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Zehn Jungen rasen auf ihren Motorrollern durch die Stadt. Sie heißen Maraja, Dentino, Lollipop, Drone, sie tragen Markenschuhe und den Namen der Freundin auf die Schulter tätowiert - und sie wollen alles haben. In Neapel ist das nur eine Frage der richtigen Camorra-Bande. Der Weg vom Pusher zum Killer ist kurz. Auf den Dächern der Stadt üben die 15-jährigen mit Sturmgewehren, zielen auf Mülltonnen und Fensterscheiben. Bald gilt ein Menschenleben weniger als ein gebrochenes Wort. Sie fühlen sich unsterblich, bis der Glanz ihres rasanten Lebens sie schließlich selbst blendet. Roberto Savianos…mehr

Produktbeschreibung
Zehn Jungen rasen auf ihren Motorrollern durch die Stadt. Sie heißen Maraja, Dentino, Lollipop, Drone, sie tragen Markenschuhe und den Namen der Freundin auf die Schulter tätowiert - und sie wollen alles haben. In Neapel ist das nur eine Frage der richtigen Camorra-Bande. Der Weg vom Pusher zum Killer ist kurz. Auf den Dächern der Stadt üben die 15-jährigen mit Sturmgewehren, zielen auf Mülltonnen und Fensterscheiben. Bald gilt ein Menschenleben weniger als ein gebrochenes Wort. Sie fühlen sich unsterblich, bis der Glanz ihres rasanten Lebens sie schließlich selbst blendet. Roberto Savianos erster großer Roman erzählt von einer Jugend ohne Gott: schnell, brutal und ohne Pardon.
Autorenporträt
Annette Kopetzki, 1954 in Hamburg geboren, studierte Germanistik, Philosophie und Erziehungswissenschaft und arbeitete viele Jahre als Universitätsdozentin und Journalistin in Italien. Sie übersetzte u.a. Pier Paolo Pasolini, Erri De Luca und Alessandro Baricco. 2019 wurde sie mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.02.2018

Der Capo kratzt sich nicht in einem feierlichen Moment
Die Camorra - ein Kinderspiel? Roberto Savianos neuer Roman "Der Clan der Kinder" beschreibt und ästhetisiert den abgehängten Süden Italiens

Der Titel des Originals fällt in der Übersetzung ins Wasser. In den Golf von Neapel, den Schauplatz des neuen Romans von Roberto Saviano, über den hinaus er auch im Italienischen in dieser Bedeutung nicht geläufig ist. "La paranza dei bambini" nennt der Schriftsteller, was im Deutschen "Der Clan der Kinder" heißt: "Paranza" ist ein Wort vom Meer, es kann das Boot, "das Fische mit Licht in die Falle lockt", aber auch Abkürzung für "Frittura di paranza", ein Gericht aus kleinen, frittierten Meerestieren, bedeuten, eine grobe Mischung, die nur als Ganzes ihren "charakteristischen Geschmack" bekommt und, schnell erhitzt und gegessen, eine Delikatesse ist. Der Autor stellt entsprechende Erläuterungen dem ersten und dem letzten der drei Teile des Buches voraus, in dem "paranza" eine Bande junger Camorristi, "keiner von ihnen war älter als sechzehn", meint. Der Titel wird zur vieldeutigen Metapher.

Kleine Fische, die vom gleißenden Licht angezogen werden, sind auch Nicolas Fiorillo und seine Freunde aus dem Altstadtviertel Forcella, die auf die Spitznamen Briatò, Tucano, Dentino, Dragò, Lollipop, Pesce Moscio, Stavodicendo, Drone, Biscottino und Cerino hören. Für Nicolas war das Nuovo Maharaja, ein Luxus-Restaurant über dem Meer auf den Felsen von Posillipo, dieses Licht, das ihn anlockte. Seit seiner Kindheit kennt er es, eine protzige Festung, Treffpunkt der Reichen und Schönen. Hier nicht nur einmal essen, sondern täglich ein- und auszugehen und sein eigenes Separee zu haben - das ist sein Traum und sein Ehrgeiz, mit dem er seine Freunde angesteckt hatte, so dass sie ihm den Spitznamen "Maraja" verpassten. Glanz, der ihn blendete.

