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Die Lieblinge der Justiz, das sind Verbrechen und Verbrecher, echte und vermeintliche:
Bohdan Staschynskyj zum Beispiel, ein KGB-Agent und Auftragskiller, der den ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera in seinem Münchner Exil ermordet, dann aber wegen der Liebe zu einer ostdeutschen Friseurin mit ihr in den Westen flieht und sich stellt.
Oder Mario, der Kolonialwarenhändler aus Kolomea im östlichen Hinterland der k. und k. Monarchie: Er ist jung, erfolgreich, seiner Frau Maria in schöner, wilder Liebe zugetan - aber seine geheime Verabredung mit einem karpatischen Molfar-Zauberer wird
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Produktbeschreibung
Die Lieblinge der Justiz, das sind Verbrechen und Verbrecher, echte und vermeintliche:

Bohdan Staschynskyj zum Beispiel, ein KGB-Agent und Auftragskiller, der den ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera in seinem Münchner Exil ermordet, dann aber wegen der Liebe zu einer ostdeutschen Friseurin mit ihr in den Westen flieht und sich stellt.

Oder Mario, der Kolonialwarenhändler aus Kolomea im östlichen Hinterland der k. und k. Monarchie: Er ist jung, erfolgreich, seiner Frau Maria in schöner, wilder Liebe zugetan - aber seine geheime Verabredung mit einem karpatischen Molfar-Zauberer wird sich als so fatal erweisen, dass ihm nicht einmal mehr Kaiser Franz Joseph daselbst zu helfen vermag.

Juri Andruchowytsch entfaltet in seinem neuen Buch ein die Jahrhunderte umspannendes Panorama von Mord, Liebe und Verrat, von der Monstrosität des Verbrechens und der Justiz. Und doch ist nicht alles, wie es scheint ...
Autorenporträt
Juri Andruchowytsch, geboren 1960 in Iwano-Frankiwsk/Westukraine, dem früheren galizischen Stanislau, studierte Journalistik und begann als Lyriker. Außerdem veröffentlicht er Essays und Romane. Andruchowytsch ist einer der bekanntesten europäischen Autoren der Gegenwart, sein Werk erscheint in 20 Sprachen. 1985 war er Mitbegründer der legendären literarischen Performance-Gruppe Bu-Ba-Bu (Burlesk-Balagan-Buffonada). Mit seinen drei Romanen Rekreacij (1992; dt. Karpatenkarneval, 2019), Moscoviada (1993, dt. Ausgabe 2006), Perverzija (1999, dt. Perversion, 2011), die unter anderem ins Englische, Spanische, Französische und Italienische übersetzt wurden, ist er unfreiwillig zum Klassiker der ukrainischen Gegenwartsliteratur geworden. Sabine Stöhr, 1968 geboren, studierte Slawistik in Mainz und Simferopol. Seit 2004 übersetzt sie aus dem Ukrainischen, v.a. die Werke von Juri Andruchowytsch und, gemeinsam mit Juri Durkot, das Romanwerk von Serhij Zhadan. 2014 wurde sie mit dem Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung ausgezeichnet. Ebenfalls 2014 erhielt sie, gemeinsam mit Juri Durkot und dem Autor, den Brückepreis Berlin für Die Erfindung des Jazz im Donbass von Serhij Zhadan. 2018 wurde Sabine Stöhr und Juri Durkot der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen für ihre Übersetzung des Romans Internat von Serhij Zhadan.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.05.2020

