Nicht lieferbar
Der Fall Sürücü - Tiz, Enis
Schade – dieser Artikel ist leider ausverkauft. Sobald wir wissen, ob und wann der Artikel wieder verfügbar ist, informieren wir Sie an dieser Stelle.
  • Broschiertes Buch

Die Ermordung von Hatun Sürücü am 07. Februar 2005 hinterließ viele Spuren, die unsere Gesellschaft bis heute beschäftigen. Eine junge Frau wird auf offener Straße von ihrem jüngeren Bruder durch drei Kopfschüsse "im Namen der Ehre" hingerichtet, weil sie "wie eine Deutsche" gelebt hat. Der Fall Sürücü bzw. Ehrenmorde und die damit einhergehenden gesellschaftlichen wie juristischen Probleme haben auch nach fast sechzehn Jahren nichts an Aktualität verloren. Die Arbeit beschränkt sich nicht auf dogmatische Gesichtspunkte, sondern greift weit darüber hinaus in die Kriminologie, insbesondere die…mehr

Produktbeschreibung
Die Ermordung von Hatun Sürücü am 07. Februar 2005 hinterließ viele Spuren, die unsere Gesellschaft bis heute beschäftigen. Eine junge Frau wird auf offener Straße von ihrem jüngeren Bruder durch drei Kopfschüsse "im Namen der Ehre" hingerichtet, weil sie "wie eine Deutsche" gelebt hat. Der Fall Sürücü bzw. Ehrenmorde und die damit einhergehenden gesellschaftlichen wie juristischen Probleme haben auch nach fast sechzehn Jahren nichts an Aktualität verloren. Die Arbeit beschränkt sich nicht auf dogmatische Gesichtspunkte, sondern greift weit darüber hinaus in die Kriminologie, insbesondere die Kriminalsoziologie des Falles. Der Autor plädiert für verstärkte Präventionsmaßnahmen, die stärkere Berücksichtigung interkultureller Kompetenzen in der Juristenausbildung und für einen verpflichtenden Ethikunterricht.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.07.2022

Der Fall Sürücü als juristische Doktorarbeit
Enis Tiz gewinnt aus einem bekannten Ehrenmord kaum rechtswissenschaftlichen Ertrag

Im Februar 2005 erschütterte die Ermordung der 23 Jahre alten Hatun Sürücü die Bundesrepublik. Die Berlinerin mit türkischen Wurzeln pflegte einen westlichen Lebensstil. Dreien ihrer Brüder gefiel das nicht. Der jüngste ermordete sie deshalb. Das Berliner Landgericht verurteilte den 18 Jahre alten Ayhan daraufhin zu einer Jugendstrafe. Seine beiden älteren Brüder beschuldigte eine Zeugin der Beihilfe. Das Berliner Landgericht sprach beide frei: Es fehle an Beweisen. Später hob der Bundesgerichtshof den Freispruch auf. Zu einer neuen Verhandlung vor deutschen Strafrichtern kam es aber nicht. Die beiden Männer wanderten in die Türkei aus. Dort sprach ein Gericht sie abermals mangels Beweisen frei. Eine Jugendstrafe wäre aufgrund ihres Alters nicht mehr in Betracht gekommen.

Weite Teile der Öffentlichkeit waren mit den juristischen Konsequenzen des Mordes unzufrieden. Es blieb bei vielen das Gefühl zurück, nicht alle Schuldigen seien bestraft worden. Der Grünen-Politiker Cem Özdemir gab zu bedenken, dass "solche Mordurteile im Familienrat gefällt werden". Die Empörung war auch deshalb groß, weil die mutmaßlichen Tathelfer im Gerichtssaal Richter und Staatsanwalt verhöhnten. Die Boulevardpresse griff den Fall immer wieder auf.

Die Idee des Juristen Enis Tiz, über den Fall seine juristische Doktorarbeit zu schreiben, ist aufgrund des damaligen öffentlichen Interesses nachvollziehbar. Einen Gefallen hat sich der Würzburger Strafrechtler mit diesem Projekt aber nicht getan. Der Fall ist juristisch nicht so spannend, wie die breite Anteilnahme nahelegt: Die strafrechtliche Würdigung eines Ehrenmords ist nicht kompliziert. Rechtsprechung und weite Teile der Literatur sind seit Jahren darin einig, eine solche Tat als Mord aus niedrigen Beweggründen zu qualifizieren. Dass sich die Schuld des Täters verringert, weil er die deutsche Rechtsordnung nicht kennt, kommt allenfalls in extremen Ausnahmesituationen in Betracht.

Ayhan Sürücü war keine solche Ausnahme. Ihm waren die deutschen Gesetze gut bekannt. Dass seine beiden Brüder freigesprochen wurden, lag nicht an materiell-rechtlichen Problemen, sondern an Zweifeln über den Tathergang. Die einzige Zeugin - die frühere Freundin des Täters - war eine "Zeugin vom Hörensagen". Sie war bei der Tat nicht dabei und konnte nur erzählen, was ihr Ayhan berichtet hatte. In der Türkei konnte sie nicht mehr vernommen werden: Zu diesem Zeitpunkt befand sie sich bereits in Deutschland in einem Zeugenschutzprogramm.

