinausgehen und sich selbst wie literarische Porträts oder Erzählungen lesen. Vor allem liegt dies aber an der Offenheit des Verlegers, der sich seinen Mitarbeitern auch in für ihn nicht immer nur vorteilhaften Situationen zu zeigen bereit ist und so einen schonungslosen Blick auf das freigibt, was ein Verleger auszuhalten bereit sein muss.

Nichts zeigt dies so sehr wie der erschütternde Reisebericht vom Mai 1971 in New York, wo Max Frisch seinen 60. Geburtstag feiert. Es ist der Besuch bei einem Monster-Ego. Unseld trifft zusammen mit Helene Ritzerfeld, die bei Suhrkamp die Abteilung Rechte und Lizenzen leitet, morgens bei Frisch ein, der 45 West 10th Street wohnt, sie unternehmen eine Schiffsfahrt, laden Frisch und seine Frau zum Mittagessen ein, besprechen laufende Verlagsdinge, klären den Stand der Verhandlungen für die Verfilmung "I'm Not Stiller". Frischs "Tagebuch" sei "in Amerika einfach nicht zu platzieren", es sei zuerst von den renommierten Verlagen und dann von sieben weiteren abgelehnt worden, hält Unseld fest. Am 20. Mai veranstaltet der Suhrkamp Verlag in New York dann für Max Frisch im Restaurant "Elaine's" einen Empfang mit vielen Ehrengästen (4000,- D-Mark). "Ich glaube, Frisch war diese Party nicht unangenehm", liest man.

Doch dann folgt ein "Nachtrag", der von einem Mittagessen am 19. Mai 1971 berichtet, bei dem der vorher schon verstimmte Max Frisch ausrastet: Unseld sei mit "leeren Händen" nach New York gekommen, er habe sich am Tag seines Geburtstages "schäbig" verhalten, ihn nicht "gefeiert". Das werde er ihm nie vergessen. Er wisse jetzt, was er von ihm zu halten habe. Unseld müsse damit rechnen, dass er dies auch seinen Freunden Jürgen Habermas und Uwe Johnson mitteilen würde. Von nun an werde er ihn nur noch als Vertreter des Verlages ansehen. Dinge, die ihn im Innern berührten, würde er nicht mehr mit Unseld besprechen, sondern nur noch mit Leuten, die an ihm interessiert seien.

Fassungslos hält der Verleger fest, was er zu seiner Verteidigung vorbringt. "Ich hatte bis zu diesem Datum darauf gebaut, dass es auch Freundschaft in der Beziehung zwischen Autor und Verleger geben könne, aber seit diesem Datum weiß ich, dass ich mich darauf einstellen muss, das Rettungsmittel kann nicht Liebe sein, sondern nur Arbeit", schreibt er. Er formuliert einen Nachtrag zum Nachtrag und offenbart seine Verzweiflung. Wichtig sei für ihn das, was Frisch an Arbeit für ihn gegeben habe. Das zähle. Er ist tief erschüttert und zugleich gewappnet für die Monster-Ego-Begegnungen, die ihm bevorstehen. In Ohlsdorf wird ihn Thomas Bernhard in ähnlich ungemütlicher Stimmung mit großer Geste fragen: "Was bin ich für Sie, was bin ich für den Verlag?"

JULIA ENCKE

Siegfried Unseld: "Reiseberichte". Herausgegeben von Raimund Fellinger. Suhrkamp Verlag, 380 Seiten, 26 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Einzelne Episoden herauspickend blättert Rezensent Arno Widmann durch die Reiseberichte Siegfried Unselds und sieht mal hier, mal dort ein Schlaglicht auf unsere Gegenwart geworfen. Aber so richtig warm scheint er mit dem Buch nicht geworden zu sein, seine Rezension ist eher nüchtern und referierend als schwärmend. Beeindruckt hat ihn allerdings die "Doppelexistenz" des Verlegers Unseld, der gleichermaßen am Inhalt der Bücher interessiert war wie an Geld- und Organisationsfragen. Anders geht's wohl auch nicht mit dem Verlegen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.12.2020

Geschenke
für
den Kopf
Man muss nicht alles positiv sehen,
aber sagen wir es mal so:
Jetzt kommen noch stillere Tage als sonst um
Weihnachten, das bedeutet extra viel Zeit
für Bücher, Filme, Musik! Dazu ein
paar Empfehlungen aus der SZ-Redaktion
COLLAGEN: STEFAN DIMITROV
Jens-Christian Rabe
EINE HILFE
Das neue Grundlagenwerk zu Geschichte und Gegenwart der Krisen der Demokratie, in dessen Mittelpunkt dennoch die essayistisch tastende Überzeugung steht, dass wir uns in gefährlichen Zeiten vor allem anderen darüber klar werden müssen, was wir alles nicht wissen, bevor wir entscheiden können, was zu tun ist.
