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Die Selmenianer sind eine jüdische Großfamilie, deren traditionelle Schtetl-Sentimentalität durch die Umwälzungen der Russischen Revolution und die neue sowjetische Ordnung aus den Fugen gerät. In ihre Stadt schleicht sich das Gespenst des Bolschewismus ein und wird nicht mehr weichen: Sowjetmacht plus Elektrifizierung. Vier Generationen von Selmenianern, allesamt »schwarzhaarig und knochig gebaut«, mit einer »breiten, niedrigen Stirn, fleischigen Nasen und Grübchen in den Wangen« leben auf dem Hof des längst verstorbenen Ahnen Selmele. In dieser Geschichte einer Familie, die sich im Konflikt…mehr

Produktbeschreibung
Die Selmenianer sind eine jüdische Großfamilie, deren traditionelle Schtetl-Sentimentalität durch die Umwälzungen der Russischen Revolution und die neue sowjetische Ordnung aus den Fugen gerät. In ihre Stadt schleicht sich das Gespenst des Bolschewismus ein und wird nicht mehr weichen: Sowjetmacht plus Elektrifizierung. Vier Generationen von Selmenianern, allesamt »schwarzhaarig und knochig gebaut«, mit einer »breiten, niedrigen Stirn, fleischigen Nasen und Grübchen in den Wangen« leben auf dem Hof des längst verstorbenen Ahnen Selmele. In dieser Geschichte einer Familie, die sich im Konflikt zwischen Modernisierungsverweigerung und Fortschrittsglauben behaupten muss, leben die dynastischen Erzählungen des Alten Testaments und die heitermelancholische Haltung chassidischer Überlieferungen fort, während zugleich die literarische Doktrin des Sozialistischen Realismus einzieht. In seinem als Fortsetzungsroman in einer Minsker Zeitung zwischen 1929 und 1935 verfassten Selmenianern, stellt sich Moische Kulbak dem Konflikt zwischen dem Jüdisch-Sein und den stalinistischen Vorstellungen vom »Neuen Menschen«.
Autorenporträt
Moische Kulbak (1896-1937) war weißrussisch-litauischer Schriftsteller und eine der wichtigsten Stimmen in der jiddischen und hebräischen Lyrik und Prosa in der Zeit der russischen Revolutionen und der Sowjetherrschaft. Er wurde 1937 während der stalinistischen Säuberungsaktionen nach einem Schauprozess hingerichtet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.02.2018

Daneben stand ein Huhn und philosophierte
Was Stalins Kommissare unter den russischen Juden anrichteten: Moische Kulbak beschreibt das Ende einer Kultur

In deutschen Romanen wurde das untergehende Ostjudentum von jüdischen Autoren wie Joseph Roth und Jurek Becker beschrieben, die selbst aus dem Osten stammten. Aber es war ein westlicher Blick, den sie auf diesen Untergang richteten. Erst später, nach 1989, kam eine authentisch östliche Perspektive hinzu. Aus Russland wanderten junge Juden in den deutschen Sprachraum ein und schrieben Romane, die das Schicksal der Juden in der Sowjetunion zeigten. Und es wurden früher dort entstandene Bücher neu entdeckt.

In der sehr guten Übersetzung von Niki Graça und Esther Alexander-Ihme bringt Die Andere Bibliothek jetzt "Die Selmenianer" von Moische Kulbak heraus. In der jungen Sowjetunion war er einer der großen Modernisten der jiddischen Literatur und zugleich einer der letzten. Die beiden Teile seines Romans erschienen 1931 und 1935, als Stalin an der Macht war, und das Werk hatte seinen Anteil daran, dass Kulbak 1937 ermordet wurde - im Zuge der "Säuberungsaktionen", denen auch viele andere jüdische Intellektuelle zum Opfer fielen.

