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'HIER' ist die Geschichte eines Stücks Welt, an dem das Leben vorüberzieht. Richard McGuire erzählt sie, indem er den örtlichen Fokus unverändert lässt, sich aber virtuos über alle Grenzen der Zeit hinwegsetzt. So zeigt er, dass es den Lauf der Dinge wenig interessiert, ob an einer bestimmten Stelle ein Saurier oder ein Mensch, ein Baum oder ein Haus steht.In der nur sechs Seiten umfassenden schwarz-weißen Comic-Erzählung 'HERE', die 1989 im legendären, von Art Spiegelman gegründeten »RAW«-Magazin veröffentlicht wurde, brach Richard McGuire mit bis dahin ungekannter Innovationskraft die…mehr

Produktbeschreibung
'HIER' ist die Geschichte eines Stücks Welt, an dem das Leben vorüberzieht. Richard McGuire erzählt sie, indem er den örtlichen Fokus unverändert lässt, sich aber virtuos über alle Grenzen der Zeit hinwegsetzt. So zeigt er, dass es den Lauf der Dinge wenig interessiert, ob an einer bestimmten Stelle ein Saurier oder ein Mensch, ein Baum oder ein Haus steht.In der nur sechs Seiten umfassenden schwarz-weißen Comic-Erzählung 'HERE', die 1989 im legendären, von Art Spiegelman gegründeten »RAW«-Magazin veröffentlicht wurde, brach Richard McGuire mit bis dahin ungekannter Innovationskraft die Einheit von Zeit, Ort und Handlung auf, schachtelte die Bilder ineinander und ließ die sequenzielle Abfolge der Handlung auf höchst produktive Weise kollabieren. Das Leben eines Menschen konnte so auf wenige, Gänsehaut erzeugende Bilder zusammenschnurren. Etwas Vergleichbares hatte es vorher (und hat es auch danach) nicht gegeben. Zum 25-jährigen Jubiläum des Erscheinens arbeitet McGuire seinen kultisch verehrten Comic nun in eine farbige, wunderbar ausgestattete Graphic Novel um. Die Neugeburt eines Klassikers - 'HIER' und jetzt.
Autorenporträt
Richard McGuire ist als Künstler in den unterschiedlichsten Bereichen tätig. So hat er unter anderem preisgekrönte Kinderbücher, animierte Kurzfilme, innovative Spiele und Spielzeuge, bahnbrechende Comics und Klangskulpturen geschaffen. Als Gründungsmitglied und Bassist der Band Liquid Liquid zeichnet er zudem für eine der bekanntesten Basslines der Popgeschichte verantwortlich. Seit 2005 entwirft McGuire Vignetten für das Magazin 'The New Yorker'. Zuletzt erschien bei DuMont seine Graphic Novel 'Hier', »ein Bild- und Text- Kunstwerk in Buchform, das innovativ und berührend Seh- und Denkgewohnheiten herausfordert und neu definiert.« (Süddeutsche Zeitung)Stephan Kleiner, geboren 1975, lebt als freier Lektor und Übersetzer in München. Zu den von ihm übersetzten Autoren zählen T. C. Boyle, Keith Gessen, Chad Harbach, Michel Houellebecq und Hanya Yanagihara.
Rezensionen

buecher-magazin.de - Rezension
buecher-magazin.de

Dieses Buch ist nichts Geringeres als eine erzählerische Offenbarung. Sein Gegenstand ist eine Wohnzimmerecke. Auf 150 Doppelseiten zeigt Richard McGuire immer denselben Ort aus immer derselben Perspektive. Was sich ändert, ist die Zeit, aber auch die verläuft nicht linear, sondern öffnet sich in Fenstern. Im Jahr 1915 ist das Wohnzimmer still und leer, 1970 liegt lang gestreckt ein Mädchen auf dem Teppich und liest, 10?000 v. Chr. ruht nicht weit von ihr ein Büffel. Über mehrere Seiten entsteht im Hintergrund die Landschaft, auf der das Haus später einmal stehen wird, und in 1932, 1923, 2008, 1996 suchen Menschen nach Dingen, die sie verloren haben: Schlüssel, Regenschirm, Verstand, Beherrschung. Geschichten spiegeln sich, Motive werden angedeutet und Seiten später wieder aufgegriffen. Vor dem großen und gleichgültigen Auge der Zeit haben alle Ereignisse das gleiche Gewicht: der Tod eines Menschen, ein gerissener Schnürsenkel, ein Glas Limonade, ein Dinosaurier. Im Betrachter löst dieses Buch einen großen Frieden aus.

