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Der Frieden, den keiner wollte: Der Versailler Vertrag und seine Folgen
Der Versailler Vertrag hat die Welt geprägt bis heute - alte Reiche versanken, moderne Nationalstaaten erwachten, es entflammten aber auch neue Konflikte, ob auf dem Balkan oder im Nahen Osten. Dabei waren 1919 die Hoffnungen der ganzen Welt darauf gerichtet, dass nach dem Großen Krieg eine stabile Ordnung geschaffen und dauerhafter Friede herrschen würde. Doch wie Eckart Conze in seinem glänzend geschriebenen und minutiös recherchierten Buch zeigt, erwiesen sich alle Hoffnungen als gewaltige Illusion. Denn weder die…mehr

Produktbeschreibung
Der Frieden, den keiner wollte: Der Versailler Vertrag und seine Folgen

Der Versailler Vertrag hat die Welt geprägt bis heute - alte Reiche versanken, moderne Nationalstaaten erwachten, es entflammten aber auch neue Konflikte, ob auf dem Balkan oder im Nahen Osten. Dabei waren 1919 die Hoffnungen der ganzen Welt darauf gerichtet, dass nach dem Großen Krieg eine stabile Ordnung geschaffen und dauerhafter Friede herrschen würde. Doch wie Eckart Conze in seinem glänzend geschriebenen und minutiös recherchierten Buch zeigt, erwiesen sich alle Hoffnungen als gewaltige Illusion. Denn weder die alliierten Sieger noch das geschlagene Deutschland und die anderen Verlierer waren bereit, wirklich Frieden zu machen. Auf allen Seiten ging auch nach dem Waffenstillstand der Krieg in den Köpfen weiter, mit verheerenden Folgen. Versailles - das war der Frieden, den keiner wollte.

Ausstattung: mit Abbildungen
Autorenporträt
Eckart Conze, geboren 1963, ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Marburg. Von ihm zuletzt erschienen: "Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik von 1949 bis in die Gegenwart" (2009) und "Das Amt und die Vergangenheit. Deutschen Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik" (mit N. Frei, P. Hayes und M. Zimmermann, 2010).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2018

Die Zivilisation ließ sich leicht beschwören

Als die hochgehaltenen westlichen Werte ihre Prüfung nicht bestanden: Jörn Leonhard und Eckart Conze über Versailles und die Nachkriegsordnung.

Von Stephan Speicher

Das werde der Krieg sein, der dem Krieg ein Ende setze, schrieb H. G. Wells im August 1914. Vier Jahre später, im November 1918, gerade erst war der Waffenstillstand unterzeichnet, sah Siegfried Sassoon, hochdekorierter Offizier und Schriftsteller wie Wells, einen Frieden voraus, der dem Frieden ein Ende setze. Sassoon kam der Wahrheit näher. Die Ordnung, die die Sieger des Ersten Weltkriegs setzten und für die Versailles den Namen abgibt, weckte Grimm und Rachegelüste und trug zur Entstehung des nächsten Krieges bei.

Zwei anspruchsvolle Darstellungen zur Friedensordnung von 1919 erscheinen dieser Tage: "Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt" des Marburger Historikers Eckart Conze und "Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918 - 1923" seines Freiburger Kollegen Jörn Leonhard. Beide Autoren sind sich einig, dass die Friedensschlüsse unklug waren und demütigend wirken mussten, dass sie aber nicht zwingend den Aufstieg Hitlers zur Folge hatten. Doch wenn der Weg von Versailles zum Zweiten Weltkrieg nicht determiniert war, gab es nicht einen Determinismus, der zu Versailles und den anderen Vorortverträgen führte? Der Handlungsspielraum 1919 war jedenfalls verzweifelt eng.