Auf den Teufel ist kein Verlass
Säuberungen, Massenexekutionen, Verbrennungen bei lebendigem Leib:
Der anarchische Moralist Juri Andruchowytsch feiert einen Karneval des Verbrechens
VON JÖRG MAGENAU
Unter „Parahistorie“ versteht man Erfindungen im Gewand der Geschichte, also eine Art Gegen- oder Alternativgeschichte. Darin vermischen sich reale Geschehnisse mit Ereignissen, die vielleicht möglich gewesen wären, sich aber als Erfindungen herausstellen. Manchmal ist es aber auch so, dass die Wirklichkeit alle Erfindungen und Möglichkeiten übertrumpft, sodass sich Dinge ereignen, die man niemals für möglich gehalten hätte. All das geschieht in „Die Lieblinge der Justiz“, einem „Roman in achteinhalb Kapiteln“, den Juri Andruchowytsch als „parahistorisch“ bezeichnet. Das eröffnet ihm den Zugang zur Geschichte als einem großen Spielplatz, auf dem er sich mit all seiner Fantasie tummeln kann, um am Ende aber doch vom ganz realen Entsetzen eingeholt zu werden.
Andruchowytsch erzählt im Tonfall eines Chronisten, der auf alte Quellen zurückgreift und sich manchmal kommentierend einmischt. Und doch darf man diesem Berichterstatter nicht alles glauben, schon deshalb nicht, weil da im 17. Jahrhundert plötzlich Youtube und Webcams, Anti-Schuppen-Shampoo und Daguerreotypien vorkommen. In acht Kapiteln oder vielmehr voneinander unabhängigen Erzählungen, die alle im Großraum Galizien spielen, in Lemberg zumeist oder in Andruchowytschs Heimatstadt Stanislau, dem heutigen Iwano-Frankiwsk, entfaltet er eine ukrainische Geschichte bizarrer Verbrechen und staatlicher Gewalt, die vom vergleichsweise sanften Tod auf einem Scheiterhaufen im 17. Jahrhundert (welches Glück, nicht in Russland hingerichtet zu werden, wo die Qualen viel länger dauerten!) bis zum Massenmord an 12 000 Juden im Jahr 1943 reicht.
Die letzte, „achteinhalbste“ Episode ist autobiografisch und führt zurück in die Kindheit des Autors in den 1960er-Jahren, die so sehr von der Raumfahrt bestimmt waren, dass damals die meisten Kinder nach dem Weltraumheld Gagarin Juri genannt wurden. Doch plötzlich wurde die friedliche, provinzielle, sozialistische Stadt, in der außer dem Einsturz der Decke im Neubau des „Kosmos“-Kinos kurz vor der Eröffnung nicht viel passierte, von einem Verbrechen aufgeschreckt. Am Flussufer wurde eine Leiche ohne Kopf gefunden. Das Radio berichtete unablässig davon, doch nach ein paar Tagen verfiel es wieder in Schweigen, als ob nie etwas geschehen wäre. Die Identität der Leiche und der ganze Fall blieben unaufgeklärt.
Erzählerisch ist das natürlich unbefriedigend und deshalb nur eine „halbe“ Geschichte, aber genau darin entspricht sie dem realen Geschichtsverlauf. Die meisten Ereignisse haben keinen exakten Anfang und kein Ende, es sei denn, ein Erzähler macht sie sich zurecht, indem er daraus eine Geschichte konstruiert.
So gesehen ist jedes Geschehen „parahistorisch“, sobald es sich in eine Erzählung verwandelt hat. Das, was sich ereignet, ist unvollständig, und das, was erzählt wird, ist das Resultat überbordender Fabulierlust, die aus historischen Bruchstücken und tollkühnen Erfindungen Geschichten formt.
Da kann es sich der Erzähler auch erlauben, gleich in der ersten Geschichte, die von einem mittelalterlichen Raufbold und Mörder handelt, eine Kartoffelpuffer-Episode zu versprechen, ohne je wieder darauf zurückzukommen.
Andruchowytsch berichtet von der Hinrichtung eines Mannes auf dem Scheiterhaufen im Jahr 1641, der sich fälschlicherweise als Priester ausgab, Beichten abnahm, vor allem aber viel Geld ergaunerte, und der nun, während ihm in Hitze und Rauch allmählich die Sinne schwinden, vergeblich auf die Ankunft des Teufels wartet, mit dem er einen Pakt geschlossen hatte und der ihn doch eigentlich hätte retten sollen. Doch auf den Teufel ist kein Verlass. Eine andere Geschichte handelt von einem Mann, der seine Mägde eine nach der anderen zu schwängern und dann umzubringen pflegte und sie nebeneinander in einem Raum seines Anwesens verscharrte. Das sind Moritaten, Schauergeschichten, archaische Legenden.