© BÜCHERmagazin

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.03.2015

Liebe, Tod und einige kleinere Dinge
Mit Richard McGuires Graphic Novel "Hier" kann man wunderbar auf eine Zeitreise gehen

Als ich Richard McGuire vor ein paar Jahren kennenlernte und er mir zu erklären versuchte, worum es in dem Buch ging, an dem er gerade arbeitete, verstand ich, ehrlich gesagt, nichts. "Eine Ecke, die auf jedem Bild zu sehen sein wird, immer dieselbe Ecke, aber zu unterschiedlichen Zeiten." Irgendwie so etwas sagte er. Nein, er hat es bestimmt besser erklärt und auch ausführlicher, aber das war es, was ich davon behielt. Ein Buch über eine Zimmerecke zu verschiedenen Zeiten. Hm. Richard McGuire ist Grafikdesigner, Illustrator, Filmemacher und macht noch einige andere kreative Sachen. Wenn andere Grafikdesigner oder Illustratoren über ihn sprechen, nimmt ihre Stimme einen bewundernden, geradezu schwärmerischen Unterton an. Ich stellte mir also vor, dass es eine ziemlich gute Zimmerecke sein würde, der McGuire ein ganzes Buch widmen würde. Aber vorstellen konnte ich mir darunter nichts.

Wahren Comicfans wäre das anders gegangen. Denn Richard McGuire veröffentlichte 1989 einen sechs Seiten langen, schwarzweißen Comicstrip in Art Spiegelmans "Raw"-Magazin, der in der Comicwelt als legendär, bahnbrechend, mindestens jedoch genre-erweiternd gilt. "Here" hieß er - und spielte auf bisher nie da gewesene Weise mit Raum und Zeit: Zu sehen war immer derselbe Ausschnitt eines Zimmers - eine Ecke -, doch in verschiedenen Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten. Das Neue daran: in jedem Bild waren noch andere, kleinere Bilder zu sehen, jedes mit einer anderen Jahreszahl versehen. Es gab also eine Einheit des Raumes, aber eine Parallelität von Zeit. Hiermit war zum ersten Mal in diesem Medium, in dem normalerweise alles in kleinen Rahmen ordentlich geradeaus läuft, das Raum-Zeit-Kontinuum aufgelöst worden. In ein und demselben Quadrat fanden parallel verschiedene Dinge in unterschiedlichen Zeitebenen statt.

"Die Idee dazu kam mir, als ich gerade frisch in eine neue Wohnung gezogen war, auf meinem Bett lag, auf die Zimmerecke vor mir blickte und mich fragte, wer wohl schon alles vor mir in diesem Apartment gewohnt hatte." Ich treffe McGuire in seinem Atelier im New Yorker Stadtteil Chelsea, einem zugigen, spartanischen, hellen Raum, den er sich mit einer Kollegin teilt. "Ich versuchte dann etwas zu zeichnen, indem ich jedes Bild in der Mitte teilte und links die Vergangenheit, rechts die Zukunft zeichnete. Aber das hat überhaupt nicht funktioniert. Und dann hat mir ein Freund von einem damals ziemlich neuen Computerprogramm erzählt - Windows. Und wie darin mehrere Fenster zugleich auf dem Bildschirm offen sein könnten. Und dann hatte ich es."

