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Ein Tagebuch aus der sozialistischen Spätantike, als Franz Josef Strauß Bayern regierte und Helmut Kohl westdeutscher Bundeskanzler wurde. Und als H.M. Enzensberger mit Gaston Salvatore ein berühmtes, flüchtiges Zeitschriftenprojekt namens "Transatlantik" gründete, in dessen Münchner Redaktion Michael Rutschky seine Laufbahn als öffentlicher Intellektueller begann. Entstanden zwischen 1981 und 1984, erzählen diese Aufzeichnungen gleich mehrere Romane. Nicht nur den von Michael Rutschky und seiner Frau Katharina, samt unbekannten und durchaus bekannten Menschen inmitten der Landschaft zwischen…mehr

Produktbeschreibung
Ein Tagebuch aus der sozialistischen Spätantike, als Franz Josef Strauß Bayern regierte und Helmut Kohl westdeutscher Bundeskanzler wurde. Und als H.M. Enzensberger mit Gaston Salvatore ein berühmtes, flüchtiges Zeitschriftenprojekt namens "Transatlantik" gründete, in dessen Münchner Redaktion Michael Rutschky seine Laufbahn als öffentlicher Intellektueller begann. Entstanden zwischen 1981 und 1984, erzählen diese Aufzeichnungen gleich mehrere Romane. Nicht nur den von Michael Rutschky und seiner Frau Katharina, samt unbekannten und durchaus bekannten Menschen inmitten der Landschaft zwischen Isarnacktstrand, nordhessischer Provinz und Westberlin. Hier kann man sehen, wie Traum, Tagtraum und obsessive Nabelschau ein ebenso schöpferisches wie unterhaltsames Klima für kritische Geister bildeten.
Autorenporträt
Michael Rutschky, geboren 1943, lebt als freier Autor in Berlin und arbeitet für Zeitungen und Zeitschriften, Radio und Fernsehen. 1997 wurde er mit dem Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg ausgezeichnet.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Eberhard Geisler wirkt nicht zufrieden mit Michael Rutschkys Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren seiner Redaktionsarbeit bei "TransAtlantik" und "Merkur" in den 80ern. Geisler vermisst darin die Sehnsucht nach Begriffen, die dem Leser etwas Bleibendes beschert. Stattdessen schreibt der Autor theoriefern, wenngleich mitunter humorig über Frau Habermas beim weihnachtlichen Shoppen, Keipenbesuche und den Freund Rainald Goetz. Geisler ist das zu banal. Allerdings weiß der Rezensent auch, dass seine Erwartungen relativ hoch waren. So hatte er sich etwa vorgestellt, der Autor würde seine Beschäftigung mit Jüngers Tagebüchern irgendwie fruchtbar machen und als meinendes Subjekt in Erscheinung treten.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.09.2015

