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Dieser Gesamtschau über die europäische Literatur von Homer bis Goethe liegt dieErkenntnis zugrunde, dass die volkssprachlichen Literaturen nicht aus sichheraus, sondern nur in Verbindung mit der lateinischen Literatur zu verstehen sind.Curtius wendet sich gegen die sprachliche und zeitliche Beschränkung derLiteraturwissenschaft auf die jeweiligen Nationalliteraturen, gegen isolierteBeschäftigung mit einer Literatur und steht somit am Anfang der komparatistischenLiteraturbetrachtung.

Produktbeschreibung
Dieser Gesamtschau über die europäische Literatur von Homer bis Goethe liegt dieErkenntnis zugrunde, dass die volkssprachlichen Literaturen nicht aus sichheraus, sondern nur in Verbindung mit der lateinischen Literatur zu verstehen sind.Curtius wendet sich gegen die sprachliche und zeitliche Beschränkung derLiteraturwissenschaft auf die jeweiligen Nationalliteraturen, gegen isolierteBeschäftigung mit einer Literatur und steht somit am Anfang der komparatistischenLiteraturbetrachtung.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.01.2019

Es sieht mehr aus wie ein Bergwerksstollen

Stattlich und feist: Wo man "Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter" von Ernst Robert Curtius auch aufschlägt, stößt man auf Arbeitsspuren. Die scheinbare Formlosigkeit kennzeichnet ein durch und durch modernes Werk, das aus dem Abendlandschrifttum der Nachkriegszeit herausragt.

Bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erschienen in Deutschland Schriften, welche die Nation dazu anhielten, sich auf ihre "christlich-abendländische" Tradition zu besinnen und dem aggressiven Nationalismus abzuschwören. Ihre Verfasser priesen Europa als einheitlichen politischen und kulturellen Raum. Besonders wichtig war ihnen die Erinnerung an das mittelalterliche Jahrtausend von etwa 500 bis 1500, in dem der christliche Universalismus, ja überhaupt das einigende Band der Kultur und der Religion "eine Überbetonung des Nationalen" (so 1946 der Kunstschriftsteller Herbert Alexander Stützer) verhütet habe.

Wo man derart emphatisch die Gemeinsamkeiten alles Europäischen betonte, ging es freilich auch um Verweigerung und Abgrenzung. Die Propagatoren dieses "abendländischen" Bewusstseins, meist Katholiken, hielten dazu an, mit den Säkularisierungstendenzen der vergangenen Jahrhunderte zu brechen. Nach außen hin sollte sich das "neue Abendland" gegen den Kollektivismus der sozialistischen Staaten und zugleich gegen den englisch-amerikanischen "way of life" immunisieren, dem man Kulturlosigkeit, Materialismus und "Vermassung" unterstellte. Auch die Demokratie verhieß nur eine "Freiheit für beliebige Inhalte", wie es im 1951 erschienenen "Manifest der Abendländischen Aktion" hieß. Sich zu vergegenwärtigen, wie im Mittelalter der Glaube jegliche Kultur und jegliches Staatswesen fundiert habe, schien der erste notwendige Schritt zur Etablierung einer neuen Staatenordnung ohne Nationalismen.

Im Ausland scheint man derartigen Rezepten skeptisch gegenübergestanden zu haben. Bezeichnenderweise hat mit Per Øhrgaard ein Däne 2009 daran erinnert, dass der deutsche Europa-Jargon schon seit 1943 immer aufdringlicher geworden war, dass schon Joseph Goebbels an die Bolschewistenfurcht der "abendländischen Menschheit" appellierte und dass schon die NS-Kriegspropaganda die Wehrmacht als Vorkämpferin gegen die "Versteppung Europas" und die SS als "Kampftruppe für Europa" pries.

Rückt man ihre Schriften in diesen martialischen Zusammenhang, tut man den meisten Trägern der Abendland-Bewegung mit ihren naiven ständestaatlichen Ideen, ihrer Sorge um Konfessionsschulen und ihren Vorbehalten gegenüber Jazz, Kino und berufstätigen Frauen sicher unrecht. Gewiss ist dagegen, dass ihr politisches Rezeptwissen an das kulturkritische und rechtskonservative Denken der Zwischenkriegszeit nahtlos anknüpfte. Man fand nach der deutschen Kapitulation von 1945 deshalb so schnell zu seinen Sprachregelungen, weil man in der Überzeugung lebte, dass die konservativen Denker der zwanziger und dreißiger Jahre schon alles Wesentliche zur Moderne gesagt hatten. Auch deren Forderung nach einem "Neuen Mittelalter", in dem die Wunden der Moderne heilen würden, machte man sich wieder zu eigen.