Aber wie sollte Nicolas, der Vater ist Sportlehrer, die Mutter hat eine kleine Wäscherei, das schaffen? Und wie lange würde er dafür brauchen? Dann aber hatte Copacabana mit Agostino gesprochen und ihm und seinen Freunden, zu denen auch Nicolas gehört, angeboten, für ihn zu arbeiten. Copacabana war der Capo im Viertel, einer von den Striano, doch seine Organisation war zerschlagen und er nur davongekommen, weil er sich in Brasilien versteckt hatte. Jetzt musste er alles neu aufbauen, die Jungs sollten ihm dabei helfen und in der Schule, im Freundes- und Bekanntenkreis Haschisch verschieben. Wie einfach das war! Die Geschäfte liefen gut, eines Tages aber sind sie aufgeflogen. Die Eltern waren außer sich, es setzte Ohrfeigen, doch nur einer von ihnen, der die Verantwortung übernahm, ging in den Knast. Die Jungs hielten dicht. Woraufhin Copacabana sie ins Nuovo Maharaja einlud. Hier nun fängt ihre Karriere erst richtig an. Aus Dealern werden Pusher, Erpresser, Mörder.

Roberto Saviano hat einen Entwicklungsroman über den abgehängten Süden Italiens geschrieben, wo Rückständigkeit und Staatsversagen, Jugendarbeitslosigkeit und Korruption die Weichen für kriminelle Karrieren stellen. Sein "Held" ist Nicolas, genannt Maraja, ein intelligenter Typ, der, blond und "schwarze Nadelaugen", tat, "was alle in seinem Alter taten: Nachmittage auf dem Moped vor der Schule, Selfies und die Sucht nach Sneakers". Ein Anführer, der seinen Machiavelli gelesen und sich viel von Mafiafilmen abgeschaut hat. Ein Gewalttäter, der, und damit beginnt der Roman, sich Renatino, weil der Fotos von seiner Freundin Letizia mit "Likes" markiert hat, vorknöpft und übel malträtiert. Schon als Kind war er Zeuge eines Mordes gewesen, bei dem das Blut in Bächen über die Straße floss. Das hat ihm jede Angst genommen.

In der Saletta, einem Treffpunkt zwischen Bar, Tabakladen, Spielhalle und Wettbüro, gibt Nicolas den Ton an. Schnell lernt er dazu, beherrscht Erniedrigungen und Entwertungen, verschafft sich Autorität, Gier und Machtbewusstsein treiben ihn an. Er liebt Letizia, für die er einen Luftballon nach dem anderen aufblasen lässt, "bis zu den Sternen", ist stolz auf den Cippo, die griechischen Steine in seinem Viertel, und Tifoso von Napoli. Familiär weder vorbelastet noch disponiert, boxt er sich nach oben. Ein Selfmade-Mafioso. Er beschafft sich eine Pistole, nimmt sie, in der Unterhose versteckt, mit nach Hause und beeindruckt seinen Bruder Christian damit: "König spielen."

Bald werden die Verbrechen dreister, skrupelloser, brutaler: Die Paranza überfällt einen Tabakkiosk, zockt die "Scheißmarokkaner und Neger", dann die Parkwächter ab, sogar von den Müttern auf dem Spielplatz fordert sie Schutzgeld. Und schaltet sich, als das Nuovo Maharaja ausgeräumt wird, ein, indem sie den Zigeunern, die sie für die Täter hält, auf die Pelle rückt. So stört sie die Geschäfte eines Clans, der ihr Anteile anbietet. Doch Nicolas baut seine eigene Organisation auf, die das alte, auf Blutsbanden beruhende System überwinden und die Kontrolle über das Viertel gewinnen will. Die Feinde der Feinde sind seine Verbündeten: "Camorra 2.0". Er besorgt eine leerstehende Wohnung als Versteck, legt Regeln fest, denen alle sich fügen müssen, verschafft sich Zugang zu dem alten Capo, bietet ihm, haarscharf balancierend zwischen Respekt und Präpotenz, die jugendliche Stirn, und erträgt scheinbar ungerührt die Demütigung, sich ausziehen und nackt vor ihm sitzen zu müssen.