Adam Przeworski: Krisen der Demokratie. Suhrkamp, 2020. 254 Seiten, 18 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Ein so kluger wie warmherziger und unterhaltsamer Essay über Stil, Geschmack und Sinn im Pop anhand von Enya, der Königin der sphärischen New-Age-Kitschmusik? Geht natürlich nicht. Es sei denn, Chilly Gonzales schreibt ihn.
Chilly Gonzales: Enya. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 96 Seiten, 10 Euro.
EIN AUFREGER
Ist Haiyti die intellektuellste deutsche Gangsta-Rapperin oder die nervöseste Gangsta-Intellektuelle des Landes? Sagen wir so: Auf jeden Fall ist sie das Pop-Genie, das das Land noch nicht verdient hat.
Haiyti: „Sui Sui“ (Haiyti Records).
EIN GROSSER SPASS
Was Comedians von allen anderen Menschen unterscheidet, ist, dass ihr Leben bestenfalls nicht nur ein Witz ist. Sondern mehrere. Der Stand-up-Comedy-Superstar Jerry Seinfeld hat seine Autobiografie netterweise gleich als Gag-Sammlung geschrieben. Das Trost-Buch zur Zeit.
Jerry Seinfeld: Is This Anything? Simon & Schuster, 2020. 470 Seiten, 20 Euro.
Theresa Hein
EIN LIEBESBEWEIS
Vom unbedingten Brauchen eines anderen Menschen und der unaufhaltsamen Veränderung von ebenjenem handeln ein paar der schönsten Indie-Songs seit Langem. Und das alles von den mittlerweile mittelalten Strokes, produziert von Goldhändchen Rick Rubin: Midlife endlich ohne Krise, von der es dieses Jahr ja genug gab, mit einem Kunstwerk von Jean-Michel Basquiat als Cover.
The Strokes: The New Abnormal, RCA, 12,99 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Mehr als das. Der Film „Für Sama“ ist eine schwere, schreckliche Probe. Eine Dokumentation aus dem Syrienkrieg, man sieht: wirklich alles von Geburt bis Tod. Gerade in der Zeit des gemütlichen Wegguckens und Einigelns ein Appell. Das alles passiert wirklich.
Für Sama, Regie: Waad al-Kateab, Edward Watts. Filmperlen, 95 Min. DVD,
13,78 Euro.
EIN GENUSS
Die Erzählerin in Deniz Ohdes Debütroman gehört jetzt, wie ihr Lehrer am Gymnasium nicht müde wird ihr einzutrichtern, zur „Elite“. Was aber auch egal ist, wenn die Mutter auszieht. Ohde erzählt von den Auf- und Abs in einem System, das wahre Chancengleichheit eben doch nur ermöglicht, wenn man sie von Geburt aus hat, daneben humorvoll, traurig über eine Kindheit und Jugend in Deutschland zur Jahrtausendwende. Wirkt lange nach.
Deniz Ohde: Streulicht. Roman. Suhrkamp, Berlin 2020. 291 Seiten, 22 Euro.
Laura Hertreiter
EIN GROSSER SPASS
Nahe Zukunft, pandemisch gesehen ist das Schlimmste vorbei und Alard von Kittlitz schickt seinen geschmackssicheren Romanhelden anderweitig ins Verderben. Eine netflixartig erzählte Techno-Utopie über Hochleistungsgehirne und menschliche Begrenztheit. Rund um den Globus, während man zu Hause in der Corona-Gegenwart festsitzt.
Alard von Kittlitz, Sonder. Roman. Piper, München 2020. 320 Seiten, 22 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Lässige Kindermärchen von Olli Schulz, Feridun Zaimoglu, Juli Zeh, Paul Maar, Flake, Nora Gantenbrink und anderen. Vor allem für Eltern, die Tiger, Bär und Tante Gans nicht mehr sehen können.
Flo, das Flummi und der Schnack, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 224 S., 22 Euro.
EINE HILFE
1945 gingen in Demmin Menschen aus Angst vor der Roten Armee in einen Fluss, Steine in den Taschen. Jahrzehnte später wächst dort Neuntklässlerin Larry auf, Ich-Erzählerin, rotzfrecher Schnodderton, Berufsziel Kriegsreporterin. Verena Keßler schreibt humorvoll über Sprachlosigkeit und Geschichte, die bleibt.
Verena Keßler, Die Gespenster von Demmin. Roman. Hanser, München 2020.
240 Seiten, 22 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Seit 2008 haben die Berliner Philharmoniker eine digitale Konzerthalle, ein Glück.