McGuire hat ein scharf geschnittenes Gesicht, jeansblaue Augen und eine schwungvolle Art, beim Reden ins Plaudern zu kommen, eine Anekdote nach der anderen zu erzählen, jede mit Pointe, um sich anschließend zu entschuldigen - "mein Gott, ich gebe Ihnen viel zu viel Information". Über ihn gibt es aber übrigens auch eine ziemlich gute Anekdote, sie handelt von unsichtbarem Ruhm: Eine der berühmtesten Bass-Lines der Popgeschichte ist von ihm. Und zwar dieser geschlagene Zwei-Noten-Bass aus dem berühmten Rap-Klassiker "White Lines" von Grandmaster Flash und Melle Mel (1983). McGuire hatte sie mit seiner Underground-Punkband Liquid Liquid für einen Song namens "Cavern" eingespielt - und die Rapper hatten sich einfach bedient und damit das viel erfolgreichere Stück produziert. Es kam zu einem Gerichtsprozess, Sugarhill, die gegnerische Plattenfirma, meldete Konkurs an - McGuire hat niemals Geld bekommen. Wenn er davon erzählt, klingt er gleichermaßen geschmeichelt wie tief gekränkt. "Traumatisch", nennt er die ganze Erfahrung.

In den neunziger Jahren illustrierte McGuire einige Kinderbücher, machte animierte Filme, begann, als freier Grafiker für Publikationen wie die "New York Times" oder den "New Yorker" zu arbeiten, für den er seither etliche Cover gestaltet hat, er entwarf Spiele und was nicht noch alles - doch irgendwie ließ ihn die Idee seines ersten Comics nicht los. "Ich dachte immer, da steckt noch mehr drin. Ich wusste nur nicht genau, wie ich es erzählen könnte." 1999 unterschrieb er dann einen Buchvertrag. Doch er kam nicht voran. Dann starben innerhalb kurzer Zeit seine Mutter, seine ältere Schwester und sein Vater. Das Haus, in dem er aufgewachsen war, musste ausgeräumt und verkauft werden. "Da war so viel drin. Fünfzig Jahre an Dingen. Erinnerungen. Schachtelweise Fotos. Irgendwie hat mich das dann wieder zurück ins Thema katapultiert."

Das Haus seiner Kindheit steht in einem kleinen Städtchen namens Perth Amboy in New Jersey, das 1683 gegründet wurde, heute circa 50 000 Einwohner hat und in gewissen Kreisen eine kuriose Bekanntheit dafür hat, dass hier der Rockmusiker Jon Bon Jovi geboren wurde. McGuire recherchierte ein Jahr lang die Geschichte dieses Ortes, sprach mit Klimaforschern über mögliche Zukunftsszenarien, fand ein phonetisches Wörterbuch der Sprache, welche die hier ansässigen Indianer gesprochen hatten, sammelte jede Information, die er bekommen konnte. Doch eigentlich, sagt er, sei es egal, wo genau das Buch spiele. Er habe einfach einen Angelpunkt gebraucht, und hier kannte er sich aus.

Dann machte er sich Listen, was in seinem Buch alles vorkommen solle. Liebe, Tod, aber auch kleinere Dinge wie Missverständnisse oder dass Menschen etwas verlieren. Und er nahm sich vor, die großen Dinge immer ganz nebenbei zu erzählen und die kleinen groß zu machen. Und tatsächlich fängt er auf den etwas mehr als dreihundert Seiten viel davon ein, wie Menschen sind und leben, was sie so hoffen, fühlen und befürchten - und mehr noch, wie nichtig und unwichtig sie alle sind, wir alle sind, weil wir nur vorübergehend existieren, weil es dieses Fleckchen Erde, auf dem wir gerade stehen oder sitzen, auch Millionen von Jahren vor uns schon gegeben hat und Tausende Jahre nach uns noch geben wird (die entfernteste Zukunft im Buch ist das Jahr 22 175). Ein Ort, ein Ausschnitt aus der Welt zu verschiedenen Zeiten, parallel montiert. Eine ganz einfache Idee, aber sie erzählt von nichts Geringerem als dem Verstreichen von Zeit.