Der Krieg hatte ungeheure Opfer gefordert und war zur Rechtfertigung dieser Opfer in neuer Weise moralisch aufgeladen worden, zum Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei der Mittelmächte. Die Forderung des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson nach einem "Frieden ohne Sieg" im Herbst 1917 traf auf taube Ohren. Deutschland wie Frankreich und Großbritannien hofften auf den Sieg und mit dem Sieg auf einen Frieden, der dem Tod so vieler ihrer Soldaten einen Sinn geben würde. Und als der Krieg dann sein Ende fand, waren die Voraussetzungen für eine vernünftige Einigung ruiniert.

Es ist schockierend, wie früh die Zeitgenossen im sich abzeichnenden Frieden den Beginn neuer Feindseligkeiten erkannten. Gerade die Briten sahen das scharf, hatten es allerdings auch leichter, klug zu sein. Ihre Kriegsverluste waren geringer und ihr Kriegsziel, das Ende der überseeischen Ansprüche Deutschlands, rasch erreicht. Frankreich steckte in anderen Nöten. Die Angst vor dem Nachbarn blieb, auch weil Deutschland über die größere Bevölkerung und die höhere Reproduktionsrate verfügte. Das demographische Argument spielte für Frankreich eine wichtige Rolle. Dem Idealismus Wilsons, der mit dem Völkerbund eine Welt des Friedens aufbauen wollte, misstrauten die Franzosen. So bestanden sie darauf, sich vor den Deutschen mit einem strengen Friedensvertrag zu schützen. Was Frankreichs Ministerpräsident Clemenceau zuletzt durchsetzte, das war die zurückhaltendste Variante, die politisch denkbar war; Staatspräsident Poincaré und Marschall Foch als militärischer Kopf des Landes hatten versucht, Deutschland bis zum Rhein zurückzudrängen.

Dass Großbritannien und die Vereinigten Staaten das Friedensproblem anders sahen, sorgte für eine gewisse Abschwächung der französischen Ziele. Dafür handelte man sich ein anderes Problem ein. Die Spannungen zwischen den Siegern wuchsen zwischenzeitlich so sehr, dass man es nicht mehr wagte, mit den Gegnern in förmliche Verhandlungen einzutreten; zu leicht hätten dies die Kriegskoalition sprengen können. Die Sieger handelten also die Friedensbedingungen unter sich aus und legten sie den Besiegten zur Annahme vor; Veränderungen waren nur noch in geringstem Umfang möglich. Was polemisch, aber nicht ganz unzutreffend ein "Diktatfrieden" genannt wurde, verdankte sich der Schwäche der Sieger.

Auch wenn Conze und Leonhard sich in der Bewertung der Friedenspolitik nicht sehr unterscheiden, haben sie höchst unterschiedliche Bücher vorgelegt. Conze gibt eine gut geschriebene, vergleichsweise streng zusammengefasste Darstellung, deren Schwerpunkt auf Deutschland und Europa liegt. Dass es auch außereuropäische Aspekte gibt, bleibt nicht unerwähnt, spielt aber eine eher ergänzende Rolle. Leonhard dagegen zielt auf eine Weltgeschichte der Jahre 1918 bis 1923 und nimmt sich dafür auch reichlich Platz. Gelegentlich geht dem Autor in der Fülle auch der Überblick verloren. Es kommt zu Wiederholungen, manchmal lässt er den Faden fallen, obwohl an dessen Ende ein interessantes Problemknäuel wartet. Aber das kann alles nicht die Bewunderung schmälern für den Reichtum, der hier ausgebreitet wird. Wer sich für einen Moment etwas mehr Disziplin wünscht, sollte an die Bemerkung Brechts denken: "Ordnung ist heutzutage meist dort, wo nichts ist. Es ist eine Mangelerscheinung."

Bei Leonhard tritt hervor, in welchem Maße die Entente die Kräfte ihrer Kolonien ausbeutete. China sandte 140 000 Männer für Hilfsarbeiten nach Europa, Truppen wurden in Indien und ganz Afrika angeworben. Wer Soldaten zur Verfügung stellte, erhob nicht gleich Anspruch auf volle Unabhängigkeit, aber auf größere Selbständigkeit und Respekt. Doch mussten die farbigen Soldaten erleben, dass ihnen in Frankreich und England gleich nach dem Waffenstillstand Rassismus entgegenschlug.

