Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 19,00 €
  • Broschiertes Buch

Produktdetails
  • Zur Kritik der Geschichtsschreibung Bd.9
  • Verlag: Muster-Schmidt
  • Seitenzahl: 199
  • Deutsch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 296g
  • ISBN-13: 9783788117290
  • ISBN-10: 378811729X
  • Artikelnr.: 14153648
Autorenporträt
Hans-Heinrich Nolte ist emeretierter Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Hannover. Er ist Herausgeber der "Zeitschrift für Weltgeschichte" und einer der Pioniere, der die englischsprachige Entwicklung der Globalgeschichte in den deutschsprachigen Raum eingeführt hat.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.09.2006

Erblast der Erinnerung
Wie russische und deutsche Historiker Geschichte aufarbeiten
Die auf Ideologien und Utopien gegründeten europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts – Faschismus, Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus – versinken langsam im Dämmerlicht der Vergangenheit. Aber ihr monströses Echo, freigegeben aus Archiven, erschreckt noch heute die Überlebenden, während die Nachgeborenen, glückliche Kinder eines sechzigjährigen Friedens, über das Ausmaß der einstigen Barbarei ungläubig staunen. Millionenfacher Mord an Menschen, die einer für schädlich oder minderwertig erklärten Rasse, Klasse oder Nation angehörten, „Säuberungen”, Programme zur „Vernichtung durch Arbeit”, Konzentrationslager und Gulag, Parteiendiktatur, Polizeiterror, Führerkult und andere Exzesse wurden in diesem Jahrhundert der politischen Großverbrechen zum Schicksal ganzer Generationen und zerstörten das Leben von vielen Millionen Menschen. Was soll mit dieser Erblast von Erinnerung geschehen? Vergessen, Verdrängen oder Verarbeiten?
Der Göttinger Osteuropakenner Hans-Heinrich Nolte hat die Erfahrungen deutscher und russischer Historiker, Pädagogen und Sozialkundler beim Rückblick auf die vergangenen Diktaturen (in Deutschland waren es zwei) in einem Sammelband vereinigt. Es sind die zu Essays erweiterten Vorträge, die auf einer deutsch-russischen Historikerkonferenz, veranstaltet von der Vertretung der Friedrich-Ebert-Stiftung in der Russischen Föderation, im Jahr 2004 gehalten wurden. Der wissenschaftliche Apparat (Literaturhinweise, Fußnoten etc.) gibt einen Eindruck von der Intensität besonders der russischen Totalitarismusforschung seit der Auflösung der Sowjetunion. Spannend ist, wie in manchen Beiträgen das Aufkeimen der Skepsis und Kritik im Sowjetsystem nach Stalins Tod 1953 nachgezeichnet wird. Die mühsame und langsame „Unterminierung durch die Wahrheit”, die schließlich zum Zusammenbruch des Imperiums führte, wurde im Westen kaum wahrgenommen, weil der Kalte Krieg sie überlagerte.
Ähnlich langsam und mühsam verläuft derzeit auch die Bewusstseinsbildung in der russischen Gesellschaft zur historischen Schuld des Stalinismus. Wie soll man es halten mit den Häftlingen des Gulag oder den ehemaligen russischen Zwangsarbeitern in Deutschland, den deutschen Kriegsgefangenen in der UdSSR, den aus Deutschland heimgekehrten kriegsgefangenen Sowjetsoldaten, ukrainischen Nationalisten, Angehörigen der (an der Seite der Wehrmacht kämpfenden) Wlassow-Armee, Russlanddeutschen und anderen Kollektiven von Opfern des 20. Jahrhunderts? Schuldig oder unschuldig? Patrioten oder Verräter? Die russischen Historiker sind gespalten, und die Tradition der von Stalin persönlich praktizierten staatlichen Geschichtsschreibung mittels kanonisierter Schulbücher ist noch nicht völlig abgerissen. Das zeigt sich in den gewundenen Formulierungen zur Sowjetgeschichte auch in heutigen Unterrichtstexten.
Wie setzte man sich in Deutschland mit den beiden Diktaturen, die 1945 und 1990 zu Ende gingen, auseinander? Der Band enthält eine hervorragend klare Darstellung der zeitlichen Phasen dieser „Bewältigung”. Sie stammt von Bernd Bonwetsch, Professor für Osteuropäische Geschichte in Bochum und Gründungsdirektor des Deutschen Historischen Instituts in Moskau. Seine präzise Schilderung des politischen Umfeldes (Kalter Krieg) und der psychologischen Bedingungen für den Umgang mit Schuld ist vorzüglich geeignet zur Erinnerung für die Zeitgenossen und als Lehrstoff für die Jungen.
Weitere Beiträge enthalten Gedanken von Russen zur deutschen Schulddebatte, sind konzentrierte Berichte über den Stand der russischen Totalitarismusforschung, schildern die Entstehung von neuen Ethnien aus den Lagerkomplexen des Gulag. Es geht um das Schicksal der Russlanddeutschen zwischen 1940 und 1990, den Verbleib von Kriegsgefangenen, die Auseinandersetzung über Kriegsverbrechen der Wehrmacht, Partisanenkrieg und die Entschädigung von Zwangsarbeitern. Und immer wieder gibt es Beispiele für den Schneckengang von Wahrheit und Gerechtigkeit angesichts von Nationalstolz, Schuldverdrängung und der Unfähigkeit zu trauern.
So führt diese Aufsatzsammlung zu Themen und Problemen, die bislang in der deutschen Öffentlichkeit noch wenig wahrgenommen wurden. Sie zeigt darüber hinaus, dass die im 20. Jahrhundert so schreckensreiche, hasserfüllte gemeinsame Geschichte von Russen und Deutschen nunmehr von deutschen und russischen Historikern gemeinsam aufgearbeitet wird, Kommenden zur Lehre.
CHRISTIAN SCHÜTZE
HANS-HEINRICH NOLTE (Hg.): Auseinandersetzungen mit den Diktaturen. Russische und deutsche Erfahrungen. Muster-Schmidt Verlag Gleichen, Zürich 2005. 199 Seiten, 28,00 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Mit großem Lob bedenkt Christian Schütze diese Aufsatzsammlung deutscher und russischer Autoren zur Aufarbeitung der Geschichte der Diktaturen im 20. Jahrhundert, die aus einer Konferenz von 2004 hervorgegangen ist. Insbesondere die Entwicklung der russischen Erinnerungsarbeit, die aufgrund des politischen Kontexts auf deutscher Seite kaum wahrgenommen wurde, lässt sich in diesem Buch gut nachvollziehen und liest sich "spannend", so der Rezensent interessiert. Auch die Auseinandersetzung mit den Diktaturen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg unter deutschen Historikern wird vom zufriedenen Rezensenten gewürdigt. Besonders den Aufsatz von Bernd Bonwetsch, der die Phasen der Geschichtsaufarbeitung chronologisch nachzeichnet, preist der Rezensent für seine Klarheit und Genauigkeit. Insgesamt freut sich der Rezensent, dass mit diesem Sammelband ein bisher vernachlässigtes Thema aus russischer und deutscher Perspektive in den Blick gerückt wird.

© Perlentaucher Medien GmbH