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Auf der Saftbühne wird etwas aufgeführt. Hildegard Knef steigt ins Auto. Rudolph Moshammer trägt seinen Yorkshire Terrier durch München. S. T. Coleridge macht einen Witz über Köln. Kunstwerke verschwinden. Etwas rüttelt am Fenster. Morgens, mittags, nachts. Der Amselpapst. Die Leute fangen an, Sachen zu reden. Am Wertstoffhof läuft Musik. Elvis fegt noch einmal die Einfahrt. Ich lese nur noch Pferdekrimis und suche die Sprache im grauen Bereich. Das Schlaflabor am Potsdamer Platz. Weißdorn, Majoran, Ginster... Unerhörtes trägt sich zu in den lange erwarteten neuen Gedichten von Marcel Beyer.…mehr

Produktbeschreibung
Auf der Saftbühne wird etwas aufgeführt. Hildegard Knef steigt ins Auto. Rudolph Moshammer trägt seinen Yorkshire Terrier durch München. S. T. Coleridge macht einen Witz über Köln. Kunstwerke verschwinden. Etwas rüttelt am Fenster. Morgens, mittags, nachts. Der Amselpapst. Die Leute fangen an, Sachen zu reden. Am Wertstoffhof läuft Musik. Elvis fegt noch einmal die Einfahrt. Ich lese nur noch Pferdekrimis und suche die Sprache im grauen Bereich. Das Schlaflabor am Potsdamer Platz. Weißdorn, Majoran, Ginster...
Unerhörtes trägt sich zu in den lange erwarteten neuen Gedichten von Marcel Beyer. In jedem einzelnen der exakt vierzig Verszeilen langen Poeme nimmt sich eine andere Figur jede Freiheit, die die strenge Begrenzung ihr lässt, erzählt Geschichten, paraphrasiert Übersetzungen, stellt Reihungen an - kurz: Sie treiben es bunt, manchmal auch wild, so dass am Ende gesagt werden muss: Es wird ernst! Es wird Zeit, den Dämonenräumdienst zu rufen.

Laß deine mürben Knochen. Verharre. Der
Sohn ist der Vater, der Vater
ein Geist. Koste nicht von der Esche,
der Eiche, der Eibe, aber sag mir,

was Buchstaben sind. Löse dich von
deinen Vorlagen. Sprich schneller.
Niemand hier muß verstehen,
was du sagst. Wer würde dir denn eine

Knarre besorgen. Frag nicht, ob du
willkommen bist. Was in dir
singt, geht keinen Menschen etwas an.
Die Buchstaben glotzen. Bleibe.
Autorenporträt
Marcel Beyer, geboren am 23. November 1965 in Tailfingen/Württemberg, wuchs in Kiel und Neuss auf. Er studierte von 1987 bis 1991 Germanistik, Anglistik und Literaturwissenschaft an der Universität Siegen; 1992 Magister artium mit einer Arbeit über Friederike Mayröcker. Der Autor erhielt zahlreiche Preise, darunter 2008 den Joseph-Breitbach-Preis und 2016 den Georg-Büchner-Preis. Bis 1996 lebte Marcel Beyer in Köln, seitdem ist er in Dresden ansässig.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Für Carsten Otte ist Marcel Beyer der Geisterjäger der deutschen Literatur. Beyers neue Gedichte führen Otte in Abgründe, ins Kinderzimmer, zu Moshammer und Hündchen Daisy oder (gewagt, wie Otte findet) zu einer Reformulierung von Celans Todesfuge. Dass Beyer noch bei hohem Risiko "federleicht" bleibt, sprachverspielt, ein Schalk, findet Otte beachtlich.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.08.2020

Dichten gegen ein Deutsch ohne Hüfte
Marcel Beyers Lyrikband "Dämonenräumdienst"

Das vierzigzeilige Gedicht hat keinen lyrischen Nimbus wie etwa das Sonett. Doch als ein Zehnfaches des Quartetts kann es zumindest Anspruch auf eine klassische Anmutung erheben, und Marcel Beyer als mit allen Wassern der Theorie, aber auch der Phänomenologie gewaschener Dichter weiß das nur zu genau. So hat er für seinen Lyrikband "Dämonenräumdienst" zwei Jahre lang lauter Vierzigzeiler, jeweils gegliedert in zehn Quartette, zusammengetragen, insgesamt deren 76, und dann in fünf Abteilungen geordnet, von denen zwei schon vorab publiziert wurden - eine Abteilung als bibliophile Liebhaberausgabe, die andere als Begleit- oder besser Bereicherungstexte zu einer Serie von Bunkeraufnahmen des Fotografen Boris Becker. Wenn ein Autor wie Beyer einen solchen Werkblock auftürmt, hat er noch andere Interessen als formale Geschlossenheit.