Und so sehen wir auf einem Bild in einem Raum einträchtig nebeneinander in verschiedenen Zeitfenstern den Vater des Autors, 2005 stark geschwächt auf dem Sofa liegen, Gehwägelchen steht daneben, während 1624 ein paar Schritte weiter rechts Holländer mit Indianern zusammenstanden, damals war an dieser Stelle noch Wald, und oben links fliegt 2126 ein heute noch nicht existierendes Lebewesen vorbei, das aussieht, als sei es eben erst dem Meer entstiegen. Oder wir sehen 1949, 1957, 1924, 1988 und 1945 jeweils eine andere Mutter ihr Baby im Arm halten, alle im selben Zimmer. Oder 1970 ein Mädchen lesend auf einem Teppich liegend, der anders gemustert ist als der, der 1915 dort lag - und etwa zwei Meter vor der Stelle, wo 10 000 v. Chr. mal ein Bison lag.

Oft finden sich wiederkehrende Motive auf aufeinanderfolgenden Seiten. Wenn etwa genau dort, wo die Holländer die Indianer nicht verstehen, 350 Jahre später beim Scharadespiel versucht wird, sich mit Zeichen zu verständigen. Aber das wirkt immer so leicht und wie aus dem Handgelenk dahingeschüttelt, dass man nicht glauben würde, dass der junge Mann, den McGuire anstellte, um die Buchseiten per Computer zu arrangieren, kurz vor Schluss kündigte, weil alles so oft hin und her geschoben wurde, dass er irgendwann die Nerven verlor.

Ich frage McGuire, ob er jemand ist, der an Geburtstagen oder Silvester sentimental wird. Er sagt nein - "aber ich hatte immer schon den Hang dazu, größere Zusammenhänge zu sehen. Auf die Welt wie aus einer großen Entfernung zu sehen."

Es gibt keine Protagonisten in "Hier", niemanden, an den man sein Herz hängen könnte, stilistisch ist alles eher kühl angelegt, liebevoll koloriert zwar und in verschiedenen Techniken, mal am Computer gemacht, dann wieder Aquarell oder Bleistiftzeichnung, oft alles zusammengemischt. Mitunter ist man fast an Zeichnungen aus Gebrauchsanweisungen erinnert, weil es so nüchtern und leicht erkennbar ist - und doch kann einen dieses Buch richtig rühren, wenn man es durchblättert, weil es so persönlich und dann wieder allgemeingültig ist, weil dort, wo die Eltern des Autors gerade noch nebeneinander auf dem Sofa saßen und erzählten, wie sie sich ineinander verliebten, ein paar Jahre später nur noch der Vater sitzt und viel später alles unter Wasser sein wird.

Als Richard McGuire vor einiger Zeit in Paris war, hatte er die Idee für sein nächstes Projekt. Er wohnte in einer kleinen Straße um die Ecke vom Boulevard du Montparnasse, der Rue Campagne-Première, die er hübsch, aber nicht weiter auffällig fand - bis er nach und nach erfuhr, wer hier alles gewohnt, was sich hier alles schon abgespielt hatte. Man Ray hatte hier sein Studio, Yves Klein lebte in der Nummer 14, Rainer Maria Rilke in der Nummer 9. Im Hotel "Istria", Hausnummer 29, wohnten kürzer oder länger unter anderem Marcel Duchamp, Erik Satie, Tristan Tzara, Josephine Baker, Kiki de Montparnasse und Francis Picabia. Die Straße war außerdem Schauplatz für die dramatische Lauf- und Sterbeszene von Jean-Paul Belmondo in Godards "Außer Atem" (1960). Und als er dann noch Patti Smith' Memoir "Just Kids" las und dadurch erfuhr, dass sie 1970 ebenfalls in dieser Straße gewohnt hatte, und zwar im exakt selben Haus wie er, beschloss er, einen animierten Film über diese Straße zu machen. Im Prinzip dieselbe Idee. Ein Ort und die simple Frage: Was war hier zu einer anderen Zeit? Könnte also ziemlich gut werden.