Das war umso bitterer, als die ganze Welt auf jene neue Ordnung hoffte, die Woodrow Wilson ausgemalt hatte. Ende 1918 reiste er nach Europa, und Stefan Zweig hörte, wie "die Straßen aller Städten dröhnten vor Jubel, um Wilson als den Heilsbringer der Erde zu empfangen". Das ging rund um die Erde bis nach Afrika und China. Wilson war zum ersten Weltstar der Politik geworden, ein Ergebnis auch ausgefeilten Marketings. Doch die Alliierten wollte sich seinen Idealen nicht fügen. Briten und Franzosen hatten im Krieg gleichfalls Menschheit und Zivilisation beschworen, wenn auch nicht so schwungvoll wie Wilson, aber als Sieger verfolgten sie ihre nationalen Eigeninteressen weiter, nicht anders Italien.

Wer sich dem Kampf gegen die Mittelmächte angeschlossen hatte, war oft genug mit geheimen Zusagen geködert worden, die zu Wilsons Politik nicht passten, nicht zum Prinzip der Selbstbestimmung, so vage der Begriff geblieben war, und auch nicht zum Anspruch, die alte Geheimdiplomatie, den "Völkerschacher", hinter sich zu lassen. Die Probleme reichten von der Saar bis nach Korea. Frankreich und Großbritannien teilten sich gegen die Erwartungen, die sie in der arabischen Welt geweckt hatten, die Peripherie des Osmanischen Reiches, Syrien und Irak, und brachten dort Minderheiten gegen die Mehrheiten in Stellung; die Folgen wirken bis heute.

China musste erleben, dass die ehedem deutschen Gebiete gegen alle Proteste nun auf Japan, den Alliierten der Entente, übertragen wurden. Die Enttäuschung war ungeheuer. Ein chinesischer Intellektueller schrieb über die Erfahrung mit Europa und den Vereinigten Staaten: "Von dreihundert Jahren evolutionären Fortschritts sind nur vier Wörter geblieben: Egoismus, Zerstörung, Schamlosigkeit und Korruption." So zeigt der globale Blick, dass die Empörung über die Versailler Ordnung mehr war als ein deutsches Spezifikum. Der Westen hatte neue, universelle Werte formuliert, doch als er für sie in Anspruch genommen wurde, da sollten wieder die alten Gewohnheiten gelten. Dabei steckte, wie Leonhard zeigt, viel Modernes, Zukunftsweisendes in den Versuchen von 1919. Die Wissenschaft mischt sich ein, die Delegation der Vereinigten Staaten zählt allein 17 Kartographen, die Verträge werden detailliert ausgearbeitet.

Doch bald erlahmt der Eifer. Zuletzt werden Grenzen und Völker mit leichter Hand über die Geographie verteilt. Neu ist auch das Ende der Affektkontrolle, die einmal ein Grundprinzip der Außenpolitik gewesen war. Die Leidenschaften der Bevölkerungen werden durch die Presse mobilisiert und setzen die Politiker unter Druck. Das Ideal des ethnisch homogenen Nationalstaats wird als natürlicher Ausdruck der Demokratie durchgesetzt. Aber im Osten Europas kann es ihn kaum geben, die neuen Staaten übernehmen auf reduziertem Territorium die alten Probleme. Um ihnen abzuhelfen, kommt es zu Bevölkerungsverschiebungen großen Ausmaßes; das unselige Muster gibt die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei ab.

So folgt auf die Katastrophe des Krieges die Enttäuschung des Nachkrieges. Die Eliten der kolonisierten Länder wenden sich von den europäischen Mächten ab. Die kommende Orientierung an der Sowjetunion folgt weniger der Begeisterung für den Kommunismus als der Enttäuschung über die rüde Interessenpolitik Europas und der Vereinigten Staaten. Deren Beurteilung aber folgt den Maßstäben, die dort entwickelt wurden. Idealismus und kalte Interessenpolitik wirken gleichermaßen zersetzend. Mit den Folgen des überforderten Friedens quälen wir uns bis heute. Wer Leonhards monumentales Buch liest, sieht schärfer, in welcher Welt wir zu leben haben.