Kulbak kam 1896 in Weißrussland zur Welt und begann erst nach der Oktoberrevolution zu schreiben. Kurz zuvor waren die Klassiker der jiddischen Literatur gestorben - Mendele Mochér Sfarim, Scholem Alejchem, Y. L. Peretz -, die die Erinnerung an eine alte, aber nun im Untergang begriffene Welt noch festgehalten hatten. Die sowjetische Wirklichkeit hatte mit dieser Vergangenheit nichts mehr zu tun. Wie andere jüdische Künstler der Moderne, etwa der junge Marc Chagall, konnte auch Kulbak sie nicht mehr realistisch abbilden. Er musste Formen einer Verfremdung wählen, in denen die Vergangenheit ästhetisch aufgehoben war. Das Ende des sowjetischen Judentums erzählt er in einer allegorischen Familiengeschichte. Im Jahre 1864 gründet der Großvater Reb Selmele einen Hof, stirbt aber schon zu Beginn der Handlung. Vier Söhne teilen das Erbe, und wir werden Zeugen, wie der Hof in der zweiten und dritten Generation zugrunde geht: Den Schicksalen ihrer Familien trägt Kulbak die Phasen des Untergangs ein.

Seine Erzählung ist nach dem Vorbild der Bibel gestaltet. Auch dort wird von einem Stammvater und seiner Nachkommenschaft berichtet, auch dort sind es Brüder, die als Protagonisten in einer patriarchalischen Familiengeschichte auftreten. Die Frauen auf dem Hof der Selmenianer - wie die Frauen der Bibel - besetzen die Nebenrollen.

Dieses Muster überträgt Kulbak in die soziale Wirklichkeit der jungen Sowjetunion und stellt sie, ganz im Sinne der Machthaber, als eine neue Zeit dar. Das Eingangskapitel zeigt Reb Selmele und seine Erben, das zweite Kapitel beginnt schon mit dem Satz: "Krieg und Revolution sind endlich vorbei, und nur Tante Hesje hat das Unglück getroffen, für nichts und wieder nichts, wegen eines Tellers Suppe."

Tante Hesje - die Frau eines der Söhne - ist das einzige Kriegsopfer in der Familie. Als die Deutschen näher rücken, sitzen alle in Reb Selmeles Keller. "Dort sah Tante Hesje so lange zum Schächter Reb Jecheskel hinüber, bis sie Appetit auf Geflügel bekam. Sie schnappte sich ein Huhn, der Schächter zückte sein Messer, und sie gingen auf den Hof hinaus." Ein Geschoss trifft den Hof, und dann liegt die Tante "ruhig und blass da, als ob gar nichts geschehen wäre. Neben ihr lag, mit dem Bart nach oben, der Kopf des Schächters, sein Körper aber hing mit dem Schächtmesser in der Hand über dem eingefallenen Zaun. - Daneben stand das Huhn und philosophierte."

Nach jüdischem Brauch dient das Huhn als Sühneopfer, hier aber wird es nicht angenommen, und der Beginn des Romans weist schon auf sein Ende voraus. Nach biblischem Muster wäre die Saga der Selmenianer eine Heilsgeschichte, und Stalins Kommissare wünschten es auch so: Der Untergang des alten Hofes sollte in die herrlichen Zeiten des sowjetischen Fortschritts münden, doch bei Kulbak kommt es anders.

Zalke ist der Sohn der toten Tante Hesje und ihres Mannes, der Tischler und zugleich Geiger ist. Er vertritt den kulturellen Zweig der Familie, und das vererbt sich auf seinen Sohn. Leider hat er aber "die schlechte Angewohnheit, sich von Zeit zu Zeit das Leben zu nehmen". Am Ende des Romans wird Zalkes letzter Selbstmordversuch gelingen. Er liebt seine Kusine Tonke, die Tochter des Uhrmachers, aber sie ist Revolutionärin und gibt einem anderen Cousin, Falke, den Vorzug.

Der stammt aus dem Hause des Schneiders und ist der Techniker des Clans, versorgt den Hof mit Elektrizität und führt ihn der Zukunft entgegen. Dann geht Falke mit Tonke nach Wladiwostok, wohin die Bolschewiken sie abkommandiert haben. Bei den Selmenianern herrscht die Endogamie, aber in der Ferne bleibt es wohl nicht dabei. Als Falke und Tonke später wieder zurückkommen, ist die Tochter, die sie nun haben, jedenfalls nicht von ihm, und auch sonst erweist sich Tonke als Verräterin. Der Gerber wird angeklagt, ein Fell gestohlen zu haben, im Prozess gegen ihn tritt sie als Denunziantin auf und liefert ihre gesamte Familie aus. "Der hell erleuchtete Himmel strahlte über die Dächer", heißt es am Ende, als der Hof vernichtet wird. In seinen Häusern konnte man "bis in den Schlaf hinein hören, wie seine letzten Balken fielen".