Daneben stehen – immer im Wechsel und eben nicht chronologisch geordnet – politische Ereignisse, wie die Geschichte von den jungen Männern in den 1930er Jahren, die als Kinofans alle aussehen wir Clark Gable. Nachdem die Ukraine durch den Hitler-Stalin-Pakt sowjetisch wurde, müssen sie jedoch sowjetische Propagandafilme anschauen. Ihr lautstarker Protest im Kino, mit Pfiffen und Messern, die sie auf die Leinwand schleudern, führt dazu, dass alle verhaftet und nach Sibirien deportiert werden – alle, bis auf den Anführer der Gang, der seine Haut rettet, indem er seine Kumpel verrät. Andruchowytsch erzählt diese Anekdote in demselben heiter-sarkastischen Tonfall wie alle anderen Geschichten. Das ändert sich erst im achten, längsten Kapitel, das 1943 spielt, in der Zeit der deutschen Besatzung. Da wird er zu einem peniblen Dokumentaristen, der noch die exakte Anordnung der Erschießungspfähle und die Reihenfolge der Erschießungen recherchiert.
Das Attentat gegen die Besatzer, das der ukrainische Untergrund in einem Theater plante, war nicht mehr als eine Farce, die mit der Verhaftung und legendären „Erschießung der 27“ endete: Diese öffentlich vollzogene Hinrichtung war die eigentliche Inszenierung, das tatsächliche Theaterstück. Von da ausgehend rekapituliert Andruchowytsch die Besatzungs- und Gewaltgeschichte dieser Jahre, in denen auf sowjetische Massenerschießungen und eine ungarische Zwischenepisode die NS-Judenvernichtung folgte. 12 000 Juden wurden an einem einzigen Tag ermordet. Auch das erzählt er in unterkühlter Sachlichkeit. Das Kapitel mündet in die Geschichte eines Widerständlers, der nach Verhaftung und Folter mit den Deutschen kooperiert und all seine Leute verrät, aber so, dass er sich dabei einredet, er tue das alles nur, um den Widerstand zu stärken. Je mehr Verhaftungen und Morde auch an Frauen und Kindern es gibt, umso entschlossener muss doch auch der Widerstand werden! Wie Andruchowytsch diese gedanklichen Volten nachvollzieht, ist atemraubend, und er erzählt diesen Fall bis zum bitteren Ende in dem Moment, wo die Gewehrkugeln auf den Verräter zufliegen, der sein Handeln dann doch bereut. Das ist in der Nüchternheit, in der Präzision, in der Unbestechlichkeit des Blicks tief beeindruckend.
Als roter Faden durch alle Geschichten dient der Wanderzirkus „Vagabundo“, der quer durch die Jahrhunderte auftaucht, mal nur beiläufig, mal zentral, so wie in der Geschichte des Verräters, der als Werbe-Clown vor dem Zirkus Handzettel verteilt und verhaftet wird, weil sich darunter auch Zettel befinden, die zum Widerstand aufrufen. Das Clowneske, Artistische, Zirkushafte gibt diesem Roman das Aroma und seinen spezifischen Ort.
Andruchowytsch entfaltet einen Karneval der Gewalt und der Verbrechen. Er ist der unbestechliche Buchhalter des Bösen in all seiner Beiläufigkeit, dem es gelingt, seine Wut auf die Massenmörder zu unterdrücken und in eine millimetergenaue, gefühlsstarke, von verhaltenem Sarkasmus durchzogene Dokumentation zu verwandeln. An diesem Punkt ist Schluss mit Schalkhaftigkeit und Fabulierlust. Hier schlägt die Realgeschichte zu. Indem Andruchowytsch diese grauenhaften Ereignisse in seinen Moritatenreigen einreiht, stehen sie zwar im Kontext all der Anekdoten von menschlicher Niedertracht, fallen aber doch heraus, weil diese Verbrechen – und die nationalsozialistischen Verbrecherfiguren, die Andruchowytsch heraufbeschwört – in ihrer kalten Brutalität all die mehr oder weniger erfundenen Schauergeschichten in den Schatten der Parahistorie stellt. Wirklichkeit übertrumpft alle Erfindungen in dieser Geschichte der Gewalt, deren literarisches Gelingen sich am Gespür für den richtigen Tonfall entscheidet.
Juri Andruchowytsch: Die Lieblinge der Justiz. Parahistorischer Roman in achteinhalb Kapiteln. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 300 Seiten, 23 Euro.
Der Roman besteht aus
Moritaten, Schauergeschichten,
archaischen Legenden
Die Nüchternheit, die Präzision,
die Unbestechlichkeit des Blicks
sind tief beeindruckend
In den Neunzigern erfand er eine ukrainische Variante der Popliteratur, 2016 erhielt er in Weimar die Goethe-Medaille: der Schriftsteller Juri Andruchowytsch.
Foto: imago stock&people
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.07.2020