Digitalconcerthall.com, Abo-Tickets ab 9,90 Euro für sieben Tage.
Catrin Lorch
EIN GENUSS
Die Bilder hatten etwas von einer Flaschenpost. Es passte, dass der Maler – der im Jahr 1926 geborene Frank Walter – aus Antigua kam, ein Autodidakt am Rand der Zivilisation, sozusagen. Die Ausstellung, die Susanne Pfeffer ihm als Direktorin im Frankfurter MMK in diesem Frühjahr eingerichtet hatte, war eine Sensation. Der opulente Katalog spiegelt das Leben eines Künstlers, der neben 5000 Bildern auch 50 000 Seiten Manuskripte hinterließ. Eine Lektüre, die Lust macht auf weitere Entdeckungen von Kuratoren, die sich auf dem Gebiet des so sperrig betitelten „Kolonialen Diskurses“ bewegen.
Frank Walter. Eine Retrospektive. Hg. v. Susanne Pfeffer. Walther König, London 2020. 424 Seiten, 39,80 Euro.
EIN AUFREGER
Dieser Katalog dokumentiert zeitgenössische Ignoranz, Oberflächlichkeit und Feigheit: „Philip Guston Now“ ist die Publikation zu einer Tournee mit Werken des amerikanischen Malers durch bedeutende Museen. Doch die Vernissage fiel aus. Aus Angst vor „Fehlinterpretationen“, wie die Verantwortlichen mitteilten – wohl weil man fürchtete, die Figuren mit Ku-Klux-Klan-Mützen, die durch Gustons Bildwelten geistern, könnten falsch aufgefasst werden. Nach dem Protest von Hunderten von Künstlern wird im nächsten Jahr Eröffnung gefeiert, wenn Schau und Katalog überarbeitet und entschärft sind. Insofern: schnell zugreifen.
Philip Guston Now. Hg. v. Harry Cooper/Mark Godfrey. D. A. P. /National Gallery of Art. 280 Seiten, 47,99 Euro.
Johanna Adorján
EIN GENUSS
Ein zutiefst befriedigendes Buch über die Hauptfiguren des Surrealismus, das voller Exzentrik, Wahnsinn und Vergnügen steckt.
Desmond Morris, Das Leben der Surrealisten. Unionsverlag. 352 Seiten, 26 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Kann mich nicht erinnern, wann ich dieses Jahr sonst so laut gelacht hätte wie bei der Tanzszene in „Borat 2“. Oder überhaupt gelacht.
Borat 2: Anschluss Moviefilm, von und mit Sacha Baron Cohen (und Maria Bakalova!). Amazon prime.
EIN AUFREGER
Irgendwas von Woody Allen zu empfehlen ruft neuerdings reflexartig Empörung hervor. Dies ist seine Autobiografie. Fantastisches Buch, lustig und sorgfältig.
Woody Allen: Ganz nebenbei. Rowohlt, 2020. 448 Seiten, 25 Euro.
EINE HILFE
Die englische Schauspielerin, Autorin, Regisseurin und Produzentin Michaela Coel, 33, hat eine Fernsehserie über sexuellen Missbrauch gemacht, die einem den Glauben an die Menschheit zurückgeben kann. Nicht nur ist diese Serie, so modern, schnell und cool sie ist, auch noch gut geschrieben, mit unvergesslichen Charakteren. Sie hat auch einen so wahnsinnig schönen Kern: Man weiß nie, was der andere gerade durchmacht, darum geht es. Um Mitgefühl.
„I May Destroy You“, von und mit
Michaela Coel. Auf Sky.
Jens Bisky
EIN LIEBESBEWEIS
„Die beiden Götze“ war 1938 eine Karikatur in der Berliner Illustrierten überschrieben. Sie zeigte Heinrich George, der sein Riesentalent in den Dienst des Dritten Reiches stellte, als Ritter mit der eisernen Hand, neben seinem gerade geborenen Sohn, der vaterlos groß werden würde. Anschaulich erzählt Thomas Medicus von den beiden Schauspielern, von Vater und Sohn, deutscher Kultur im 20. Jahrhundert, von Körperbildern, Männerrollen.
Thomas Medicus: Heinrich und Götz George. Zwei Leben. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2020. 416 Seiten, 26 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Hollywood in den späten Vierzigerjahren, schöne Menschen werden kühn, attackieren mit List, Charme, Wut die Dreieinigkeit aus Rassismus, Sexismus, Homophobie. Eine Miniserie als kontrafaktische Emanzipationsoperette, in herrlichen Kostümen und atemberaubenden Dekorationen wunderbar gespielt.
