Marktplatzangebote
3 Angebote ab € 23,00 €
  • Gebundenes Buch

Frauen in bedrängter Lage begegnen Medizinern, die sich für den Fortschritt der Geburtshilfe stark machen.In eine ferne Welt führt dies Buch den Leser. Es erzählt von der Magd Dorothea Elisabeth Junk, die ihre uneheliche Tochter dem Kindsvater vor die Tür legte, von Juliane Nolte, deren »blühende Schönheit« den »Verführer« anzog, und von der »Mohrin« Viktoria Laurenti, mit der sich ein fürstlicher Hof schmückte, bevor sie von einem adeligen Offizier ein Kind erwartete. Wie hunderte andere Frauen, die unverheiratet schwanger waren, gingen sie in das neue Göttinger…mehr

Produktbeschreibung
Frauen in bedrängter Lage begegnen Medizinern, die sich für den Fortschritt der Geburtshilfe stark machen.In eine ferne Welt führt dies Buch den Leser. Es erzählt von der Magd Dorothea Elisabeth Junk, die ihre uneheliche Tochter dem Kindsvater vor die Tür legte, von Juliane Nolte, deren »blühende Schönheit« den »Verführer« anzog, und von der »Mohrin« Viktoria Laurenti, mit der sich ein fürstlicher Hof schmückte, bevor sie von einem adeligen Offizier ein Kind erwartete. Wie hunderte andere Frauen, die unverheiratet schwanger waren, gingen sie in das neue Göttinger Universitäts-Entbindungshospital. Dort begegneten sie dem ärztlichen Direktor, der sich für den Fortschritt der Geburtshilfe stark machte, und seinen zahlreichen Studenten, die im Verlangen nach praktischer Ausbildung mit den Hebammenschülerinnen konkurrierten. Wenn die Lebensgeschichten dieser Frauen und Männer durch ihre Fremdartigkeit den Leser in den Bann ziehen, so blitzen zugleich Konfliktlinien auf, die von bestürzender Aktualität scheinen. Es geht um Liebe und Gewalt zwischen den Geschlechtern, um soziale Hilfe und Abweisung Fremder, um natürliche Geburt und operative Entbindung, um medizinische Technik und Wünsche von Patientinnen.
Autorenporträt
Jürgen Schlumbohm, geb. 1942, ist Historiker und war u.a. am Max-Planck-Institut für Geschichte, den Universitäten Oldenburg und Göttingen sowie an der University of California und der Sorbonne tätig. Veröffentlichungen u.a.: Lebendige Phantome. Ein Entbindungshospital und seine Patientinnen 1751-1830 (2012).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Steffen Martus zeigt sich beeindruckt von Jürgen Schlumbohms Studie über das Göttinger Universitäts-Entbindungshospital zwischen 1751 und 1830. Anhand einer Fülle von Material führt der Autor für ihn die Entwicklung der Geburtshilfe vor Augen. Dabei hebt Martus vor allem den Aspekt hervor, dass es sich bei den Entbindenden meist um unverheiratete Frauen in Not gehandelt habe, die für die Mediziner willkommene Forschungsobjekte waren. Er attestiert Schlumbohm eine nüchterne, detaillierte und plastische Darstellung der Verhältnisse im Hospital. Zudem vermerkt er die Sympathie des Autors für die Frauen, die oft degradiert wurden, und deren Schicksale hier dem Vergessen entrissen werden. Sein Fazit: eine Studie frei von Spekulation, die der historischen Komplexität ihres Gegenstandes voll gerecht wird.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.11.2012