In diesem Klima der Modernitätsskepsis entstanden auch profunde wissenschaftliche Arbeiten, die an das europäische Mittelalter erinnerten und versuchten, dessen Wissen wiederzugewinnen, ja nutzbar zu machen. Der Österreicher Paul Koschaker schrieb ein grundgelehrtes Werk über das römische Recht und dessen europäische Bedeutung; der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr las die Geschichte der modernen Kunst als Indikator für einen "Verlust der Mitte", den die Europäer erlitten hätten; Romano Guardinis Arbeit über "Das Ende der Neuzeit" stellte seinen Lesern das "Daseinsgefühl und Weltbild des Mittelalters" als Vorbild vor Augen. Das Werk aber, das am meisten internationales Aufsehen erregte, steuerte der Bonner Romanist Ernst Robert Curtius bei. Es erschien 1948 unter dem Titel "Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter".

Da sein Verfasser wahrscheinlich der international berühmteste deutsche Philologe war, wurde es mit Spannung erwartet, zügig gelesen und einmal frenetisch gefeiert, ein andermal heftig kritisiert. Selbst Erich Auerbach, der Konkurrent um das Höchstprestige innerhalb der Romanistenzunft, musste einräumen: Dies war "eines der nahrhaftesten geisteswissenschaftlichen Bücher", die ihm zu Gesicht gekommen waren. Es dürfte nicht viele Monographien über das Mittelalter geben, die so viel Einfluss auf den Gang der interdisziplinären Mittelalterforschung genommen und ihr eine solche Aufmerksamkeit beschert haben wie dieses sechshundertseitige, tief gelehrte und in seinem Aufbau schwer zu durchschauende Opus magnum.

Unumstritten war Curtius nie gewesen, und er ist es bis heute nicht. Hans Ulrich Gumbrecht ist so weit gegangen, das große Buch von 1948 jener besagten "Abendland-Substanz-Literatur" zuzurechnen, die uns heute so unzugänglich geworden ist. Das ist ungerecht, denn wo den Aposteln des Abendlands das Mittelalter ein vermeintlich gesicherter Besitz war, da war dessen Literatur für Curtius ein Gegenstand, der erst noch zu erschließen war, eine riesige Terra incognita. Die Abendland-Schriften lasen sich häufig, als hätten sich ihre Autoren ihre Zukunftsangst in einer einzigen schlaflosen Nacht von der Seele geschrieben. Hier dagegen ging es unverkennbar um die Frucht jahrelanger minutiöser Arbeit.

Der Verdacht, dass sich Curtius in den Jahren 1932 bis 1948, als er an dem Werk arbeitete, in eine gegenwartsferne und damit bequeme mentale Nische zurückgezogen habe, hatte nahegelegen. Denn die Materie, an der er arbeitete, erschien den Fachleuten für moderne Nationalliteraturen leicht als unverbindlich - immerhin ging es doch um Werke, die fast unbekannte Autoren vor tausend Jahren verfasst hatten und dies auch noch in einem sonderbaren Latein. Das Buchprojekt schien einen "Rückzug aus der Gegenwart" (Frank-Rutger Hausmann) anzuzeigen.

Derartige Einschätzungen setzen die Annahme voraus, dass Statements zur kulturellen Relevanz des Mittelalters in den dreißiger und vierziger Jahren zwangsweise unpolitisch und gegenwartsfern gewesen seien. Dem war nicht so, wenngleich die Wendung des Bonner Romanisten zur Mediävistik tatsächlich überrascht hatte. Curtius verdankte seinen frühen Ruhm seiner Kenntnis der zeitgenössischen Literatur. Durch seine Essays über André Gide, Romain Rolland und Paul Claudel, Marcel Proust und Paul Valéry erhielten deutsche Leser Zugang zur französischen Gegenwartsliteratur. "The Waste Land" von T. S. Eliot übersetzte er als Erster ins Deutsche.

Als Curtius 1929 nach Bonn berufen wurde, schien er wie geschaffen für die dortigen Aufgaben, denn sein Lehrstuhl war nicht nur die älteste romanistische Professur an einer deutschen Universität; das Preußische Kultusministerium hatte die rheinische Universität überdies dazu ausersehen, sich gezielt mit der "romanischen Auslandskunde" zu befassen. Gegenwartsliteratur statt Ablautreihen - man kann sich vorstellen, wie viel Aufmerksamkeit der 1886 im Elsass geborene Romanist durch diese Berufung erfuhr.