Inhaltlich bietet "Dämonenräumdienst" ein Wechselbad der Gefühle und Beobachtungen. Buchstäblich Anschauliches ("Der Tod in den Büschen" über einen Blick im Vorbeifahren auf eine am Straßenrand liegende Leiche: "Er trug keine / Schuhe. Fast frage ich mich, / ob er noch beide Füße hatte. Keine / Sprache mehr setzte ihm zu", heißt es da am Ende des Gedichts) wird unmittelbar gefolgt von Lyrisch-Reflexivem ("Schrot" mit dem Anfang: "Manches muß man zerschreiben, / muß man ermüllern, damit / es - als Schrot oder Mehl oder / schmutziger Schnee - einen // opaken, einen in alle Richtungen / fließenden Bildgrund ergeben / kann. Dunkelheitsatttacken / legen Dunkelheitsreserven an"). Diese Beispiele zeigen, dass es keinen poemübergreifenden rhythmischen Zusammenhang gibt: Die Hebungen wechseln bisweilen noch im Gedicht selbst, und auch wenn Beyer das Enjambement über die Quartettgrenzen hinweg besonders schätzt, gilt das doch, wie das zweite Beispiel zeigt, nicht als feste Regel. Es ist vielmehr der freie Fluss der Formen, der den Reiz ausmacht, und das schließt auch Gedichte ein, die ungeachtet des Verzichts auf Schlussreime zumindest unreine Binnenreime und Assonanzen als markante Elemente aufweisen (wie sie auch Jan Wagners Lyrik charakterisieren). Beyer beweist damit, dass der Reimverzicht für ihn nicht etwa Bequemlichkeit oder gar Beliebigkeit bedeutet.

Vielmehr ist hier alles so durchdacht, dass auch die eher erzählerischen Partien in den Abteilungen als Flaschenpostsendungen erscheinen, mit denen lyrisch-programmatische Aussagen eingeschmuggelt werden. So etwa im Fall von "Am See", eine von gleich zwei (auf zwei Abteilungen verteilte) Hommagen an die Deutschland-Reisen des englischen Romantikers Samuel Taylor Coleridge. In der ersten sitzt der Dichter im Winter 1799 am Ratzeburger See und notiert sich deutsche Vokabeln: "Diese Sprache heißt Schlittschuh / laufen und zugleich hinterm / Fenster im Warmen sein, um die / Schlittschuhläufer draußen auf / dem See zu betrachten. Die leise / Luftnot im norddeutschen // Winter, der Knoten im Hals, diese / Sprache, der Duft und die / herrliche Eisigkeit diese herrlichen / eisdeutschen Lüfte. Das Textband, // der Schal - da flattern sie hin." Natürlich evoziert das Thema das berühmteste deutsche Gedicht darüber: Klopstocks Ode "Der Eislauf". Coleridge hatte in Begleitung Wordsworths vor seinem Ratzeburg-Aufenthalt Klopstock in Hamburg besucht. Germanistische wie anglistische Forschung - zuletzt vor zwei Jahren Jeremy Adler - sehen wichtige Einflüsse des deutschen Dichter-Doyens, doch Beyer fährt fort: "Der / alte Mann Klopstock dagegen, mit seinem zahnlosen Oberkiefer / und seiner schrecklichen // Mufflonperücke: ein Deutsch / ohne Hüfte." Sprachliche und formale Beweglichkeit ist es, der Beyer hier mit der Stimme des lyrisch denkbar flexiblen Coleridge gegen den hüftsteifen Klassizismus Klopstocks das Wort redet. Und solche geradezu sportliche Beweglichkeit ist denn auch das zentrale Merkmal von "Dämonenräumdienst", explizit gemacht in "DDT": "Ich möchte hastig schreiben, / unterkühlt und lichterloh, / unbemerkt und ungeimpft, ich / möchte hastig schreiben, / unzivil und unbestimmt, von keiner / Schriftsprache beschirmt."

