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1933 erhoben der Schweizerische Israelitische Gemeindebund und die Israelitische Kultusgemeinde Bern vor dem Berner Amtsgericht Klage gegen die Verbreiter der «Protokolle der Weisen von Zion». In dem weltweit beachteten Verfahren suchten die Kläger die Entstehung des Textes lückenlos zu rekonstruieren und damit das einflussreichste Dokument des modernen Antisemitismus als Fälschung zu entlarven. Die antisemitischen Beklagten wollten hingegen die «Echtheit» der «Protokolle» nachweisen. Dabei konnten sie auf ein weit verzweigtes Netzwerk zurückgreifen, dessen Verbindungen von Berlin, Paris und…mehr

Produktbeschreibung
1933 erhoben der Schweizerische Israelitische Gemeindebund und die Israelitische Kultusgemeinde Bern vor dem Berner Amtsgericht Klage gegen die Verbreiter der «Protokolle der Weisen von Zion». In dem weltweit beachteten Verfahren suchten die Kläger die Entstehung des Textes lückenlos zu rekonstruieren und damit das einflussreichste Dokument des modernen Antisemitismus als Fälschung zu entlarven. Die antisemitischen Beklagten wollten hingegen die «Echtheit» der «Protokolle» nachweisen. Dabei konnten sie auf ein weit verzweigtes Netzwerk zurückgreifen, dessen Verbindungen von Berlin, Paris und Wien bis nach Los Angeles und ins mandschurische Harbin reichten.Beide Seiten trugen eine Vielzahl von Dokumenten und Zeugenaussagen zusammen, die sich heute in über 30 Archiven auf drei Kontinenten befinden. Der Autor hat diese Materialien erstmals zusammengeführt und ausführlich kommentiert. Der Band wirft Licht auf die bislang kaum erforschte «antisemitische Internationale» der Zwischenkriegszeit und zeichnet ein differenziertes Bild der Vorgeschichte, des Verlaufs und der Hintergründe des Berner Prozesses. Dadurch wird die vorherrschende Sicht auf die Herkunft und Frühgeschichte der «Protokolle» grundlegend revidiert, wobei die Frage der Urheberschaft sich wieder als offen erweist.
Autorenporträt
Michael Hagemeister ist Historiker und Slavist an der Ruhr-Universität Bochum. Er ist Verfasser zahlreicher Publikationen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte, zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland, zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den «Protokollen der Weisen von Zion».
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.05.2018

Antisemitische Internationale

Kann man Judenfeindschaft vor Gericht stellen? Die Jüdische Gemeinde von Bern hat es versucht. Am 26. Juni 1933 stellte sie Strafanzeige gegen eines der übelsten antisemitischen Machwerke, die sogenannten "Protokolle der Weisen von Zion", weil diese gegen das Schundliteratur-Gesetz verstießen.

Die genauen Ursprünge dieser Schrift liegen nach wie vor im Unklaren. Belegt ist, dass sie erstmals 1903 im zaristischen Russland publiziert wurde. Es handelt sich um angebliche Protokolle eines Treffens von jüdischen Führern aus aller Welt, die einen Plan zur Erringung der Weltherrschaft entwerfen. Die Gesellschaften sollten unterwandert, innere Konflikte, Parteienzwist und Klassenkampf verschärft sowie Kriege und Revolutionen gefördert werden. Wenn die Menschen in Anarchie und Elend getrieben worden seien, wären sie bereit, den Juden die Macht zu übergeben.

Mit dem Exodus von Russen, darunter glühende Antisemiten, nach der Revolution 1917 gelangte diese Hetzschrift nach Europa, wurde in etliche Sprachen übersetzt und erhielt hohe Auflagen. Das Phantasma eines "jüdischen Bolschewismus", dass die russischen Revolutionäre in Wahrheit Juden seien, die die Welt ins Chaos stürzen wollten, verfing bis weit in das Bürgertum. Selbst Winston Churchill beschwor 1920 das Schreckgespenst einer "gründlich vorbereiteten weltweiten Verschwörung" von "gottlosen Juden" und Kommunisten gegen die westliche Zivilisation.

Selbstverständlich benutzten ebenfalls die Nationalsozialisten das Pamphlet für ihre Agitation. Hitler schrieb in "Mein Kampf", dass, selbst wenn die Protokolle nicht authentisch wären, würden sie doch sehr genau die Politik der Juden schildern. In der Tat hatte schon 1921 die Zeitung "The Times" nachgewiesen, dass es sich um eine plumpe Fälschung handele, was dem Erfolg der Schrift indes keinen Abbruch tat. Nun wollte die Berner jüdische Gemeinde in einem Musterprozess mit Gutachten und Zeugenbefragungen feststellen lassen, dass die "Protokolle der Weisen von Zion" ein antisemitisches, gefälschtes Machwerk seien.

Michael Hagemeister, Historiker und Slawist an der Ruhruniversität Bochum, hat in einem umfangreichen Buch auf der Grundlage einer akribischen Recherche in vielen Archiven die Geschichte und den Kontext dieses Prozesses vor dem Amtsgericht Bern nachgezeichnet. Über die bisherige, durchaus nicht geringe Forschung zu den Protokollen hinaus kann Hagemeister zeigen, wie aktiv antisemitische Netzwerke in Europa für die Verbreitung der Hetzschrift sorgten und auf jährlichen Zusammenkünften, mitunter als Ornithologen-Kongresse getarnt, versuchten, eine antisemitische Internationale aufzubauen. Wer nach Personen und Verflechtungen dieser Szene sucht, wird bei Hagemeister fündig.

Das Urteil des Berner Richters Walter Meyer am 14. Mai 1935 fiel eindeutig aus: "Die Protokolle sind eine Fälschung." Er verurteilte mehrere Angeklagte, darunter Mitglieder des "Bundes National-Sozialistischer Eidgenossen", wegen Verbreitung von Schundliteratur zu Geldstrafen. Mochten der Paragraph abgelegen und die Strafe gering sein, erstmals waren die Protokolle von einem Gericht als Fälschung charakterisiert worden.

Die erhoffte Wirkung blieb jedoch aus. Das Urteil konnte den Antisemitismus nicht eindämmen und die Protokolle endgültig desavouieren, zumal das Berner Obergericht 1937 das Urteil aus formalen Gründen wiederaufhob. Bis heute irrlichtern die Protokolle durch die Welt. Die Hamas beruft sich auf sie ebenso wie der AfD-Abgeordnete Wolfgang Gedeon. Doch war der Prozess von Bern nicht vergebens, sondern ein wichtiger Baustein im Kampf gegen Antisemitismus, der nun umfassend dokumentiert vorliegt.

MICHAEL WILDT

Michael Hagemeister: Die "Protokolle der Weisen von Zion" vor Gericht. Der Berner Prozess 1933-1937 und die "antisemitische Internationale". Chronos Verlag, Zürich 2017. 648 S., 54,- [Euro].

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