Jörn Leonhard: "Der überforderte Frieden". Versailles und die Welt 1918 - 1923.

C. H. Beck Verlag, München 2018. 1536 S., Abb., geb, 39,95 [Euro].

Eckart Conze: "Die große Illusion". Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt.

Siedler Verlag, München 2018.

560 S., Abb., geb., 30,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2018

„Steh auf, Arthur, es ist Revolution“
Die Republik von Weimar war gar nicht so schlecht, sagt Robert Gerwarth. US-Präsident Wilson war gar nicht so gut, sagt Eckart Conze.
Zwei Bücher über das Ende des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren – und über Rassismus bei den Friedensverhandlungen in Versailles
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Am 6. November 1918 reiste der spätere Reichskanzler Hermann Müller, ein Sozialdemokrat, mit der Eisenbahn in die Hafenstadt Kiel, wo Matrosen und Arbeiter seit einigen Tagen revoltierten. Im Zug wurde er von einem Seemann mit roter Armbinde, die ihn als Revoluzzer kenntlich machte, kontrolliert. Der Matrose ermahnte Müller: Sein Pass sei schon seit Monaten abgelaufen. Aha, machte Müller und wunderte sich im Stillen: „Wäre es in einem anderen Land denkbar gewesen, dass in der Nacht nach Beginn einer Revolution ein Revolutionär sich Sorgen um die Verlängerung eines Passes gemacht hätte?“. Wie der in Dublin lehrende Historiker Robert Gerwarth klarmacht, ist diese Episode bloß eine Schnurre während der brutalen Ereignisse von 1918 und 1919.
Am 9. November 1918 weckte die Berliner Gewerkschafterin Cläre Caspar-Derfert einen Genossen frühmorgens mit dem Ruf: „Steh auf, Arthur, es ist Revolution.“ Auch das nimmt sich im Nachhinein skurril aus. Wirklich bemerkenswert daran ist das Datum: Zunächst wurde in Wilhelmshaven und Kiel revoltiert; in München wurde König Ludwig III. gestürzt. Dann erst ging es in Berlin zur Sache. Für gewöhnlich beginnen Revolutionen in der Hauptstadt eines Landes. Auch in anderer Hinsicht findet Gerwarth die deutsche Revolution von 1918/19 ziemlich einzigartig – damit angefangen, dass sie viel erfolgreicher gewesen sei, als ihr nachgesagt wird. Gerwarth untermauert seine Meinung nicht mit neuen Erkenntnissen; er setzt darauf, eine schon früher vorgetragene Sichtweise zu akzentuieren. Das macht er auf eindrückliche, farbige Weise.
Weil die Revolution sich aus dem Ersten Weltkrieg ergab, beschreibt Gerwarth ausführlich und mit glücklichem Händchen für saftige Zitate die Haltung des Kaisers und seiner Generäle. Die Strategie des Deutschen Reiches ließ zu wünschen übrig: Permanent bemühte man sich, Aufrührer zu stärken: so etwa – vergeblich – die irischen Republikaner im Osteraufstand 1916 gegen die britische Regierung. Dschihadisten sollten im Nahen Osten gegen die Alliierten und ihre einheimischen Gewährsleute angehen. Man wähnte sich clever und sandte 3000 muslimische Kriegsgefangene aus Wünsdorf bei Berlin in ihre Heimat zurück, die aber – o Wunder – dort keine nennenswerte Zahl von Kämpfern mobilisieren konnten. Irrwitzig war die Annahme der Obersten Heeresleitung 1916, es sei egal, wann die USA sich an dem Krieg auf Seiten der Alliierten gegen die Mittelmächte beteiligen würden: Bis dahin habe man England längst besiegt.