Gebärende als Übungspuppen
Eine anschauliche Geschichte des Göttinger Entbindungshospitals
Am 18. Dezember 1751 hält Johann Georg Roederer an der Georg-August-Universität Göttingen seine Antrittsvorlesung „Über den vorzüglichen Wert der Geburtshilfe, die durchaus für einen Gelehrten schicklich ist, ja sogar einen solchen erfordert“. Eine neue Wissenschaft sollte im universitären Fächerkanon verankert werden, denn was im Vorlesungstitel behauptet wurde, verstand sich nicht von selbst: dass es sich um einen akademisch relevanten Gegenstand handle, dass mithin Studenten an der Universität von Professoren eigens ausgebildet werden müssten, um Frauen beim richtigen Gebären zu helfen. Abgewertet wurden dadurch weibliche Hebammen mit ihrer Handwerkskunst und Erfahrung. Eine eigene Entbindungsinstitution sollte gegründet werden.
  Roederer hatte die Regierung auf seiner Seite. Im Jahr der Berufung wurde das Entbindungshospital gegründet, und so begann die faszinierende Geschichte der Göttinger „Accouchieranstalt“, die Jürgen Schlumbohm schon seit Jahren erforscht. Seine Ergebnisse hat er nun in einer großen Studie zusammengeführt.
  Das Entbindungshospital war – anders als überall sonst in Europa – Teil der Universität, und zwar als deren erste stationär-klinische Einrichtung. Es ging dabei um die Frage nach dem richtigen Anfang, danach also, was man am Beginn eines Lebens für natürlich und notwendig, für lebensförderlich und körpergerecht hält. Wie soll sich die Schwangere am besten ernähren, welcher Lebenswandel ist dem Ungeborenen am zuträglichsten? Wo soll die Geburt stattfinden und in welcher Haltung? Welche Zuschauer sind zugelassen, welche Instrumente und Operationen? Zu welchem Zeitpunkt muss ein Leben geopfert werden, um ein anderes zu retten?
  Die Maßnahmen waren teils drastisch: 1805 führte ein Arzt des Hospitals erstmals eine Schnittentbindung an einer Lebenden durch. Die Patientin nahm laut Protokoll die Entscheidung des Arztes „ohne alle Weigerung“ hin, „und schimpfte nur auf den Schwängerer, der Schuld daran sei, dass man ihr den Bauch aufschneiden müsse . . . “. Während der Operation klagte die Frau nicht, sondern plapperte allerlei vor sich hin, was dem Arzt gewaltig auf die Nerven ging. Sie überlebte die Prozedur nicht lange – „sanft verschied sie den 22. März morgens um 2 Uhr 27 Minuten“.
  Während sich „eheliche Weiber“ in der Accouchieranstalt nur selten sehen ließen, blieb „liederlichen Weibs-Personen“ oft keine andere Wahl: unverheirateten Frauen also, die vor allem als Dienstmädchen oder Mägde gearbeitet hatten und von Handwerksgesellen, Soldaten und Knechten, bisweilen auch von Studenten oder ihrer „Herrschaft“ ein Kind erwarteten. Sie benötigten ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen. Manche suchten Schutz vor häuslicher Gewalt – eine Patientin wurde von „ihrem Manne sehr hart gehalten, z. B. mit einer Kuh zugleich an Pflug gespannt und wie ein Vieh geschlagen“. Die Patientinnen profitierten davon, dass ihnen die Kirchenbuße, die aufgrund ihres „liederlichen“ Lebenswandels fällig war, unentgeltlich ermöglicht wurde, und dies zudem ohne öffentliche Ausstellung. Als Gegengabe mussten sich die Frauen der medizinischen Ausbildung zur Verfügung stellen. Sie dienten als „lebendige Phantome“, als Übungspuppen.
  Mit den unverheirateten „Gratispatientinnen“ konnte man verhältnismäßig rücksichtlos umgehen. Verließ eine Patientin vor der Entbindung die Anstalt, musste sie ihren Aufenthalt bezahlen, weil sie als Ausbildungsobjekt wertlos war. Einige Schwangere setzten sich dagegen zur Wehr, indem sie etwa die anstehende Geburt so lange wie möglich zu verheimlichen suchten, sodass es zeitlich nicht mehr möglich war, die Studenten zusammenzutrommeln. Die körperliche Zudringlichkeit der männlichen Geburtshelfer war neu. So etwas wie die „taktile Erfahrung“ von Frauen mussten sie erst erlernen und dabei plausibel machen, dass diese Überschreitung der Schamgrenzen sowohl moralisch als auch medizinisch wünschenswert sei.