Drei Jahre in
Dirndlstetten
Achtziger, verweht – Michael Rutschkys Münchner
Erinnerungen zu Enzensberger, Goetz, Frau Habermas
VON GUSTAV SEIBT
Kaum etwas von dem, was Michael Rutschky von März 1981 an drei Jahre lang aufgezeichnet hat, ist wichtig. Aber ist das ein Einwand? Wer hört, dass Rutschky tagebuchartige Aufzeichnungen aus seiner Zeit bei der Zeitschrift Transatlantik nun zu einem Buch gemacht hat, der mag viel Tratsch und Bedeutsamkeit erwarten, möglicherweise ein intellektuelles Sittenbild: Da steppt der Enzensberger durch die Salons! Rutschky kam von der Zeitschrift Merkur, wo er sich wenig glücklich fühlte. Enzensbergers glamouröses Transatlantik-Projekt hielt den geschworenen Berliner noch eine Weile an dem Ort, den seine Frau Katharina schnaubend als „Leberkäsburg“ und „Dirndlstetten“ abtat.
  Immerhin München, Merkur, die Welt von Michael Krüger und später Karl Heinz Bohrer, in der auch Anita Albus und Andreas Zielcke herumschwammen, und, aus dem akademischen Unterricht kaum entlassen, Rainald Goetz wie schaumgeboren die Szene betrat – das verspricht eigentlich fast Goncourt-artige Eleganz. Kurz nach dem Einsetzen der jetzt publizierten Zeitreihe verfasste Rutschky für den Spiegel eine ironisch-respektvolle Rezension von Ernst Jüngers Tagebuch „Siebzig, verweht“. Darin resümierte er die Spielregel des Genres dahingehend, „daß man mit dem auszukommen hat, was man zu einem gegebenen Zeitpunkt in seinem Sprach- und Erfahrungsumkreis vorfindet“. Wohl dem, der einen so brillanten Erfahrungsumkreis vorfindet!
  Überhaupt, achtzig, verweht – war das nicht eine äußerst flirrende Zeit? In Popkultur und Literatur jedenfalls unbedingt eine Geburtsstunde der Gegenwart, man denke an die „Neue deutsche Welle“, an die Anfänge des Techno, das Berlin Martin Kippenbergers, den Aufstieg von Robert Gernhardt und Eckhard Henscheid. Doch das Vorfindliche von R., wie Rutschky sich hier durchgehend etikettiert, ist vor allem die graue Welt der Redaktionsbüros, die sich erst allmählich diversifizierende westdeutsche Gastronomie, sind Intercity-Gespräche und die Badefreuden der „Nackerten“ im Englischen Garten. Dazu das abendliche Fernsehprogramm und die Angebote der Kinos. Eben die „Sensationen des Gewöhnlichen“, auf die sich Rutschky, das ist seine „hard choice“, konzentriert.
  Enzensberger? Ein gewiefter Taktiker von etwas zwielichtiger Freundlichkeit zwischen Geldgebern und Chefsekretärinnen. Kurt Scheel, der neue Mann im Merkur, muss Demütigungen beim Umgang mit dem Herausgeber Schwab-Felisch und dem Klett-Verlag-Lektor Arbogast herunterschlucken. Anita Albus ist eine Prinzessin auf der Erbse. Kommt Kollege Karl Markus Michel zum Plaudern in Rutschkys Büro, oder muss es umgekehrt gehen?
  Immerhin, Michel wird als einem der wenigen aus dem Personal des Tagebuchs überhaupt die Ehre eines intellektuellen Referats zuteil: Rutschky resümiert dessen Einwände gegen die gerade herausgekommene „Theorie des kommunikativen Handelns“ von Habermas. Wer sich im Netz Michels Text aus dem Spiegel besorgt, kann einen seither aufgegebenen geistigen Anspruch im Sturmgeschütz der Demokratie bewundern. Doch genauso ausführlich erfahren wir von einer Begegnung mit Frau Habermas auf der Straße, die „auch Weihnachtseinkäufe“ macht.
  Der politische Zeithintergrund kommt nur in Milligrammdosen zur Sprache: Gewiss, der „bayerische Ministerpräsident“ Strauß ist unüberhörbar, Dr. Kohl, die „Birne“, wird Kanzler, in Polen führt ein altadeliger General das Kriegsrecht ein; doch schon die Massenemotion des Raketenwinters von 1983/84 spielt keine Rolle – eher zukunftsträchtige Affekte wie „Türken raus!“ oder Überwachungsängste, die in kühl referierten Umfragedaten aufscheinen. Ein Besuch im Bonner Regierungsviertel führt nur zu steifer Ironie.
  Der untergründige Humor, der überall zu ahnen ist, wird gelegentlich sogar manifest. Im Flugzeug beschäftigt den Beobachter R. ein Mann in Pepitaanzug mit üppigem grauen Haar. „Irgendetwas stimmt nicht daran, er ist nicht der graue Löwe, der er gern wäre; Pepitaanzüge gelten als ordinär; das Haar wächst nicht üppig genug, um eine Mähne zu bilden, außerdem zeigt es, weil fettig, Strähnen. Er liest nicht die FAZ, sondern die ,Welt‘.“
  Zwanzig Seiten später erscheint der nächste Welt-Leser: „Im Restaurant Fürstenhof sitzt am Nebentisch ein Mann, allein, und liest die ,Die Welt‘. Er trägt einen cognacfarbenen, leicht glänzenden Rollkragenpullover. Er hat eine Flasche Weißherbst bestellt, mit der er den Abend verbringen will.“