Als die Niederlage Anfang Oktober 1918 unabwendbar war, hatten die arroganten deutschen Befehlshaber immerhin die Einsicht, dass Frankreich und Britannien gar nicht gut auf sie zu sprechen waren. Also wandten sie sich nur an den US-Präsidenten Woodrow Wilson, der – streng christlich erzogen – von einem „Verhandlungsfrieden“ ohne Sieger gesprochen hatte. Kurz bevor eine deutsche Note an Wilson abgeschickt wurde, versenkte ein deutsches U-Boot ein britisches Passagierschiff: 500 Zivilisten ertranken. Sie wurden – entgegen dem Seerecht und der Genfer Konvention – nicht gerettet. Der U-Boot-Krieg der Deutschen machte es Wilson nicht eben leichter, beim US-Kongress, bei den amerikanischen Wählern sowie den rachsüchtigen Franzosen und den nicht zuletzt um ihre Kriegsschulden besorgten Briten für Milde zu werben. Entsprechend hart sollten die Pariser Verträge für das Deutsche Reich und seine Verbündeten denn auch ausfallen.
Bis Ende 1918 hatte Frankreich, so Gerwarth, „ein Viertel seiner männlichen Bevölkerung zwischen 18 und 27 Jahren verloren“. Zwei Millionen deutsche Soldaten waren zu Tode gekommen. Ein Oberst berichtete kurz vor Kriegsende: „Allgemein kam zum Ausdruck, dass die Truppe nichts gegen ihren Kaiser habe, dass er ihr eigentlich ganz gleichgültig sei (. . .) Die Truppe ist total müde und abgekämpft.“ Die Heereskommandeure begriffen endlich, dass der Krieg verloren war. Die deutsche Admiralität indes wogte in überheblichem Stolz: Ende Oktober 1918 wollte sie die Flotte, die bis dahin militärisch unnütz und deshalb in den Häfen verblieben war, in einem letzten Aufgebot gen England schicken, um sie „ehrenvoll“ untergehen zu lassen. Die Matrosen, deren Untergang eingeschlossen war, machten nun nicht mehr mit. So begann die deutsche Revolution.
Was daraus wurde, zeichnet Gerwarth zu Recht in gutem Licht: Der Kaiser dankte ab; das Deutsche Reich wurde eine demokratische Republik mit dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert als ihrem ersten Präsidenten. Die Regierung von Weimar verabschiedete etliche fortschrittliche Gesetze: Frauen erhielten das Wahlrecht; nun gab es Tarifabschlüsse, die mit den Gewerkschaften ausgehandelt wurden; der Acht-Stunden-Tag wurde eingeführt. Kein anderes Land, so Gerwarth, habe aus dem Weltkrieg so viel gelernt und so bedeutsame Reformen auf den Weg gebracht. Zur Stabilisierung der Verhältnisse erhielten sechs Millionen demobilisierte Soldaten Anspruch darauf, ihren früheren Arbeitsplatz wieder einzunehmen. Den Beamten wurden ihre Einkommen garantiert, damit sie die Bürokratie am Laufen hielten.
Gerwarths Fazit: Die Weimarer Republik hätte Bestand haben können. Die Erzählung von der „todgeweihten“ Republik komme bloß zustande, wenn man in der Rückschau von der Machtübernahme der Nazis her denke. So gern man ihm da zustimmen würde, ganz plausibel ist das nicht. Sicher, die Weimarer Republik war seit 1923 recht stabil. Aber im Untergrund wirkten Fliehkräfte, gegen die keine gute Gesetzgebung und kein demokratischer Polizeichef ankommen konnten.
Die Weimarer Republik war innerlich zerrissen: Hier diese, die (wahlweise oder alles zusammen) dem Militarismus huldigten, dem Kaiserreich nachtrauerten, die geschwundene Macht Deutschlands beklagten, den Versailler Vertrag für ein Verbrechen an der deutschen Ehre hielten, Frauen als minderwertig betrachteten und sich Politik auch als Ausübung von physischer Gewalt vorstellten. Auf der anderen Seite standen jene, die für die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien votierten, denen die Reformen nicht weit genug gingen, die keinen Parlamentarismus wollten, sondern die Herrschaft von Arbeiter- und