Als er seine Freunde zu "Blutsbrüdern" einschwört, folgt Nicolas dem Ritual, das er aus Giuseppe Tornatores Film "Der Professor" ("Il camorrista") kennt. Die Paranza besorgt sich Maschinenpistolen und halbautomatische Revolver, spendiert in der Straße ein Feuerwerk, um auf dem Dach ungestört Schießübungen auf Fernsehantennen und Satellitenschüsseln abhalten zu können, richtet bei einer unverdächtigen Pflegerin aus Eritrea ein Waffenlager ein, trainiert "Neger-Abknallen" am Bahnhof, stößt mit Moët & Chandon an und scheffelt haufenweise Geld. Niemand ist vor ihr sicher. Aus den kleinen Fischen sind Haie geworden: "Wir werden bald die Könige von Neapel sein." Auch Roipnol, den alten König, lässt Nicolas aus dem Weg räumen. Doch sein Aufstieg ist von Hybris begleitet, die ihm zum Verhängnis wird. Dass er Dumbo, den Freund seines kleinen Bruders, umbringt, bezahlt dieser mit dem Leben: Zum Finale wird Christian, als er auf der Rolltreppe der Metrostation Toledo ins Licht fährt, von drei Schüssen niedergestreckt.

Zehn Jahre nach "Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra", dem 2006 erschienenen Welterfolg, hat Roberto Saviano mit "Der Clan der Kinder", der in Italien Ende 2016 herauskam, einen Roman vorgelegt. Aus dem investigativen Journalisten, der beobachtet, recherchiert, dokumentiert und (oft in der ersten Person) berichtet, ist ein auktorialer Erzähler geworden, der in der dritten Person schreibt - und seine Erkundungen der organisierten Kriminalität fortsetzt. Doch nicht mehr so sehr die Strukturen der Camorra, ihre Geschäftsfelder, Handelswege und ihr Filialwesen, werden analysiert als ihre Psychologie und Ideologie, ihr faschistisches Menschenbild und ihre pervertierten Tugenden inspiziert, der Kitsch und die bigotte Religiosität, die Selbststilisierung und das Gebaren: "Ein Capo kratzt sich nicht in einem feierlichen Moment", sinniert Nicolas einmal.

Einen Camorrista von fünfzehn Jahren hat die neapoletanische Literatur schon vor mehr als hundert Jahren vorgestellt: Filippo Mastriani, ein heute vergessener Autor, brachte 1909 den Roman "Un camorrista di 15 anni" heraus, in dem ein Priester namens Pietro Paranza (!) der Mafia zuarbeitet. Roberto Saviano aber reflektiert ein aktuelles Phänomen, (nicht nur) in Neapel verbreiten "Baby-Gangs" von Zehn- bis Elfjährigen Angst und Schrecken. Kinder ohne Kindheit, Jugend ohne Gott. In "Der Clan der Kinder" bebt die Stadt am Vesuv als apokalyptisches Sündenbabel, neben dem sich das Nachkriegs-Neapel der Elsa Ferrante als schlichte Idylle ausnimmt.

Ein hartes Buch, ungeschminkt und schroff, auch wenn die Gewalt sich mitunter in die Groteske dreht. Dabei sind die Figuren fiktiv, doch die Geschichte ist nicht frei erfunden, sie hat Vorbilder in der Wirklichkeit, stützt sich auf Gerichtsfälle und Abhörprotokolle der Polizei. Der "bimbi-killer" Emanuele Sibillo, der 2015 im Alter von zwanzig Jahren in Forcella erschlagen wurde und für Nicolas Pate stand, genießt bereits Heldenstatus. Spannend und mit viel direkter Rede erzählt, lässt der Roman den neapoletanischen Dialekt zu Wort kommen. In der schnellen, stimmigen Übersetzung von Annette Kopetzki, die auch Abkürzungen wie "DEA" (für "Drug Enforcement Administration") stehen lässt, können davon nur Rudimente übrig bleiben. Formelhaft kehrt "Adda murì mammà!" wieder, mit dem Nicolas jeden Zweifel und jede Widerrede ausschließt: "Sonst soll meine Mutter tot umfallen."

Im lichtspielerisch aufgezogenen Showdown, aber auch schon in Szenen zuvor, hat der Leser die kommende Verfilmung des Romans bereits vor Augen: Ein Aufstieg aus der Unterwelt, eine Fahrt in die Sonne, die auch an Francis Ford Coppolas "Pate III" anschließt, an dessen Ende Don Michael Corleones Tochter Mary auf der Treppe des Teatro Massimo in Palermo erschossen wird. Hier bedient der Roman Kinobilder der Mafia, die sich erfolgreich über die Wirklichkeit gelegt haben und, auf den Effekt kalkuliert, die Verbrechen ästhetisieren. Womöglich ein Glanz, der Roberto Saviano lockt und blendet?

ANDREAS ROSSMANN

Roberto Saviano: "Der Clan der Kinder". Roman.

Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Carl Hanser Verlag, München 2018. 416 S., geb., 24,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Thomas Steinfeld befürchtet, dass das Übermaß an Anschauung in Roberto Savianos Roman über die Geschichte einer Mafia-Jugendbande, die Neigung zur Brutalität und zum Ambiente, die Frage nach den Ursachen der Mafia-Gewalt verdrängen könnte. Würde der Autor nur besser schreiben, meint Steinfeld, dann wäre das Buch ein klassischer "Giallo". Dass Faszination und Abscheu im Text so nah beieinander liegen, führt Steinfeld indes auf eine Dialektik zurück, die der Mafia seiner Meinung nach ureigen ist, indem sie Angriff auf die öffentliche Ordnung und Gestaltung von Ordnung in einem ist.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.03.2018

Ehrenwerte Gesellschaft
„Der Clan der Kinder“: Roberto Saviano fiktionalisiert sein Wissen über die Mafia, und der Soziologe Federico Varese analysiert sie als modernen Betrieb
Im vergangenen Jahr erschien in Italien ein Buch über das organisierte Verbrechen. Unter dem einprägsamen Titel „La mafia siamo noi“ („Die Mafia sind wir“) widerspricht darin Sandro de Riccardi, ein römischer Journalist, der beliebten Vorstellung, die Mafia sei ein Krake, der eine eigentlich gute Gesellschaft umschlingt und auszehrt. Die Mafia beginne vielmehr in alltäglichen Verhältnissen, bei den kleinen Gefälligkeiten und Rücksichtnahmen, den „Netzwerken“ des Geschäftswesens, und von dort aus wachse sie bis sie in die Spitzen des Gemeinwesens hinein, vom Staat gleichermaßen bekämpft wie geduldet. Dabei nehme sie den Charakter einer geheimen Organisation an – die allerdings, eben weil sie in der Mitte der Gesellschaft lebe, nie so gefestigt sei, dass sie nicht der permanenten Bestätigung bedürfe. Deswegen schauten Mafiosi gerne Spielfilme über die Mafia, nicht nur aus dem einschlägigen Verbrecherkino, sondern auch die aktuellen Fernsehproduktionen, die unter der Rubrik „Anti-Mafia“ ausgestrahlt werden.
Begründer dieses Genres, in Buchform, ist der neapolitanische Journalist Roberto Saviano, dessen Werk „Gomorrha“ (2006), eine mit literarischen Mitteln arbeitende Reportage, eine neuartige und sehr erfolgreiche Auseinandersetzung mit der Mafia einleitete. Ihr aufklärender Charakter soll vor allem darin bestehen, dass sie einerseits das Wirken des organisierten Verbrechens in seinem ganzen Breite sichtbar macht, andererseits die Gewalt veranschaulicht, die, oft bis in Extreme von Sadismus und Blutrünstigkeit getrieben, die Geschäfte der Mafia begleitet. Die schlichte Erkenntnis, dass es diese Mafia gibt – gleichgültig, ob neapolitanisch, kalabrisch oder sizilianisch –, und eine Vorstellung davon, mit welcher Reichweite und Intensität sie auch nicht-mediterrane Gesellschaften durchdringt, zählen dabei zu den Erträgen der Lektüre. Ebenso die Einsicht, dass die Mafia zwar in ihrer Konkurrenz der Gewalt gegen den Staat Züge einer terroristischen Vereinigung, zugleich aber selber wie ein Staat funktioniert, mit festen Hierarchien, Gerichtsbarkeit, Bürokratie und Steuerwesen. Im Übermaß der Anschauung droht allerdings bei Saviano die Frage verloren zu gehen, warum es diese Einrichtung überhaupt gibt und ob man ihr mit Anschauung allein auf die Schliche kommen kann.
Die Frage erscheint als um so dringender, als nun Savianos erster Roman erschienen ist. „Der Clan der Kinder“ teilt den Gegenstand mit den Sachbüchern des Autors, handelt also vom organisierten Verbrechen in Neapel, aber nun übernimmt eine erdachte Handlung die Regie über das Material, die Geschichte von Aufstieg und Fall einer jugendlichen Bande. Tatsächlich rückt derzeit in den Zentren des organisierten Verbrechens, wo die traditionelle Mafia – vom Staat konsequenter verfolgt – zunehmend geschwächt ist, eine weniger streng verfasste, an keinen Ehrenkodex mehr gebundene und um so brutaler vorgehende Jugend nach – eine Jugend, für die es angesichts extrem hoher Arbeitslosigkeit nie einen Platz im bürgerlichen Leben gegeben hat. Die Frage aber bleibt: Weshalb die Fiktion?