Im Unterschied zu manchen Kollegen sprach Curtius die Sprachen, die er lehrte, perfekt, und er stand mit französischen und spanischen Intellektuellen in brieflichem Austausch, ja er traf sich mit ihnen zum Gespräch, wo es nur ging. Er stand im Ruf, vermögend zu sein. Die deutschen Romanisten vermuteten, dass ihm Familie, internationale Vernetzung und ein gesundes Selbstbewusstsein ermöglichten, sich über die ungeschriebenen Regeln zünftischen Verhaltens hinwegzusetzen. Victor Klemperer etwa, der in Dresden zum Zuge gekommen war, weil Curtius den Ruf nach Sachsen abgelehnt hatte, war fortan überzeugt davon, dass man bei Berufungen immer erst an ihn denken werde, wenn der fünf Jahre jüngere Konkurrent dankend verzichte.

Doch Curtius fand in seiner Bonner Aufgabe keine Erfüllung. 1932, nur drei Jahre nach seiner Berufung, schlug er einen neuen Pfad ein und mischte sich mit einem Pamphlet unter dem Titel "Deutscher Geist in Gefahr" in die kultur- und wissenschaftspolitischen Debatten seiner Zeit ein. Die Schrift erhielt eine vernichtende Besprechung im "Völkischen Beobachter", vier Wochen nach dem Reichstagsbrand - die große Verhaftungswelle rollte schon, und ein Professor, der ohne Ironie den "Bluts- und Geistesadel des deutschsprechenden Judentums" pries, hatte durchaus Anlass zur Sorge.

Nicht nur dies war politisch an "Deutscher Geist", sondern auch der Versuch, die Verengungen des völkischen Geschichtsbildes zu bekämpfen. Damit standen die Bilder vom Mittelalter zur Disposition. Curtius störte sich daran, dass die völkischen Autoren nur das, was sie für rein germanisch hielten, als Teil der legitimen deutschen Vergangenheit ansahen. Vieles an der mittelalterlichen Literaturproduktion taten sie daher als Kontaminationen ab, die das in seinem Kern vermeintlich germanische, heldische Deutschtum gefährdeten. Mutig kämpfte "Deutscher Geist" hiergegen an. Die nationalen Mittelalterbilder der Gegenwart, so der Verfasser, gingen mit ihrem Bedürfnis nach Autochthonie und Homogenität in die Irre. "So fügen wir all den andern Formen innerdeutscher Zwietracht, unter denen wir leiden, noch diese künstliche, sinnlose Spaltung im Lager unserer eigenen Bildung hinzu." Renaissance, Humanismus und auch Mystik waren keine gegen ein "deutsches Mittelalter" wirkenden Kräfte, sondern Dispositionen, die sich in der Geschichte Europas immer wieder Geltung verschaffen sollten, also auch in Deutschland. Die nationale Geschichte, Teil der europäischen, war ein fester Bestandteil einer ebenso sinnlichen wie intellektualistischen Kultur.

Die Hybridität, die damit den Kulturen des mittelalterlichen Jahrtausends unterstellt wurde, war freilich ein eminent politisches Thema. Nur kurze Zeit nach dem Erscheinen von "Deutscher Geist" begann Curtius, seine Lektüre, seine akademischen Übungen und seine Publikationen auf die Stelle zu konzentrieren, an der die Fäden sämtlicher Kulturen Lateineuropas zusammenliefen: auf die lateinische Literatur des Mittelalters. Deren Begriffe und Topoi reflektierten ihre zeitgenössische Wirklichkeit und fungierten zugleich als Träger von Gedanken, die weit in die römische Vergangenheit reichten. Nicht so sehr Fragen des Stils, sondern solche der Topik waren das Entscheidende.

Ein weiteres Motiv, gerade dieses Werk in Angriff zu nehmen, stand im Hintergrund. Das Buchprojekt gab Anlass zu exzessiver Lektüre, zur Bergwerksarbeit in den Massiven der Literaturgeschichte - eine Sache, die Curtius ebenso planmäßig wie lustvoll betrieb. Wie seine früheren Bücher wuchs die "Europäische Literatur" eher kompilatorisch als kompositorisch. Nach der Fertigstellung von achtzehn mäandernden Kapiteln und nicht weniger als 25 Exkursen hörte der Verfasser auf; seine Leser konnten - und können - diese Teile praktisch in jeder beliebigen Reihenfolge lesen. Eine chronologische Ordnung verbot sich ja von der Sache her. Deutschlands Philologen haben leicht erkannt, dass der Materialberg, den das Werk abzutragen begann, niemals erschöpft sein würde, und stürzten sich auf die Toposforschung.

