Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.05.2011

Skandalöse Karrieren
Ein Comic zeichnet das Leben von Bettie Page und Linda Lovelace nach: „Coney Island Baby“
Mit der Popularität der Coming-of-Age-Geschichten, die das Gros der autobiographischen Comics ausmachen, können die Biographien in Comic-Gestalt nicht mithalten. Aber es gibt sie immer wieder, obwohl der Verdacht, sie verfolgten primär keine ästhetischen Ziele, sich oft nicht von der Hand weisen lässt. Martin Luther King, Che Guevara, Anne Frank, Bertrand Russell: Wenn das Leben solcher historischer Größen in Graphic Novels erzählt wird, schwingt Didaktisch-Erbauliches zumindest mit. Insofern ist es ein amüsanter Bruch mit der Regel, wenn die junge französische Comic-Künstlerin Nine Antico die ehrwürdige, von Plutarch erfundene Form der Doppelbiographie benutzt, um zwei skandalöse Karrieren aus der erbarmungslosen Welt des amerikanischen Showbusiness zu schildern.
Bettie Page, geboren 1923, versucht in den Vierzigern vergeblich in Hollywood Fuß zu fassen. Dann wurde sie dank der Mischung aus Natürlichkeit und Laszivität, aus Unschuld und Verdorbenheit, die sie auszustrahlen verstand, zum gefragtesten Pin-up-Model ihrer Zeit. Sie war im Playboy zu sehen, aber auch in billig gedrehten Striptease- und Bondage-Filmchen. Härter ging es 1972 in dem Porno „Deep Throat“ zu, der mit seinen ausgedehnten Oralsex-Szenen zu einem Welterfolg wurde und seine Hauptdarstellerin, die damals 23-jährige Linda Lovelace, über Nacht zu einem Star machte. Allerdings nur für kurze Zeit; von Missgeschicken und Irrwegen aller Art gezeichnet, starb sie schon 2002, sechs Jahre vor Bettie Page.
In einer Notiz am Anfang erklärt Nine Antico, dass sie mit den von ihr genutzten Quellen frei umgesprungen sei und daher keinen „biographischen Anspruch“ erhebe. Aber auch wenn einzelne Szenen und Dialoge frei erfunden sein mögen – insgesamt hangelt Antico sich so kreuzbrav durch die Leben ihrer Heldinnen, dass man den Eindruck gewinnt, hier werde einem ein Wikipedia in Bildern vorgeführt. Faszinierend ist allein, wie die Künstlerin mit Hugh Hefner umgeht. Mit feinem Tuschestrich macht sie ihn zu einer sinistren Erscheinung; seine Art, durch die Rahmenhandlung zu führen, erinnert an die dämonischen Figuren, denen in den legendären Horror-Comics des EC Verlages dieselbe Aufgabe zufällt. Ein wenig mehr von dieser Abgründigkeit hätte „Coney Island Baby“ sehr gut getan. CHRISTOPH HAAS
NINE ANTICO: Coney Island Baby. Aus dem Französischen von Martin Budde. Edition Moderne, Zürich 2011. 232 Seiten, 24 Euro.
Dämonischer Führer durch die Welt des amerikanischen Show- und Sexbusiness: Hugh Hefner in der Darstellung von Nine Antico Abb. aus d. besprochenen Band
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