  Das ist fast eine Zeichnung von Chlodwig Poth – wer erinnert sich noch an die schöne Rubrik „Last exit Sossenheim“ in der Titanic? Doch manches ist auch von marternder Langeweile, so wenn im April 1983 hintereinander drei Lokale in Bad Kissingen beschrieben werden, das Café Paulus („keine Eisbecher“), das Bistro im Jacobihof („Ich glaube, diese Inneneinrichtungen kann man komplett kaufen, samt Toulouse-Lautrec-Lithos“) und das Synfonia („kürzlich neu eröffnet“).
  Nun sage niemand, Wirtshausexegese könne nicht interessant sein. Genau zur gleichen Zeit erschien Robert Gernhardts geniale Darlegung zur „Taverne Wachtelstubb“, einer aus deutscher Eiche und griechischen Fischernetzen geformten Kultursymbiose, einem Inbild des alten Westdeutschland. Und ein Jahr danach regte sich Karl Heinz Bohrer im Merkur furchtbar auf über mit Kreide bemalte Wirtshaustafeln auf deutschen Gehsteigen mit Ankündigungen ekelhafter Gerichte: Deutschland, ein Ort der Hässlichkeit im Sinne Baudelaires! Ganz zu schweigen von Vorbildern wie der „Kalten Herberge“ aus Adornos „Minima Moralia“.
  R. hält sich da absichtsvoll bedeckt: „Die dicke Bedienerin schaut aus wie das echte Mädchen vom Lande. Am Nebentisch zwei Schicki-Micki-Mädchen. ,Das sind bestimmt Sekretärinnen.’ Davon überzeugt R. insbesondere die Frisur der einen: Das kurze blonde Haar ist gleichmäßig nach hinten gestrichen, als blase ihr fortwährend der Wind ins Gesicht.“ Kurzum, leise verwundertes Geltenlassen ist die alles beherrschende Haltung dieser Notate. Wobei gar nicht klar wird, ob es Befunde sind oder ob nur von den Vorurteilen des Betrachters die Rede ist.
  Positiv kann man das wenden, wenn man es als Demokratisierung der Wahrnehmung versteht. Michael Rutschky hat etwas gegen die überkommene kulturkritische Bedeutungshuberei, wie sie noch im Merkur florierte, und die großen Theorien der Avantgarden hatte er soeben 1980 in seinem Buch „Erfahrungshunger“, dem „Essay über die siebziger Jahre“, dieser Mutter aller Jahrzehntbilanzen, abserviert. Der Preis des gelten lassenden („ethnologischen“) Notierens im Alltag ist ein Phlegma, das umso mehr auffällt, als die frühen Achtzigerjahre ja doch auch durch vitale Buntheit in Erinnerung bleiben. Dass dieses Jahrzehnt am Ende die Befreundung der westdeutschen Gesellschaft mit sich selbst brachte, erkannte man erst im Rückblick, als die Mauer aufging.
  Das große Aber kommt natürlich: Rainald Goetz. Er ist, neben dem Hund N. (nicht Nero oder Napoleon, sondern „Nickel“), die weitaus am häufigsten erwähnte Figur der Aufzeichnungen. Und mit dieser euphorionhaften Gestalt, sympathisch, anstellig, fleißig, immer interessant gestylt, jünglingshaft nervös, kommt ein menschliches Drama ins Gleichmaß der Tage, das am Ende zu einer Geschichte wird. Goetz nämlich, der Strahlende, ist der erwählte Sohn von R. und seiner herzhaft sympathischen, klugen Frau Katharina. Und dieser geliebte Sohn bringt es fertig, seine Klagenfurter Bluttat, das Aufritzen der Stirne beim Literaturwettbewerb, ohne Vorwarnung zu vollführen! Eine dpa-Meldung steht für das Ereignis, Katharina bricht in Tränen aus, und erst danach wird die brillante Aktion, die Peter Handkes berühmten Auftritt bei der Gruppe 47 toppen muss, durchsichtig.
  Immerhin, an dieser Stelle fließt das sympathisch-eckensteherische, skeptische und selbstskeptische Buch mit dem allgemeinen Weltlauf zusammen. An den elektrischen Schlag, den Rainald Goetz dem damaligen Leben versetzte, wird sich, wer dabei war, immer erinnern. Und Rutschkys waren in der Kulisse: Neid! Im Übrigen kann die heutige Leserin diese mitgeschriebenen Nicht-Sensationen so auf sich wirken lassen, wie Tagebücher es eben tun: Sie lässt sich vom Beobachtungsmodus des Verfassers anstecken und betrachtet, erst mal gelten lassend, was sich am Nebentisch so tut.
  Ein intellektuelles Sittenbild ist das nicht, sondern: nur ein Sittenbild. Grabe, wo du stehst: und sei es im Smartphone, denn wir wollen ja um Gottes willen nicht die alten Zeiten loben, das wäre schon viel zu viel des Engagements.
Diese Notizen aus den Jahren
1981 bis 1984 kreisen um die Welt
der Redaktionsbüros
Neben dem Hund N. wird
am häufigsten
erwähnt: Rainald Goetz
Vom Beobachtungsmodus des
Tagebuchschreibers kann man
sich anstecken lassen
Das Schlüsselwort des Essays ist seit Montaigne: „Ich“. Man kann es auch mit der Kamera sagen.
Foto: Michael Rutschky
    
    
  
  
  
Michael Rutschky: Mitgeschrieben. Die Sensationen des Gewöhnlichen. Berenberg Verlag, Berlin 2015. 432 Seiten, 25,00 Euro.
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