Derartige Unberechenbarkeit als Prinzip lässt aber auch Heikles zu wie "Ginster", in dem Beyer vielfach auf das berühmteste deutschsprachige Gedicht der Nachkriegszeit anspielt.

Der Tod ist ein Arschloch aus Strehlen,

er hockt dort, wo der Ginster

blüht. Ich seh ihn am frühen Morgen,

ich eh ihn an meinem Weg,

wie er mit seiner schwarzen Zunge

die Blüten des Ginsters berührt.

Die Kronblätter, die behaarten, ich sehe,

wie er sie leckt, und ich flüstere

bei jedem Schritt: Er will mich ja gar

nicht haben, er will mich ja

nur quälen, wenn ich zur Straßenbahn

gehe. Der Tod ist kein Mann,

auch kein Junge, die Gärtner haben ihn

gern. Sie geben ihm Wasser, sie

geben ihm Sand, sie geben ihm Licht,

sie geben ihm Stein, und ich

flüstere immer für mich: Halte dich

von den Gärtnern, halte dich von

den Heckenscheren und dem finsteren

Grinsen fern. Der Tod ist ein

Arschloch aus Strehlen, ich weiß es,

er hält die Gärtner in seiner

Gewalt. Er leckt immer dieselben

Stellen, das weiß ich, denn ich sehe

jeden Morgen, wie er seine steife Zunge

tief in die Ginsterblüten steckt.

Wenn ich morgens zur Straßenbahn

gehe, flüstere ich bei jedem Schritt:

Bitte nicht ich, nur bitte nicht ich, ein

Gärtner soll der nächste sein.

Denn wenn er mich einmal entdeckt,

dann weiß ich, er schleudert,

sobald sie reif sind, die Schleuderfrüchte

des Ginters nach mir. Der Tod

ist ein richtiges Arschloch, er wechselt

niemals den Ort. Seine schwarze,

steife Zunge schleckt Ginsterblüten ab.

Der Ginster wird überwintern,

und ich, ich gehe ein. Nimm mich

fort. Nimm mich fort.

Was passiert hier? Nicht nur unmittelbare Wortübernahmen und der litaneihafte Rhythmus beschwören Celans "Todesfuge" herauf; Motive daraus werden assoziativ ergänzt. Der Schwarz-Gold-Gegensatz bei Celan wird nicht explizit gemacht, aber über die Ginsterblüte in den Dresdner Gärten doch vorgeführt. Aus dem Todestrank wird das Schlecken, ein erotisch-morbides Motiv, das aber im lyrischen Spiel mit Celans Gedicht etwas Frivoles bekommt. Natürlich weiß Beyer auch hier genau, was er tut: "ich schreibe diese Gedichte / wie ein Kind, das heimlich / tut und einfach froh ist, wenn / niemand mit ihm schimpft." Solche Zurückhaltung kann Marcel Beyer aber doch nicht ernsthaft erwarten?

ANDREAS PLATTHAUS

Marcel Beyer:

"Dämonenräumdienst". Gedichte.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 173 S., geb., 23,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.09.2020