  Nur wenige Zeugnisse lassen erahnen, wie es den Schwangeren dabei ergangen sein mag: was es etwa bedeutete, sich vor einer Gruppe von Medizinstudenten zu entblößen, sich von ihnen untersuchen zu lassen und sich auch bei der „Entbindung unter den Händen junger Männer zu befinden“. Ärzte kamen im 18. Jahrhundert – anders als Chirurgen – ihren Patienten körperlich nicht nahe, sondern stellten ihre Diagnose in der Regel auf der Grundlage von Befragung, Urinbeschau und allenfalls durch das Fühlen des Pulses. Im Entbindungshospital ging es anders zu. Ein Bericht aus dem Jahr 1810 hält kühl fest: „In dem Colleg(io) vormitt(ags) gegen 10 Uhr wurde ihr Vorfall der Vagina und des Uterus den Studierenden und Hebammen vorgezeigt und von mir genau untersucht . . . Sie sagte . . . vor dem Untersuchen, sie sei sehr zu Krämpfen und Ohnmachten geneigt, man möchte es doch nicht zu lange machen. Nur wenige Studierende ließ ich daher die vaginam prolaps(am) c(um) utero berühren. Nach der Untersuch(ung) wurde sie zu Bett gebracht, befand sich wohl.“
Diese Notiz stammt von Friedrich Benjamin Osiander, dem prägenden Arzt nach Roederer. Er residierte im Neubau des Entbindungshospitals, der in den 1780er-Jahren in Angriff genommen worden war. Einer der ersten Entwürfe stammte pikanterweise von einem ehemaligen französischen Gardeoffizier, der neben diversen Brotberufen am Kasseler Hof auch mit erotischen Romanen brillierte. Seine Pläne wurden immerhin teilweise in die Realität umgesetzt. Um das Ganze für ein sozial gehobenes Wunschklientel anziehend wirken zu lassen, wurde 1787 der Grundstein für einen regelrechten „Acchouchierpalast“ gelegt, den man noch heute besichtigen kann: Das Gebäude überragte die umstehenden Häuser; im Innern bewegte man sich durch sieben Meter breite Flure und ein lichtes Treppenhaus, das zeitgenössische Beobachter mit seiner Kuppel an Dombauten erinnerte und von dorischen, ionischen und korinthischen Säulen rhythmisiert wurde. Durch die Haupttore im Osten und Westen konnte ein Wagen hindurchfahren. Die „beträchtliche Raumverschwendung“, der „Überfluss von Licht und Helle“, die gute Durchlüftung und die „Wegführung . . . aller unreinen Dünste“ galten als vorbildlich.
  Osiander residierte im obersten Stockwerk der Anstalt. In seinen „Denkwürdigkeiten für die Heilkunde und Geburtshülfe“ (1794/95) erklärt er: „Zur Aufnahme in dieses Institut ist . . . jede Schwangere, Verheuratete und Unverheuratete, Inländerin und Ausländerin, Christin und Jüdin, Weiße und Negerin fähig“. Der Chefarzt überblickte durch das Treppenhaus wachsam den Rest des Gebäudes. Eine Hebamme kontrollierte das sittliche Verhalten der Patientinnen und die hygienischen Verhältnisse der Räume, die als Standard mit Bibel, Gesangbuch, einem evangelischen und einem katholischen Predigtbuch ausgestattet waren – Jüdinnen ermöglichte man die Zubereitung koscherer Speisen.
  Schlumbohm stellt all dies sachlich und differenziert, anschaulich und mit viel Sinn für den prägnanten Moment dar. Er hätte an diesem reichhaltigen Material alle derzeit geläufigen kulturhistorischen Großthesen exekutieren können: von der aufgeklärten Disziplinarmacht etwa, der Rationalisierung der Lebensverhältnisse, der Konstitution wissenschaftlicher Objekte im Zuge ihrer Erforschung oder der Anbahnung einer Biopolitik. Man merkt auch, dass Schlumbohm die Degradierung von Menschen zu „Fällen“ stört und dass ihn die fast zum Verstummen gebrachten Stimmen der Frauen interessieren. Aber er vermeidet jede Spekulation, achtet auf Ungereimtheiten und bewahrt damit die Komplexität und Vielstimmigkeit einer historischen Situation.
STEFFEN MARTUS
1787 legte man den Grundstein
für einen „Acchouchierpalast“
  
  
  
Jürgen Schlumbohm: Lebendige Phantome. Ein Entbindungshospital und seine Patientinnen 1751–1830. Wallstein Verlag, Göttingen 2012. 574 Seiten, 34,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr
»Die aufgezeigten Lebensgeschichten der Frauen und Männer ziehen in ihren Bann« (Lucina, Mai 2019)