JOHANNA ADORJÁN

Richard McGuire: "Hier". Graphic Novel. Dumont, 300 Seiten, 24,99 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Nicht weniger als einen Vorstoß in die vierte Dimension sieht Christian Bos in diesem Comic des Amerikaners Richard McGuire. Allerdings liegt die Raffinesse in den Augen des begeisterten Rezensenten eben darin, dass McGuire für seine Reise durch die Zeit keinerlei technologischen Brimborium auffährt, sondern ganz einfach das immergleiche Zimmer zeigt. Das "Hier" bleibt sich gleich, aber nicht das "Jetzt": McGuire durchstreift die Jahrzehnte, Jahrhunderte und eigentlich auch die Jahrmillionen, erzählt gleichermaßen seine Familiengeschichte wie geologische und historische Umwälzungen, Benjamin Franklin tritt auf, und die Lenni-Lenape-Indianer durchstreifen den Wald. Wunderschön findet der Rezensent das.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.12.2014

Zwischen
den Jahren
Ein Tornado des Erzählens: Richard McGuires
wahrhaft epochaler Comic „Hier“
VON THOMAS VON STEINAECKER
Das Beste kommt zum Schluss. Die Jahresbestenlisten sind geschrieben, Empfehlungen für den Weihnachtskauf ausgesprochen, da erscheint dieses Buch, das nicht nur in allen Top Ten für 2014, sondern für das laufende Jahrzehnt einen der vordersten Plätze belegen sollte. „Hier“ von Richard McGuire ist mehr als ein Comic. Es ist ein Bild- und Text-Kunstwerk in Buchform, das, innovativ und berührend, Seh- und Denkgewohnheiten herausfordert und neu definiert.
  Aber von Anfang an: 1989 erschüttert die Comic-Welt eine kleine Revolution. Sie ist sechs Seiten lang, besteht aus 35 gleichgroßen Schwarz-Weiß-Panels und ist in dem legendären RAW-Magazin abgedruckt, herausgegeben von Françoise Mouly und ihrem Mann Art Spiegelman. Auf den ersten Blick wirkte die Originalfassung von „Hier“ allerdings ziemlich unspektakulär. Das erste Panel zeigt abstrakte Linien, die als Ecke eines leeren Hauses erkennbar werden. Es folgt eine häusliche Szene, datiert auf das Jahr 1957: Eine Hochschwangere erklärt ihrem Mann „Honey? I think, it’s time.“ Dann sehen wir den frisch gebackenen Vater, der stolz am Telefon die Geburt seines Sohnes verkündet, auf Panel vier die junge Mutter mit Kind.
  So weit, so gut. Auffallend ist bis dahin nur, dass immer dieselbe Perspektive beibehalten wird: Stets ist es die Ecke des Hauses aus dem allerersten Panel. Aber dann. Wie beim damals gerade erfundenen Windows-Betriebssystem öffnet sich ein Fenster, auf dem die Fortsetzung der Mutter-Kind-Geschichte vor einem Bild aus dem Jahr 1922 abläuft; immer mehr Ansichten aus verschiedenen Epochen kommen jetzt hinzu. Mal befinden wir uns in der Urzeit, wo ein Dinosaurier durchs Bild stapft, mal in der Zukunft, 2027, wo sich die Szene vom Anfang wiederholt: Eine schwangere Frau in futuristischer Kleidung sagt ihrem Mann, es sei Zeit, ins Krankenhaus zu fahren. Als Leser fühlt man sich ein bisschen wie Rod Taylor in der Verfilmung der „Zeitmaschine“, der durch die Epochen rast und dabei doch auf der Stelle bleibt. „Hier“ war eine Meditation über das Wesen der Zeit anhand der Geschichte weniger Quadratmeter, oder besser, eines winzigen Ausschnitts Welt, der pars pro toto für die gesamte Menschheitsgeschichte steht.
  Der Einfluss dieser sechs Seiten auf die Comicgeschichte kann kaum groß genug eingeschätzt werden. So wären die Graphic Novels von Chris Ware, einem der führenden Comicautoren der Gegenwart, ohne „Hier“ nicht denkbar. Zum Charme des Auftritts gehörte, dass McGuire ein Außenseiter der Szene war, der wiederum ein paar Jahre zuvor Weltruhm erlangt hatte, ohne dabei selbst bekannt zu werden: Als Mitglied der New Yorker Post-Punk Band Liquid Liquid erfand er eine der am meisten gesampelten Basslinien der Musikgeschichte. Und auch nach dem Erfolg von „Hier“ zog es McGuire zu anderen Medien. Er veröffentlichte Kinderbücher, arbeitete als Illustrator für den New Yorker und drehte experimentelle Kurzfilme.