Hollywood. Von Ryan Murphy und Ian Brennan, mit David Corenswet, Patty LuPone, Laura Harrier u. v. a. Netflix.
EINE HERAUSFORDERUNG
„Die Personen: Ivan, Malina, ich. Die Zeit: heute. Der Ort: Wien“. Nina Kunzendorf führt als Ich-Erzählerin durch Ingeborg Bachmanns Dreiecksgeschichte aus Briefen, Monologen, Telefongesprächen.
Malina. Hörspiel nach dem Roman von Ingeborg Bachmann. Mit Nina Kunzendorf, Edmund Telgenkämper, Christoph Luser. Der Audio Verlag, 2 CDs, ca. 150 Minuten, 16 Euro.
Kurt Kister
EINE WIEDERENTDECKUNG
Klingt prätentiös, ist aber voller Überraschungen: „Texte und Zeichen“ war eine Zeitschrift, die Alfred Andersch zwischen 1955 und 1957 herausgab. 16 Hefte erschienen, dann war Schluss, lohnte sich nicht ökonomisch. Literarisch lohnt es sich bis heute, Hunderte Texte von Arno Schmidt über Dylan Thomas bis zu Böll, Beckett und Joachim Kaiser. 1978 druckte Zweitausendeins die Jahresbände nach; gibt es noch antiquarisch so um die 20 Euro.
Texte und Zeichen, 3 Bände, ca. 1500 Seiten, Zweitausendeins Verlag, nur antiquarisch, ca. 20-30 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Bob Dylan hat im Seuchenjahr eine neue Platte gemacht: „Rough and Rowdy Ways“. Der Meister lässt uns nicht allein. Auf der Platte klingt er manchmal, als wäre er erst 43. Bester Vintage Dylan mit einem großartigen Kennedy-Mordsong von 17 Minuten Dauer. You gotta love it.
Bob Dylan: Rough and Rowdy Ways. Als CD ab 9,99 Euro.
EINE HILFE
Bei Suhrkamp sind die „Reiseberichte“ von Siegfried Unseld erschienen. Es sind höchst subjektive Protokolle von verlegerischen Reisen zwischen 1959 und 1998. Unseld traf so ziemlich alle, die schrieben, vom Schreiben lebten oder das versuchten. Ein Blick in Welten, die dem Leser sonst verschlossen bleiben: Frisch ist sauer, Handke kann sich nicht benehmen, und die Japaner mögen Hesse, die auch.
Siegfried Unseld: Reiseberichte. Berlin, Suhrkamp 2020. 378 Seiten, 26 Euro.
Johan Schloemann
EIN VERMÖGEN
Eine steinreiche Bankiersfamilie stieg im 19. Jahrhundert zum letzten der großen römischen Adelshäuser auf, mit Palazzi, legendären Partys, repräsentativer Kunst und allem Drum und Dran. Ihre fantastische Sammlung von Antiken, die jahrzehntelang unzugänglich war, wäre jetzt gerade in Rom zu sehen, wenn nicht schon wieder alles zu wäre. Also muss man in diesem herrlichen Katalog schwelgen.
The Torlonia Marbles. Collecting Masterpieces. Herausgegeben von Salvatore Settis und Carlo Gasparri. Electa, Mailand 2020. 336 Seiten, 39 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Und Erwachsene ebenso. Neuer deutscher Kinderpop für uns alle, im fünften Jahr.
Unter meinem Bett 6. Oetinger Media, CD ca. 15 Euro oder Streaming.
EINE HERAUSFORDERUNG
Im Jahr der Pandemie packt dieses Buch besonders: Wie der Mensch durch die Erfindung der Jagd zum Raubtier wurde.
Roberto Calasso: Der Himmlische Jäger. Aus dem Italienischen von Reimar Klein und Marianne Schneider, Suhrkamp Verlag, 624 Seiten, 38 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Spätestens seit „Jenseits von Afrika“ steht die Klarinette unter Kitschverdacht. Auch der „Allegro amabile“-Satz bei Brahms. Hier aber klingt sein scheinbar schlichtes Spätwerk wunderbar abgeklärt.
Johannes Brahms: Clarinet Sonatas. András Schiff, Jörg Widmann. ECM New Series, CD ca. 15 Euro oder Streaming.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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»... nicht nur wie Bruchstücke jener Autobiografie, die Unseld schreiben wollte, sondern fast wi3e der Bildungsroman einer eigenwilligen Figur, die vom durch Hermann Hesse protegierten Verlagsarbeiter zum prominentesten Alphatier der Branche aufstieg und diese in einer Weise dominierte, wie es heute nicht mehr vorstellbar ist.« Thomas Schaefer taz. die tageszeitung 20200801