Soldatenräten, und die sich – ebenso wie ihre Gegner – Politik auch als Ausübung von physischer Gewalt vorstellten. Angesichts dieser Gemengelage und weil die Weimarer Verfassung fatalerweise vorsah, dass jede Partei, die mindestens 60 000 Stimmen erhielt, im Reichstag vertreten sein solle, war das Scheitern des Parlamentarismus abzusehen. Der Reichspräsident war als stabilisierende Kraft gedacht und mit übergroßer Machtfülle ausgestattet, was der Demokratie aber auch nicht gut tat. Hinzu kamen die drückenden Auflagen des Friedensvertrags von Versailles, von dem Zeitgenossen schon sagten: Unter diesen Bedingungen könne die deutsche Demokratie nicht dauern.
Mit den Ergebnissen aller Friedensverträge, die grosso modo als Versailler Vertrag bekannt sind, beschäftigt sich der Marburger Historiker Eckart Conze ausführlich in seinem anregenden Buch „Die große Illusion“, das von der „Neuordnung der Welt“ nach dem Ersten Weltkrieg handelt. Weil die USA als die einzig wahren Gewinner aus dem Krieg hervorgingen, gilt Conzes besonderes Interesse dem Präsidenten Woodrow Wilson. Der hatte in seinen „Vierzehn Punkten“ am 8. Januar 1918 das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ proklamiert. Das war es, was den marxistischen Historiker Eric Hobsbawm bewog, Wilson als den schlechtesten aller US-Präsidenten zu bezeichnen. Den Präsidenten Trump konnte Hobsbawm, der 2012 verstarb, nicht mehr erleben (und ob jener dem Üblen, das George W. Bush mit dem Irak-Krieg 2003 anrichtete, eins draufzusetzen vermag, bleibt – trotz aller Anzeichen – noch abzuwarten). Conze sind marxistische Allüren fremd, aber auch er hält Wilsons Vision für verfehlt. Conze schreibt: „Dass Demokratisierung und Nationalisierung den Frieden in Europa und der Welt sicherer machen würden, war eine der großen Illusionen von 1919.“
Der christliche Wilson war verliebt in die Vorstellung, die Völker sollten über ihr Schicksal selbst bestimmen. Allerdings galt das nur für die weiße – zivilisierte – „Rasse“. In seiner Jugend war der Südstaatler von Sklaven umgeben. Daraus schloss der gläubige Woodrow: Gott habe diesen Leuten die Position gegeben, die ihnen fromme. Rassismus sollte, wie Conze lapidar anmerkt, bei den Friedensverhandlungen in Paris „durchaus eine Rolle spielen“. Da war etwa die Delegation von Nguyen Ai Quoc, der später als Hô Chí Minh berühmt wurde. Der studierte junge Mann war – ungebeten – nach Paris gekommen, um Wilson eine Bittschrift zu übergeben: Vietnam sei von Kolonialmächten besetzt. Alles Vertrauen setze man in den Präsidenten der Vereinigten Staaten, seinem Volk die Freiheit zu geben. Conze merkt an: Nicht bekannt sei, ob Wilson diese Schrift überhaupt gelesen hat. In seinen Erinnerungen schrieb Hôồ Chí Minh: „Es war Patriotismus und nicht der Kommunismus, der mich veranlasste, an Lenin zu glauben.“
Niederschmetternd nimmt sich auch aus, was Conze von den Bemühungen der Delegation aus Afrika erzählt. Afrikaner waren nicht nach Paris eingeladen, aber da der amerikanische Präsident doch „Selbstbestimmung“ ganz groß schrieb, reisten sie auf eigene Faust und stellten am 21. Februar 1919 einen Kongress auf die Beine. Neun afrikanische Länder waren vertreten. „Weit entfernt von radikalen Forderungen, trat dieser Kongress für moderate Reformen“ ein, schreibt Conze: Es ging bloß um „kleine Schritte in Richtung Selbstverwaltung“. Die Delegierten erklärten, dass viele Afrikaner es gutheißen würden, „sich einer durch den Völkerbund ausgeübten Zivilisierungsmission zu unterziehen“. War diesem bescheidenen Ansinnen ein Echo beschert? Ja, der afrikanische Organisator des Kongresses wurde während seines Aufenthalts in Paris von amerikanischen Geheimdienstleuten „auf Schritt und Tritt“ überwacht.