Kulbak entwirft ein ambivalentes Bild der frühen Sowjetunion. In Wirklichkeit zeigt die Elektrizität, Symbol des Fortschritts auf dem Hof, nur die Rückständigkeit der sowjetischen Wirtschaft. Im Berlin der zwanziger Jahre hatte Kulbak die Industriewerke einer modernen Metropole kennengelernt, aber 1933, als "Childe Harold aus Disna" erschien, sein jetzt auch auf Deutsch erschienenes langes Gedicht über Berlin, musste er diese Erfahrung durch revolutionäre Parolen kaschieren. So lauten die letzten Verse des Bandes: "Nieder mit Beethoven, Goethe, / Nieder der Kölner Dom! / An weiten Himmeln steht das Grau, / Und wir ergrauen mit ihnen; / Wir - letzte Wölfe in einer Welt / Versinkender Ruinen."

Doch die Verurteilung des westlichen Spätbürgertums hat Moische Kulbak nichts geholfen. Stalins Kommissare waren vielleicht nicht klug genug, um seine Kunst zu verstehen, aber sie waren auch nicht dumm genug, um sie als den sozialistischen Realismus durchgehen zu lassen, der jetzt geboten war. Nach einem kurzen Prozess wurde Kulbak am 29. Oktober 1937 erschossen.

Die Andere Bibliothek hat dem deutschen Leser auch schon russischsprachige Romane zu diesem Themenkreis zugänglich gemacht: Ilja Ehrenburgs "Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz" (F.A.Z. vom 19. Juli 2016) und Grigori Kanowitschs "Ewiger Sabbat" (F.A.Z. vom 4. Juni 2014). Wie alle Bände der Reihe sind auch "Die Selmenianer" sehr großzügig ausgestattet, und Susanne Klingenstein hat ein vorzügliches Nachwort geschrieben. Sie liest den Roman mit profunder Kenntnis der jiddischen Literatur und der Geschichte der sowjetischen Juden. Ihre Lektüre macht deutlich, dass die historische Verortung eines literarischen Werkes auch unser Verständnis seiner Ästhetik vertieft.

JAKOB HESSING

Moische Kulbak: "Die Selmenianer". Roman.

Aus dem Jiddischen von Niki Graça und Esther Alexander-Ihme. Mit einem Nachwort von Susanne Klingenstein. Die Andere Bibliothek, Berlin 2017. 400 S., geb., 42,- [Euro].

Moysche Kulbak: "Childe Harold aus Disna". Gedichte über Berlin.

Aus dem Jiddischen und mit einem Nachwort von Sophie Lichtenstein. edition.fotoTAPETA, Berlin 2017. 96 S., br., 10,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Rezensent Oleg Jurjew freut sich über die Wiederentdeckung des jiddischsprachigen Schriftstellers Moische Kulbak, den er  als Lyriker ebenso wie als Romancier schätzt. Entsprechend begeistert nimmt der Kritiker gleich vier Wiederveröffentlichungen der Werke Kulbaks zur Hand: Während er in Kulbaks Gedichten vor allem die Musikalität der Volkslieder der Juden Weißrusslands und Litauens bewundert, lernt er in dessen Prosa das Leben der Juden Osteuropas kennen. Besonders bemerkenswert findet Jurjew Sophie Lichtensteins Übersetzungen der in der Edition Foto-Tapeta erschienenen Bände "Childe Harold aus Disna" und "Montag". Von den jeweiligen Nachworten hätte sich der Rezensent allerdings mehr Genauigkeit gewünscht.

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"Ein zauberhafter Roman. Und ein Stück Weltliteratur - fast vergessen, aber zum Glück wiederentdeckt." Moses Fendel WDR 3 20180213