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Die Rede von kultureller Aneignung ist allgegenwärtig. Infrage steht mit ihr gerade für eine progressive politische Position die Legitimität kultureller Produktion, die sich an den Beständen anderer, ihr »fremder« Traditionen bedient. Während viele diese als eine Form des Diebstahls an marginalisierten Gruppen kritisieren, weisen andere den Vorwurf zurück: Er drücke eine Vorstellung von Identität aus, die Berührungspunkte mit der völkischen Rechten aufweise. Tatsächlich, so zeigt Jens Balzer, beruht jede Kultur auf Aneignung. Die Frage ist daher nicht, ob Appropriation berechtigt ist, sondern…mehr

Produktbeschreibung
Die Rede von kultureller Aneignung ist allgegenwärtig. Infrage steht mit ihr gerade für eine progressive politische Position die Legitimität kultureller Produktion, die sich an den Beständen anderer, ihr »fremder« Traditionen bedient. Während viele diese als eine Form des Diebstahls an marginalisierten Gruppen kritisieren, weisen andere den Vorwurf zurück: Er drücke eine Vorstellung von Identität aus, die Berührungspunkte mit der völkischen Rechten aufweise. Tatsächlich, so zeigt Jens Balzer, beruht jede Kultur auf Aneignung. Die Frage ist daher nicht, ob Appropriation berechtigt ist, sondern wie man richtig appropriiert. Kenntnisreich skizziert Balzer im Rückgriff auf die Entstehung des Hip Hop wie auf die erstaunliche Beliebtheit des Wunsches, »Indianer« zu sein, in der bundesdeutschen Nachkriegszeit eine Ethik der Appropriation. In ihr stellt er einer schlechten, weil naturalisierenden und festlegenden, eine gute, ihre eigene Gemachtheit bewusst einsetzende Aneignung entgegen.Ausgehend von dem Denken des Kreolischen Édouard Glissants und Paul Gilroys »Schwarzem Atlantik« sowie der Queer Theory Judith Butlers wird eine solche Aneignungsethik auch zur Grundlage eines aufgeklärten Verhältnisses zur eigenen Identität.
Autorenporträt
Jens Balzer, geboren 1969, lebt in Berlin und ist Autor im Feuilleton von DIE ZEIT.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Kai Spanke macht sich mit Jens Balzer und seinem Essay Gedanken über kulturelle Aneignung und das Überschreiten geschlechtlicher Normen mit Winnetou. Handelt es sich um Rassismus oder linke Besessenheit, wenn Appropriation im Spiel ist? Balzers Idee, dass es "geschlossene kulturelle Traditionen" nicht gibt, und sein Vorschlag, zwischen "guter" und "schlechter" Appropriation zu trennen, lassen Spanke keine Ruhe, weil er die Grenzen der "hegemonialen Mehrheitsgesellschaft" nicht ohne weiteres erkennen kann. Wenn Balzer mit Butler, Deleuze und Glissant, aber auch mit Rappern wie Afrika Bambaataa das Heterogene feiert, bleiben bei Spanke Zweifel. Lesenswert und diskussionswürdig findet er den Band aber allemal.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.09.2022

Alles ist
kreolisch
Es gibt keinen Grund, die Kritik an der Idee der
„Kulturellen Aneignung“ den Konservativen
zu überlassen. Der Poptheoretiker Jens Balzer
wagt einen skeptischen Blick von links
VON KLAUS WALTER
Am 15. Dezember 1973 singt Erna Raad bei Dieter Thomas Heck in der „ZDF-Hitparade das Lied „Halbblut“, die Geschichte eines Mädchens, das aufgrund seiner, nun ja, roten Hautfarbe diskriminiert wird. Das Lied hat folgenden Text: „Sie sagten: Schau dich mal im Spiegel an / Halbblut, sagten sie zu mir / Halbblut, du bist nicht so wie wir / Halbblut, so sagten sie, du störst / Kannst du denn nicht hingeh’n, wo du hingehörst?“
Um ihre Erfolgschancen zu steigern, hatte sich Erna Raad den Namen Joy Fleming zugelegt. Ihren Mannheimer Dialekt konnte Erna allerdings nicht ablegen, kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, die weiße Joy für eine Amerikanerin zu halten. Neben dem englischen Namen eignet sich Erna/Joy 1973 einen Nummer-eins-Hit der US-Charts an, „Halfbreed“, gesungen von Cher. Ihr Vater habe eine „pure Cherokee“ geheiratet, singt Cher, die Verwandtschaft der Mutter habe sich ihrer geschämt. Die „Indians“ dagegen sagen, sie sei dem Gesetz nach eine Weiße. Weiße Männer wiederum adressieren sie als „Indian Squaw“. Halfbreeds Haupt-Accessoire ist ein Warbonnet, jener hierzulande rund um den Rosenmontag verbreitete opulente Federschmuck, der eigentlich Männern vorbehalten ist, und zwar besonders tapferen Männern indigener Völker aus Nordamerika. Cher betreibt hier also „Ethnic Drag“ gleich in doppelter Ausführung: Sie schlüpft in ein Kostüm, das eigentlich indigenen Männern vorbehalten ist. Performativen Maskeraden wie dieser verdankt sie übrigens ihren Ruhm als Schwulenikone und Darling vieler queer folks.
Aber darf die das, im autobiografischen Modus („I’m Halfbreed“) von ihrer doppelten Diskriminierung singen, kostümiert in „Double Ethnic Drag“? Wie alle Fragen, die mit „Darf“ oder „Dürfen“ anfangen, ist diese Frage unterkomplex und trägt mehr zur Polarisierung bei als zur Aufklärung.