Demütigungen waren auch den Vertretern von Korea und China beschieden. Japan war damals eine starke Militärmacht; also schenkte man als unwichtig betrachteten Ländern wie China und Korea, die mit Japan im Konflikt standen, kein Gehör. Conze und mit ihm seine Leser denken: Weitsichtig haben die Großmächte damals in Paris nicht agiert.
Es drehte sich alles um nationale Interessen der führenden Mächte. Völlig selbstlos war Wilsons Idee vom Selbstbestimmungsrecht der Völker übrigens nicht: Der damit verbundene weltweite, liberale Internationalismus sollte sich, so Conze, selbstverständlich unter der Vorherrschaft der USA abspielen. Wilsons Vorstellung vom Selbstbestimmungsrecht blieb hingegen allzu vage. Der damalige Außenminister Robert Lansing fragte hilflos: „Was für eine Einheit“ habe Wilson denn „im Kopf? Meint er eine Ethnie, meint er ein territoriales Gebiet oder meint er eine Gemeinschaft?“ Auf jeden Fall werden seither Gewalt und Krieg gern mit der Idee vom Selbstbestimmungsrecht legitimiert. Mit Wilsons Erklärung, so Conze, „war der Geist aus der Flasche“. Und heutige nationalistische Bestrebungen in europäischen Ländern werden mit dazu passenden „verharmlosenden Tarnvokabeln wie ,Selbstbewusstsein‘ und ,nationales Interesse‘“ vorangetrieben – auf Kosten Europas.
Kein anderer Staat habe
aus dem Weltkrieg so viel
gelernt wie Deutschland
Afrikaner, Vietnamesen, Japaner,
Koreaner – alle fanden bei den
USA kein Gehör
Robert Gerwarth:
Die größte aller
Revolutionen. November 1918 und der Aufbruch
in eine neue Zeit. Aus dem Englischen von Alexander Weber. Siedler-Verlag,
München 2018. 384 Seiten, 28 Euro.
Eckart Conze:
Die große Illusion.
Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt.
Siedler-Verlag, München 2018. 560 Seiten, 30 Euro.
Schleifmaschine,
die eine asymmetrische
Politur kleiner
Objekte ermöglicht, 1998.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Bei den Versailler Verhandlungen richteten sich die meisten Hoffnungen auf den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson. Nicht nur weil er als großer Sieger aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen ist, sondern weil der fromme Christ zuvor das Selbstbestimmungsrecht der Völker proklamiert hatte. Der Marburger Historiker Eckart Conze untersucht in seinem Buch die Folgen dieser Proklamation, von der die realpolitisch gesinnte Rezensentin Franziska Augstein eh nie viel gehalten ist. Laut Conze beschränkten sich Wilsons Vorstellungen auf die europäischen Völker, aber plötzlich reisten auch afrikanische und asiatische Delegationen nach Paris, die Vietnamesen kam mit Ho Chi Minh an der Spitze. Man ließ sie alle abblitzen. Augstein findet Conzes Überlegungen richtig und nachvollziehbar. Die große Illusion im Titel seines Buches bezieht Conze übrigens auf die Vorstellung, dass Demokratisierung und Nationalisierung den Frieden in Europa sicherer machen würden. Aber ob das das Ziel von Demokratisierung sei, sagt er nicht.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Eine beachtliche Leistung, die noch mehr Glanz erhält, weil Conze sich nicht vor dem Erzählen scheut.« SWR 2 Lesenswert