„Der Dichter arbeitet als Reh im / Innendienst“
Bewusstseinsarchäologie eines poetischen Spürhundes, vom King bis zur Bunkerkönigin: Marcel Beyers neue Gedichte
Die Obsessionen Marcel Beyers lagen seit jeher in seiner bundesdeutschen Kindheit, als im Fernsehen neue Mythen geschaffen wurden und Zeitschriften wie Der kleine Tierfreund ein trauliches Behütetsein vermittelten. Auch in seinen neuen Gedichten blitzen Chiffren dieser scheinbar überschaubaren Welt auf: da gibt es die „Tchibo-Taschenlampe“, das Maggifläschchen, den Resopaltisch oder das Rattansofa. Aber das Unheimliche, das in diesen Objekten steckt, wird mehr und mehr beredt. Beyer ist in den Urknall der modernen Pop- und Konsumwelt hineingewachsen, er hat sich bereits mehrfach als Virtuose im Umgang mit diesen Einflüssen gezeigt und etwa den Effekten des Reggae und des Dub glitzernde Farben abgewonnen. Doch auch die dunklen Seiten verkennt er nicht: „So staut die / Kotze sich / in meiner totgetippten linken Schulter / an, Lady In / Red und Dancing Queen und In The Air / Tonight / und Hotel California und Rocket Man.“
Beyer verwirbelt in ausgefeilten Improvisationen das Inventar seiner Sozialisation, die Einrichtungsgegenstände, die Tier- und Fabelwesen sowie die popkulturellen Prägungen, und es entstehen ganz neue Muster und Textwelten. Der Humor, der da am Werk ist, verweist in Abgründe, die mit Plüsch ausstaffiert und deshalb umso horrender sind. Dieser Lyriker vermengt das Schöne und das Schreckliche zu etwas ganz Neuem. Die Vätergeneration des 1965 geborenen Beyer war vom Zweiten Weltkrieg und von Elvis Presley geprägt, und entscheidend ist dabei, wie das vielfach gebrochene „Ich“ dieser Verse in eine spezifische Las-Vegas-Atmosphäre hineingeboren worden ist, „Elvis in / seiner späten Gospelphase“. Und wie es diese „Sacropopjahre“ imaginiert, die „kleine Fischbude des toten King“ und in „Elvis Presleys letzte Fischbulette“ beißt: das ist wirklich ein vielschillerndes Identitätsnetzwerk. Was dem diese Zeit inhalierenden Heranwachsenden bleibt, ist neben den Tierfilmen und Bernhard Grzimeks Sendungen aus dem Zoo der „Gospelhase“, der „über die Bühne hoppelt“, und dazu ein paar „Sacropopnoten, denn alles andere / wäre mir zu radikal.“
Zu den frühen Medienerfahrungen, die das Bewusstsein imprägnieren, gehört auch das „fusselnde Gruselfilmmaterial“, als das sich der Flokati-Teppich entpuppt, oder der „Stummfilmhimmel“, mitsamt allem „Schriftschrot, Schriftgranulat, // das auf dem Zelluloid zerfließt“. Und damit wird das konkrete Zentrum dieser Gedichte benannt. Die „Schrift“ ist das Medium, mit dem das Gedicht sich selbst reflektiert, und deshalb geht es hier nicht um bloße Erinnerungsfragmente, sondern um die Art und Weise, wie das alles zu einer Kunstform gerinnt. Das erste Gedicht des Bandes mit dem Titel „Farn“ führt dies programmatisch vor. Der Farn ist hier zu einer Torflandschaft geworden, „ein Buch, in unentzifferbarer Schrift verfaßt“, und der dichterische Vorgang erscheint dann so: „ich knipse was an: Wildsein, / Erinnern, der Versuch einer / Schwarztorflektüre – schwarz auf / schwarz.“ In die Bestandsaufnahme dessen, was die eigene poetische Landschaft ausmacht, die Kunst- und Medienwelten der frühen Jahre, mischen sich Zeilen, die benennen, was in diesen Texten passiert: „Schreib es auf, sonst mußt du es / am Ende noch erleben“, oder: „Ich brauche morgens viel zu lange, / bis ich mich fremdgeschrieben habe.“