Der juristische Kern des Falls allein ist folglich zu klein, um eine Promotion zu tragen. Dies hätte die Qualität der wissenschaftlichen Arbeit aber nicht mindern müssen. Denn die rechtspolitischen Folgen des Falls waren beträchtlich. Sie sind bis heute im Strafgesetzbuch sichtbar: Insbesondere die CSU machte sich im Nachgang der Ermordung Hatun Sürücüs dafür stark, Zwangsheiraten mit einem eigenen Straftatbestand zu sanktionieren. Sie stellte einen Zusammenhang zwischen den daraus entstandenen Ehen und Ehrenmorden her. Hatun Sürücü hatte im Alter von 16 Jahren in der Türkei geheiratet. Die Ehe scheiterte später. Ob sie aufgrund einer Zwangsheirat geschlossen worden war, ist bis heute ungeklärt. Das Berliner Landgericht ging eher von einer arrangierten Ehe aus. Dennoch hatte das Werben der CSU für die Gesetzesverschärfung Erfolg: Nach jahrelanger kontroverser Debatte trat sie 2011 in Kraft.

Es hätte nahegelegen, in einem Buch über den Fall Sürücü die Wechselwirkung zwischen der Ermordung Hatuns und der darauf folgenden Gesetzesänderung eingehend zu untersuchen. Dies erfolgt leider nur oberflächlich. Ebenso hätte es Ertrag versprochen, den Straftatbestand der Zwangsheirat nach zehn Jahren Geltung kritisch zu würdigen. Enis Tiz unterlässt das. Dass seine Arbeit trotzdem auf einen Gesamtumfang von 220 Seiten kommt, liegt vor allem daran, dass er das Leben Hatun Sürücüs ausgiebig schildert. Das ist interessant zu lesen, allerdings wird nicht immer klar, welchen juristischen Mehrwert diese Textteile haben. Die Wiedergabe ihres Lebens basiert vor allem auf dem Buch zweier Journalisten, das gewissenhaft zitiert wird. Angesichts der Vielzahl an Berichten über den Ehrenmord und seine Vorgeschichte wäre es gut gewesen, mehr Quellen heranzuziehen.

Am Ende seiner Arbeit verlässt der Autor das Gebiet des Strafrechts. Als "präventive Maßnahme" gegen Ehrenmorde empfiehlt er einen verpflichtenden religiös und weltanschaulich neutralen Ethikunterricht für alle Schüler nach dem Vorbild Berlins. Zwar betont er, dieser Ethikunterricht könne "nicht als Konkurrenzfach zum Religionsunterricht ausgelegt werden". Dass infolge einer solchen Pflichtethik die Anmeldezahlen zum bekenntnisorientierten Religionsunterricht zurückgingen, sei aber in Kauf zu nehmen. Wenig später wird erkennbar, dass der Autor generell nicht viel von diesem Schulfach hält: Er schreibt, dort sei "Religionskritik nur sporadisch" zu hören. Fundiert wird diese Aussage nicht. Hätte der Autor die Lehrpläne des bekenntnisorientierten Religionsunterrichts in den verschiedenen Bundesländer ausgewertet, wäre er wohl zu einem differenzierteren Ergebnis gekommen.

Juristisch ist sein Werben für den verpflichtenden Ethikunterricht dennoch gut vertretbar: Dessen Berliner Variante hat das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2007 gebilligt. Warum ein solches Schulfach aber besser als der bekenntnisorientierte Religionsunterricht als Präventionsmaßnahme gegen Ehrenmorde taugen soll, hätte der Autor argumentativ besser begründen müssen. Auch eine vom eigenen Glauben getragene Vermittlung theologischer Inhalte ist in der Lage, religiösem Fundamentalismus vorzubeugen. Dies zeigt nicht nur der evangelische und katholische Religionsunterricht, der das deutsche Schulwesen seit Jahrzehnten prägt. Im heutigen Deutschland beweisen dies auch zahlreiche Islamlehrer und Imame in Schulen und Moscheen, die Ehrenmorde ebenso klar verurteilen, wie sie mit Verve für ihren Glauben eintreten. STEPHAN KLENNER

Enis Tiz: Der Fall Sürücü. Ehrenmorde in Deutschland.

Ergon Verlag, Baden-Baden 2022. 235 S., 59,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Stephan Klenner hat Zweifel an Sinn und Bedeutung der juristischen Dissertation des Strafrechtlers Enis Tiz über den "Ehrenmord" an Hatun Sürücü. Dass der Fall Schlagzeilen machte, reicht Klenner nicht. Juristisch findet er ihn nicht sonderlich spannend oder komplex. Weil der Autor sich zu wenig mit den strafgesetzlichen Folgen des Mordes befasst, namentlich einer Gesetzesverschärfung von 2011, verpasst er laut Klenner die Chance, das Buch für den Leser interessanter zu machen. Stattdessen berichtet der Autor aus dem Leben der Ermordeten, allerdings ohne neue Quellen heranzuziehen, so Klenner.

© Perlentaucher Medien GmbH