Der stattliche Umfang konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Curtius durchweg exemplarisch zu Werke ging. Das Kapitel zur Metaphorik diskutierte gerade einmal die literarischen Metaphern für die Schifffahrt, die Person, die Speise, die Körperteile und das Schauspiel. Beliebig vieles blieb offen, im Anhang wurde immerhin noch ein Fall nachgereicht: "Der Affe als Metapher".

Kritiker beklagten den unklaren Aufbau. Unter den zehn Motti, die Curtius dem Buch voranstellte, befand sich auch das Diktum José Ortega y Gassets, nach dem ein wissenschaftliches Buch immerhin noch ein Buch sein müsse - aber war dies hier tatsächlich der Fall? Erst im Epilog wurde die Struktur des Ganzen angesprochen: "Nicht logische Disposition, sondern thematische Verfugung" bestimme den Aufbau. "Die Verwebung der Fäden, die Wiederkehr der Personen und Motive in verschiedenen Mustern spiegelt die Verkettung der historischen Bezüge." Das war kokett, denn ganz ähnlich hatte Curtius seinen Lesern Jahre zuvor die labyrinthische Struktur des "Ulysses" von James Joyce erklärt.

Ein einziges Mal hatte Curtius versucht, ein Buchprojekt einem streng durchdachten Plan zu unterwerfen, doch nach drei Vierteln des Wegs und unter dem Einfluss einer psychischen Erkrankung hatte er die Kraft an der Ausführung dieser Idee verloren. Erst im vergangenen Jahr publizierten Ernst-Peter Wieckenberg und Barbara Picht den Torso aus dem Nachlass: "Elemente der Bildung" (F.A.Z. vom 12. Mai 2017), ein Folgeprojekt von "Deutscher Geist", das den Verfasser für den größeren Teil des Jahres 1932 beschäftigt hatte. Für die "Europäische Literatur" kehrte Curtius zur bewährten kompilatorischen Arbeitsweise seiner früheren Erfolgsbücher zurück.

Das Mittelalterbild, welches das Werk bot, war dasjenige, das sechzehn Jahre zuvor im "Deutschen Geist" beschworen worden war. Hier nun sollte bewiesen werden, was das frühere Buch nur behauptet hatte: Die Denkformen, mittels derer sich die Europäer Rechenschaft über ihre Welt ablegten, waren über den Bildervorrat, den die lateinische Literatur bereitstellte und den sie teilten, miteinander verbunden. Curtius war der Überzeugung, dass die Parzellierung der Philologien nach Sprachen diese Einsicht sabotierte. Es war an den Erforschern der mittellateinischen Literatur, auf diese großen Zusammenhänge aufmerksam zu machen. Und tatsächlich arbeiten ja auf diesem Feld seither manchmal Seelenverwandte wie Peter von Moos, die diese Herausforderung annehmen.

Da sich die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts bis hin zu seiner Gegenwart nach einem "neuen Mittelalter" sehnten, verstand sich Curtius als Erforscher eines durch und durch politischen Wissensbestands: Das Mittelalter stand im Zentrum eines großen, die Moderne miteinbeziehenden historischen Zusammenhangs. Jede Lektüre europäischer Autoren bekräftigte ihn in dieser Überzeugung, denn deutlicher als andere erkannte er die Spuren der fernen Vergangenheit in den Werken der Gegenwart. T. S. Eliots Dichtung, so lehrte er, war genährt "mit dem Mark der Spätlateiner", Verlaine erinnerte an das fremde, nebelhafte Byzanz. Nur ein Scholastiker wie Jacques Maritain (also einer, der mit der Metro zur Vorlesung fuhr) konnte behaupten, dass das christliche Leben "all seine Wurzeln in der Intelligenz" hatte.

Es war Curtius, der die Deutschen darauf aufmerksam machte, dass Joyce' Antiheld Leopold Bloom ein Jedermann in der Tradition mittelalterlicher Mysterienspiele ist. Die Grundlagen für ein verbessertes Verständnis der mittelalterlichen Kultur zu legen hieß für ihn, der Moderne zur Vertiefung ihrer Reflexionsfähigkeit zu verhelfen.

FRANK REXROTH

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