Beyer schließt an die Selbstreflexionen an, die seit Beginn der Moderne das Schreiben ausmachen und es gleichzeitig in Frage stellen. Den Gegensatz zwischen Hoch- und Populärkultur, der lange Zeit als selbstverständlich definiert wurde, hat es für diesen Schriftsteller von Anfang an nicht gegeben. Aber das Charakteristische an ihm ist, wie er diese Erfahrung verschiebt und seinen Umgang mit Populärkultur zu ästhetischen Reizen vorantreibt, die an die lyrische Tradition hinterrücks wieder anschließen. Es ist deshalb mehr als ein bloßer Budenzauber, wenn er seinen Amanda-Lear- oder Micky-Maus-Imaginationen auch Anspielungen auf Dichter unterjubelt, die dem Hausbuch deutscher Poesie entstammen. Gerade identifikatorisch wird es bei einem alten König des Absurden: „Lesen Sie Günter Eich. Das / Spätwerk. Zweiunddreißigmal.“ Oder, in einer irrwitzig kalauernden Anrufung Gottfried Benns: „In meinem / Elternhaus lagen keine Marlboros, / wurde kein Dujardin serviert.“ Hier werden den Gemälden „Gainsboroughs“ bei Benn neue Mängel in der Generationenerfahrung entgegengestellt, und auf Benns heroische Welten zielt in der Folge auch die Erkenntnis: „und zugleich ist es / unendlich schwer, an Orten wie / diesen ein Mann ohne Laserschwert / zu sein.“
Natürlich merkt man im aktuellen Hölderlinjahr besonders auf, wenn ein Gedicht den Titel „Weh mir“ trägt, den berühmten Ausruf des schwäbischen Weltenzerreißers aus dessen Gedicht „Hälfte des Lebens“ zitierend. Und die Umspielungen dieses Gedichts tragen noch weiter, auch Marcel Beyer sieht sich zweifellos in der Hälfte seines Lebens angelangt, aber er liest das alles gegen den Strich: „und wo / nehmt ihr, ihr holden Schweine, wenn // es Zeit ist für euch, für die Hölle, den / Sonnenschein, Marienkäfer und / süße punktierte Haut, und wo das / tüchtige Wasser, eure heillosen // Schädel zu tunken und die heillosen / Birnen und Rosen.“
Die Gedichte in „Dämonenräumdienst“ haben eine klassische Anmutung: sie bestehen allesamt aus zehn Vierzeilern, die hübsch geordnet anzusehen sind, auch wenn sie sich nicht reimen. Aber innerhalb dieser strengen äußeren Form geht es kreuz und quer, überlagern sich die Zeiten und die Assoziationen. Die Anfänge wirken dabei oft wie hitverdächtige Tracks: „Wie unter milden Drogen geht / der Tag dahin“, oder: „In meiner Hasenzeit habe ich so häufig / mit Joseph Beuys geschlafen, ich / weiß wirklich nicht mehr, wann er / endlich schwanger war“. Die Bilder werden jedes Mal konsequent weiterentwickelt, so dass ein flirrender selbstreferenzieller Rahmen entsteht. Am meisten groovt wahrscheinlich die Eingangssentenz: „Der Dichter arbeitet als Reh im / Innendienst“ – was daraus dann wird, ist ein Meisterstück aus Autorpoetik, Hochkomik und Gesellschaftsanalyse. Rezeptionsgeschichtlich unübersehbare Figuren wie Hildegard Knef oder Rudolph Moshammer erweisen sich im Nachspüren ihrer Bedeutungsfacetten als besonders ergiebig, wobei „Daisy“, der Yorkshire-Terrier des letzteren, äußerst effektvoll die Tiermotivik fortsetzt.
Den Schluss dieses bezwingenden Bandes bildet der sechsteilige Zyklus „Die Bunkerkönigin“, der den Hintergrund der Gedichte noch einmal ausleuchtet: es geht um die Nachkriegstraumata, die in diesen Kindheitsbildern mitschwingen, um das Unbewusste in den Aufschwungphasen der alten Bundesrepublik und um den „Dämonenräumdienst“, um das Zerschreiben der Märchenwelten und Fabelwesen, die sich früh festgesetzt haben. Die Wohlstandsfassaden zeigen Risse, die erst heute richtig sichtbar werden. Diese Gedichte sind die Bewusstseinsarchäologie eines poetischen Spürhundes: „ich lasse (…) / die Bunkerlauge, den ewig / nachtropfenden Bunkerschweiß, / lasse das ganze faule Gebräu sich // mit Kriegs- und Nachkriegsdreck / vermengen, lasse Betondecken / Moorboden sein: Ich räume / auf vor meinem inneren Auge.“
HELMUT BÖTTIGER
Marcel Beyer: Dämonenräumdienst. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 173 Seiten, 23 Euro.
„Schreib es auf, sonst
mußt du es /
am Ende noch erleben“
Marcel Beyer, Jahrgang 1965, lebt in Dresden. 2016 verlieh ihm die Akademie für Sprache und Dichtung den Georg-Büchner-Preis.
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»Marcel Beyer gelingen ... federleichte Formulierungen ...« Carsten Otte taz. die tageszeitung 20201027