  Und jetzt also „Hier“ als Langfassung, in Buchform. Berechtigterweise darf man da erst einmal skeptisch sein: Die RAW-Version funktionierte ja gerade wegen ihrer extremen Komprimierung so gut. Aber bereits beim Aufschlagen des 300-Seiten-Opus wird klar: Hier ist zwar die Ausgangsidee identisch – immer derselbe Bildausschnitt desselben Ortes –, aber doch alles anders. Das beginnt bei der Seitenarchitektur. Die Kurzfassung bot etwas willkürlich sechs Schwarz-Weiß-Panels pro Seite. Im Buch zeigt nun eine Doppelseite jeweils ein farbiges Bild. Und wie ernst es McGuire mit dem Medium ist, beweist sein Umgang mit dem Buchfalz: Er verläuft genau dort, wo sich das Leitmotiv der Geschichte, die Zimmerecke, befindet. Die dezente Kolorierung der klar linierten, fast fotorealistischen Szenen dient wiederum der Orientierung innerhalb der weit auseinander liegenden Jahre, von denen bis zu 19 gleichzeitig auf einer Seite vertreten sind: Jeder Jahreszahl entspricht ein Grundton.
  Und auch die Zweifel, wie dieses Tornado-Erzählen, das Szenen aus allen Epochen anreißt und durcheinanderwirbelt, auf der langen Strecke durchzuhalten ist, zerstreuen sich schnell. War „Hier“ als Kurzgeschichte so einflussreich, weil es einen Setzkasten neuer narrativer Formen präsentierte, kommt nun in der Buchfassung jenes Element hinzu, das vor 25 Jahren noch fehlte: emotionale Tiefe. Nach wie vor ist Platz für herrliche formale Spielereien, wenn etwa gleichzeitig auf 18 verschiedenen Fenstern Flüche von 1949 bis 2111 durch das Wohnzimmer hallen oder sich ein Kind wie auf den Serienaufnahmen von Eadweard Muybridge zu bewegen beginnt. Doch daneben dominieren Fragmente zwischenmenschlicher Szenen, die sich zu einem Puzzle des Lebens fügen: Im 17. Jahrhundert kommt es zu einem Schäferstündchen zwischen einem Indianer-Pärchen, nach dessen Überresten 300 Jahre später gegraben wird; in trauter Runde erleidet ein Rentner einen Herzinfarkt und kippt über die nächsten 300 Seiten im Zeitlupentempo vom Stuhl. Am Vorabend des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs findet ein Familientreffen statt, in dem heftig über die Zukunft des Landes gestritten wird. Zwischendurch werden wir Zeuge der Entstehung der Erde vor drei Milliarden Jahren und eines Geigerzählers, der in ferner Zukunft anzeigt, dass der Ort, dessen Schicksal wir beobachten durften und den wir lieb gewonnen haben, hoffnungslos verseucht worden ist.
  Zum Zeiten-Zauber des Buches trägt schließlich auch seine Rahmenhandlung bei: die Mini-Episode einer Frau, die 1957 mit den Worten „Was wollte ich noch gleich hier?“ das Wohnzimmer betritt, bis es ihr 300 Seiten und eine Menschheitsgeschichte später wieder einfällt. Wie in einem Augenaufschlag zogen dazwischen all die Umarmungen, Streitereien und kleinen Alltagssituationen vorbei. Und für die Dauer der Lektüre erfuhren wir, wie bestürzend flüchtig und trotz allem triumphalintensiv das Leben auf dieser Welt ist.
Richard McGuire: Hier. Graphic Novel. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Dumont Verlag, Köln 2014. 300 Seiten, 24,99 Euro.
Wie beim gerade erfundenen
Windows-Betriebssystem
öffnet sich das Erzähl-Fenster
Wie bestürzend flüchtig und intensiv
doch das Leben ist: Auf 300 Seiten zeigt
„Hier“ einen Raum und in vielen Fenstern, wie das Leben durch diesen Ort hindurchzieht.
 Abbildung aus dem besprochenen Band
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