Savianos Roman trägt unübersehbar Züge des „Giallo“, der italienischen Variante des Kriminalromans, wie des Verbrecherkinos. Zum „Giallo“ gehören die verworrene Handlung, die Neigung zur Brutalität und zu allerhand Unappetitlichem wie auch die Dominanz von Ambiente und Atmosphäre über Schlüssigkeit und Szenenfolge. Manche Passagen sind dem Genre der „exploitation“, der Darstellung von Gewalt um der schieren Schaulust willen, nicht fern, und der Übergang wäre vielleicht sogar vollzogen, wenn der Autor besser schriebe. Angesichts von spritzender Hirnmasse, explodierenden Katzen und ejakulierenden jungen Männern könnte man auf „Voyeurismus“ befinden und das Problem damit auf moralische Weise aus der Welt schaffen. Jedoch ist der Fall komplizierter: Abscheu und Faszination liegen hier eng beieinander, Albtraum und Wunschtraum sind innig miteinander verflochten, obwohl Roberto Savianos Gegnerschaft zur Mafia gewiss aufrichtig ist.
Für diese Dialektik gibt es Gründe, die in der Mafia angelegt sind und ihre Verhältnisse zugleich übersteigen. Die Mafia ist erstens eine deutliche Erinnerung daran, dass aller Kapitalismus, wie zivilisiert und vermittelt auch immer, auf Raub und Ausbeutung zurückgeht. Sie lässt zweitens sichtbar werden, dass der Schutz des Einzelnen vor physischer Gewalt nicht selbstverständlich ist, sondern durch ein staatliches Gewaltmonopol gewährleistet wird. Und drittens lebt in der Mafia, obwohl sie sich längst auch in den Zentren des Reichtums durchgesetzt hat, immer noch eine Geschichte der Armut fort, ein Wissen darum, dass man sich in der Not leichter behauptet, wenn man sich zu einer Bande zusammenschließt. Die Mafia ist ein Angriff auf die öffentliche Ordnung, in dem ein Wissen um das Prekäre dieser Ordnung enthalten ist – und der sich eben deshalb selbst als Ordnung gestaltet.
Wenn Federico Varese, Soziologe und Professor für Kriminologie an der Universität Oxford, sein Buch „Mafia-Leben“ mit Überlegungen zum Verhältnis von Mafia und Staat enden lässt, hat er dafür also gute Gründe. Denn die Geschäfte der Mafia setzen ihre Duldung, ja Förderung durch die Politik voraus, so wie umgekehrt die Mafia in nicht wenigen Fällen für das Gelingen von politischen Karrieren sorgt. Selbstverständlich bedeutet dieses Ineinander auch, dass der Staat unter gewissen Bedingungen auf prinzipielle Durchsetzung seines Gewaltmonopols verzichten kann, wie es in Italien bis in die Neunziger der Fall war. Damals diente die Mafia nicht zuletzt der Finanzierung der bürgerlichen Parteien, weil eine nach demokratischen, öffentlichen Kriterien vollzogene Finanzierung den Kommunisten (also vor allem: dem PCI) zugutegekommen wäre. Auch deswegen ist die Mafia „eine Herrschaftsform, die es vorzieht, ihre Macht im Rahmen eines bestehenden Staatsgebildes auszuüben“, wobei ihr demokratische Staaten eher entgegenkommen als totalitäre, der Mobilität des Personals wegen.
Obwohl Federico Varese Wissenschaftler ist, hat auch ihn die Dialektik von Abscheu und Faszination ergriffen, die das Schreiben über die Mafia offenbar ins Erzählen treibt. Als Autor tritt er in einer Doppelrolle auf, als Kriminologe und Journalist. Der Kriminologe bietet eine Art innerbetrieblicher Analyse des organisierten Verbrechens, wobei er insbesondere die Sozialstrukturen, die Entscheidungsprozesse und die Techniken des täglichen Überlebens im Blick hat. Der Journalist aber ist die eindrücklichere Figur, denn er verfügt über die Anschauung und arbeitet mit den Mitteln der literarischen Reportage.
Fünf Fallgeschichten erzählt Varese, je eine aus der sizilianischen, der russischen, der britischen, der chinesischen und der japanischen Mafia, und in jeder dieser Geschichten, die – nacheinander – den einzelnen Momenten im Leben eines Mafioso gewidmet sind, von der Geburt über die Arbeit, das Geld und die Liebe bis zum Tod, geht er in die plastischen Details. Ein Toter, so lernt der Leser, lasse sich am besten mit Säure entsorgen: „Die Leiche löst sich langsam auf, und am Ende bleiben nur die Zähne übrig, während alles andere, auch der Schädel, sich verformt.“.