Wie ernst ist die Gerechtigkeit zu nehmen?
Juri Andruchowytschs erstaunlicher Episodenroman "Die Lieblinge der Justiz" erzählt über Jahrhunderte ukrainischer Kriminalgeschichte hinweg

Der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch liebt die schrägen Randfiguren und außergewöhnlichen Grenzgänger seiner Heimat. Banditen, Vagabunden, Herzensbrecher, Strauch- und Tagediebe, Hochstapler und kleine Gauner, sie alle gehören zum festen Personal seiner Romane. Sie entstammen dem ukrainischen Vielvölkergemisch von Polen, Russen, Deutschen, Juden, Kirgisen, Aserbaidschanern, Kaukasiern, und immer mit dabei ist der wilde Bergstamm der Huzulen aus den Karpaten. Dass sie alle mit der Staatsmacht, dem Militär, der Polizei, den Staatssicherheitsdiensten, gleichgültig in welchem Jahrhundert, in Konflikt geraten, gehört zu ihrem savoir vivre. Mit Lust und Laune setzt Andruchowytsch diese bunte Gesellschaft in Szene.

Sein jüngstes Werk überschreibt er als "parahistorischen Roman in achteinhalb Kapiteln". Acht davon beschreiben landläufig als böse Buben bezeichnete Zeitgenossen, das letzte halbe Kapitel ist ein autobiographischer Ausflug in die Kindheit des Autors. Den Auftakt bildet "der wundersame Räubersmann Sanijlo" zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts: "Dieser zu früh verdorrte und unglücklich vergessene Spross am Baum unseres nationalen Banditentums zieht vor allem stilistisch Aufmerksamkeit auf sich, und die außergewöhnliche Schönheit seiner Verbrechen gründet auf absoluter Freiheit. Sogar von den frechsten seiner Morde und Raubzüge lässt sich sagen, dass sie mit einem seltenen Sinn für Ästhetik begangen wurden und dass sie alle zwangsläufig den Eindruck freier, inspirierter Schöpferkraft hinterlassen."

Für Andruchowytsch sind seine Antihelden Lebens- und Mordkünstler, die nach eigener Logik das Handwerk des Tötens und Quälens betreiben, also mit ungebändigter Phantasie ihr Unwesen treiben. Samijlo etwa streift durch die Kneipen, schießt wild mit seiner Muskete um sich, zertrümmert Fenster und Spiegel, schlägt den allzu Frechen die Augen aus, pisst und spuckt ins Bier der Gäste, bricht ihnen die Rippen oder steckt einen korrupten Richter in eine Latrine. Die frühere Rechtsprechung, so der Autor, reagierte gelassen, Gefängnisstrafen fielen erstaunlich gering aus und wurden meistens zur Bewährung ausgesetzt. "Die damaligen Juristen behandelten die erwähnten Verbrechen eher philosophisch als juristisch, mit einer großen Dosis Humor, Ironie und christlicher Barmherzigkeit gegenüber den Delinquenten."

Das bleibt nicht immer so. Im Laufe der Jahrhunderte geht die Justiz auch grausamer mit ihren "Lieblingen" um. Julius Grodt, im achtzehnten Jahrhundert lebend, ein traumatisierter Soldat aus dem Siebenjährigen Krieg, wird wegen vielfachen Mordes an seinen Mägden qualvoll hingerichtet, er wird gerädert "von unten auf". Wäre er nur einige Jahre später erwischt worden, unter der Regentschaft von Joseph II., wäre er in den Genuss der Abschaffung der Todesstrafe gekommen.

Es gibt ein Vorbild für diese Kriminalepisoden: der berühmte "Pitaval", eine Sammlung aufsehenerregender Kriminalfälle, "Causes célèbres et intéressantes", erschienen 1734 bis 1743 in zwanzig Bänden. Ob das Werk Andruchowytsch bekannt ist? Der französische Jurist Pitaval hat schon viele Nachahmer und Nachfolger gefunden. Schiller hat eine vierbändige Auswahl der Kriminalfälle von Pitaval zusammengestellt. Unser Autor ist also nur der Letzte in einer langen Kette von Erzählern herausragender krimineller Ereignisse.