Als in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern das alte Italien unterging, der Staat, in dem die Christdemokraten herrschten und die Kommunisten die Opposition stellten, bildeten Staatsanwälte und Ermittlungsbeamte die Vorhut im Kampf gegen die Mafia, und sie taten es mit Erfolg und unter großen Opfern. Jetzt aber sind es die Journalisten, die diesen Konflikt zu führen scheinen, und zwar weniger mit den Mitteln der Investigation als mit denen der Reportage und der Erzählung. Ihnen folgen, mit noch mehr Anschauung, die Filmemacher.
Wenn sich die organisierten Verbrecher Siziliens nun gern Filme über die Mafia anschauen, handelt es sich deswegen nicht nur um Zeitvertreib, sondern auch um lebenspraktische Orientierung. Federico Varese berichtet, in welchem Maße Mario Puzos Film „Der Pate“ (1972) die real existierende Mafia mit Phrasen, Figuren und Verhaltensmustern versorgt hat. In Roberto Savianos Roman sind die filmischen Vorbilder allgegenwärtig. Für die Heranwachsenden in der Welt des organisierten Verbrechens gibt es hier weder Lehrer noch Paten. Alles, was sie über Raub, Erpressung und Mord wissen, wurde ihnen im Fernsehen und auf dem Computer vorgespielt. Sie dürften dabei auch auf Verfilmungen von Werken Savianos gestoßen sein.
So drehen sich die Dinge im Kreis, und alle Anschauung ist Bestätigung des Vorhandenen. Denn auch wenn die italienische Polizei alle paar Wochen Dutzende von Verdächtigen verhaftet, wachsen offenbar mindestens ebenso viele Mafiosi nach. Einerseits bedeutet diese Gegenwart, dass Italien nach wie vor weniger konkurrenzfähiges Kapital hervorbringt, als man zu produzieren imstande wäre. Andererseits scheint sich hier eine Staatszersetzung in Permanenz zu vollziehen, in deren Konsequenz die Mafia eine weitaus konkretere Realität darstellt als rechtlich geordnete Verhältnisse.
THOMAS STEINFELD
Roberto Saviano: Der Clan der Kinder. Roman. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Carl Hanser Verlag, München 2018. 414 Seiten, 24 Euro. E-Book 17,99 Euro.
Federico Varese: Mafia-Leben. Liebe, Geld und Tod im Herzen des organisierten Verbrechens. Aus dem Englischen von Ruth Keen und Erhard Stölting. Verlag C. H. Beck, München 2018. 336 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Zum „Giallo“ gehören die
Neigung zur Brutalität und die
Dominanz des Ambientes
Auch wenn die Polizei immer
wieder Dutzende verhaftet,
wachsen genug Mafiosi nach
Roberto Saviano hat seinen ersten Roman geschrieben.
Foto: picture alliance
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"Roberto Saviano legt mit 'Der Clan der Kinder' ein bestechendes Buch über die kriminelle Verführbarkeit von Jugendlichen vor." Katrin Cerny, Profil, 26.02.18

"Ein hartes Buch, ungeschminkt und schroff ... Dabei sind die Figuren fiktiv, doch die Geschichte ist nicht frei erfunden, sie hat Vorbilder in der Wirklichkeit, stützt sich auf Gerichtsfälle und Abhörprotokolle der Polizei." Andreas Rossmann, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.02.18

"Der italienische Mafia-Aufklärer Roberto Saviano erzählt von Neapel und der Tyrannei der Babygangs. Das Beunruhigende: Saviano hat seine Protagonisten nicht erfunden ... Eine Geschichte, die einen nicht loslässt." Elmar Krekeler, Die Welt, 05.02.18

"Ein schmerzhaft realistischer Roman ... Atemraubend und sehr schockierend." Ana Schotte, WDR 5, 02.02.18

"Saviano ist ein zwar bedrückender, aber mindestens ebenso packender Roman gelungen, da er die Jugendlichen in ihrer Mischung aus Skrupellosigkeit, Konsumgier und Menschlichkeit psychologisch feinziseliert und außerordentlich berührend präsentiert." Carolin Fischer, Deutschlandfunk, 29.01.18