Die Fälle, die Andruchowytsch "parahistorisch" auftischt, haben sehr unterschiedlichen Charakter. Manche sind fiktiv ausgeschmückt, Wahrheit und Dichtung vermischen sich im Buch grenzenlos. 27 Jahre lang hat der Autor daran gearbeitet, "gebrütet". Die erste Episode erschien 1990, noch war nicht klar, in welche Richtung die Komposition laufen sollte. 2017 war die letzte Episode niedergeschrieben. Im Laufe der Zeit, so Andruchowytsch in einem Interview, veränderte sich beim Schreiben immer wieder die Intensität seines Interesses; schließlich war er davon überzeugt, es sollte ein Episodenroman werden. Will man einen roten Faden spinnen, so wäre der die Frage nach Opfer und Täter. Oder eher: Wer ist wirklich das Opfer, wer der Täter? Der Autor geht nie einen geradlinigen Weg und bringt den Leser stets aufs Neue in Verwirrung. Mit Witz und Aberwitz, mit Sarkasmus und Ironie spielt er seine Verbrecherszenarien durch. Die Sprache funkelt wie in einem Kaleidoskop

Eine Geschichte aber ist dem Autor bitterernst. Es ist das längste Kapitel und steht am Ende in diesem Episodenroman, fast hundert Seiten lang: "Sansar oder der Aufruhr der Engel". Die Deutschen sind in die Ukraine eingefallen und terrorisieren auf die grausamste Art die Menschen. Andruchowytsch hat mit intensivem historischen Quellenstudium ein Ereignis in seiner Geburtsstadt recherchiert. Damals hieß diese Stadt Stanislau, heute ist es Iwano-Frankiwsk. 1943, siebzehn Jahre vor Andruchowytschs Geburt, findet im Theater der Stadt die Premiere einer Operette statt, die zu einem Attentat auf die deutschen Besatzer genutzt werden soll. Drahtzieher ist der Einzelgänger Sansara, von dem man bis zum Schluss nicht weiß, auf wessen Seite er wirklich steht, so oft versucht er, eine Seite gegen die andere auszuspielen. Es herrscht ein mörderisches Chaos. Am Ende werden 27 Angeklagte von der NS-Justiz zum Tode verurteilt und noch am selben Tag per Pistolenschuss hingerichtet. Sansara, der der Gestapo das Attentat unter Folter gestanden hat, gehört zu ihnen.

"Die Lieblinge der Justiz" sind ein aufwühlender und verstörender Roman in Episoden. Recht oder Gerechtigkeit erscheinen als Vabanque-Spiel, als absurd-komischer Reigen von historischen, menschlichen Kuriositäten. Die Übersetzung besorgte Sabine Stöhr, eine erfahrene Übersetzerin dieses Autors, der ihre Übertragung des Romans ins Deutsche als "absolut perfekt" lobt. Da Andruchowytsch selbst der deutschen Sprache bestens mächtig ist, will das etwas heißen.

LERKE VON SAALFELD

Juri Andruchowytsch: "Die Lieblinge der Justiz". Roman.

Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 298 S., geb., 23,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension

Die hier zum Roman zusammengefassten, literarisch aufbereiteten Kriminalfälle stammen alle aus der Realgeschichte und spielen in Galizien, weiß Rezensent Christoph Schröder. Ob es um einen adeligen Mörder im Zentrum eines Kreises von Banditen aus dem 17. Jahrhundert oder um die Erschießung der "Feinde des Dritten Reiches" von 1943 in Iwano-Frankiwsk geht: Jeder Fall wird vom Autor so aufbereitet, dass er zwar nicht die Schuld der Täter zurücknimmt, aber zeigt, dass Rechtsprechungssysteme nicht ausreichen, um menschliches Handeln eindeutig einzuordnen, so Schröder. Dafür braucht es die Literatur, hat der Kritiker gelernt.

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»Der Autor geht nie einen geradlinigen Weg und bringt den Leser stets aufs Neue in Verwirrung. Mit Witz und Aberwitz, mit Sarkamsus und Ironie spielt er seine Verbrecherszenarien durch. Die Sprache funkelt wie in einem Kaleidoskop.« Lerke von Saalfeld Frankfurter Allgemeine Zeitung 20200715