Hat Cher sich auf illegitime Weise fremde Eigenschaften, Identitäten angeeignet und so andere enteignet? Hat sie sich mit fremden, mit falschen Federn geschmückt? Ist Cher Cherokee? Oder anders gefragt: Darf nur eine Angehörige einer diskriminierten Gruppe ihre Stimme gegen nämliche Diskriminierung erheben?
Solche Fragen werden bevorzugt von rechts gestellt, sie spitzen die komplizierte Gemengelage tendenziös zu und werden reflexhaft beantwortet mit dem Mantra derer, die sich bevormundet fühlen von der Cancel Culture, unterdrückt von der Diktatur der politischen Korrektheit: Das wird man doch wohl noch sagen dürfen!
Diese Kritik durch Überspitzung, das zeigt der Poptheoretiker Jens Balzer in seinem Buch „Ethik der Appropriation“, ist stets interessengeleitet . Das Zerrbild einer verbohrt-fanatischen linken Cancel Culture dient Konservativen bis Rechten als Zielscheibe im Kulturkampf, wie zuletzt etwa die von der Bild-Zeitung befeuerte „Rettet Winnetou“-Kampagne zeigt.
Dabei gibt es Gründe genug, kulturelle Appropriationen zu kritisieren. An ausgesuchten Beispielen belegt Balzer die mannigfaltige „Verschränkung aus kultureller An- und Enteignung“ im Pop, die dazu führt, dass Elvis Presley oder Eric Clapton als historische Profiteure der Appropriation dastehen: Der eine wird „King of Rock ’n’ Roll“, der andere „König des Blues“, weiße Musiker, die schwarze Musik auf den weißen, strukturell rassistischen Markt tragen. Allerdings, und da wird es interessant, nimmt Balzer auch die statischen, mitunter biologistischen Konzepte von Identität auseinander, die linker Kritik an kultureller Aneignung oft zugrunde liegen. Da hilft wieder Cher weiter, ein Bilderbuchkind des Einwanderungslandes USA, geboren 1946 als Cherilyn Sarkisian.
Vater John kommt in Kalifornien als Sohn armenischer Geflüchteter zur Welt, Mutter Jackie Jean Crouch hat englische und deutsche Vorfahren, auch Leute irischer, niederländischer und französischer Herkunft finden sich im Stammbaum. Und Cherokees? Da streiten sich die Ahnenforscher, die Quellenlage ist unklar. Lange habe die Sängerin bestritten, von Indigenen abzustammen. Dann aber, just als die Single „Halfbreed“ die Charts entert, so die Website „The Controversy of Cher’s Heritage“, erinnert sie sich plötzlich, „that she was 1/16th Cherokee on her mother’s side“.
Als Sechzehntel-Cherokee bringt Cher also die identitäre Authentizität mit, um glaubwürdig die Anliegen ihrer „Halfbreed“-Persona vorzutragen? Die Gesetze des Pop, sie haben oft ihren ganz eigenen Humor. Und die Aporien der Appropriation ihre ganz eigenen Tücken.
Um essenzialistische Identitätsmodelle und die damit einhergehenden Reinheitsgebote zu unterlaufen, beruft sich Balzer auf einschlägige Verfechter des Hybriden, der Heterogenität, der Vermischung, der Dekonstruktion: auf Gilles Deleuze, Judith Butler, den karibritischen Autor Paul Gilroy („The Black Atlantic“). Und vor allem auf den postkolonialen Theoretiker Édouard Glissant, dessen Begriff der Kreolisierung Balzer für sein fluideres Identitätsverständnis adaptiert: „Der Begriff ,kreolisch‘ fasst kulturelle Identität als geprägt von einer Kultur, die durch die unablässige Vermischung der verschiedensten Einflüsse und Traditionslinien entsteht“, schreibt Balzer. Diese Kultur der „Mestizen“ stehe „jeder Idee einer kulturellen Reinheit und auch jeder Idee homogener kultureller Traditionen entgegen, die sich einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zuordnen lassen. Das stimmt für den Hip-Hop, (…) aber Édouard Glissant geht noch weiter. Schon der Jazz ist für ihn nicht ,schwarz‘, sondern kreolisch“.
Wenn man eine afrikanische Rhythmik nehme und westliche Instrumente, Saxophon, Geige, Klavier, Posaune, dann ergebe das den Jazz. Das nenne er Kreolisierung, habe Glissant 2007 in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung gesagt. Er sei sich sicher, „dass die Asiaten und die Hispanos, die Weißen und Schwarzen in den Städten Kaliforniens einmal etwas Neues hervorbringen, das genau so wunderbar sein wird wie der Jazz“. Also: Kein Pop ohne Zitat, Sampling, Vermischung, kein Pop ohne Aneignung. Balzer zitiert Gilroys Diktum, nach dem Hip-Hop eine „genuin hybride Form“ ist, und dekliniert das durch an frühen Rap-Acts wie Afrika Bambaataa oder Public Enemy. Denen bescheinigt er eine gelungene „Counter Appropriation“, eine Gegen-Aneignung, wenn etwa Public Enemy in „Fight The Power“ den König des Rock ’n ’Roll vom Sockel holen: „Elvis was a hero to most, but he never meant shit to me.“
Gegen Ende des Buches kommt Balzer zu seinem Hauptanliegen, der „Unterscheidung zwischen guten und schlechten Appropriationen“. Der erklärte Fan des Hybriden schwingt sich zum Oberschiedsrichter auf, mit hehren antirassistischen Motiven: Hier die gute Aneignung, in der Regel die „Counter Appropriation“ von ausgebeuteten Schwarzen Acts. Dort die schlechte, böse Aneignung, in der Regel von ausbeutenden Weißen.
Als würde Balzer der von ihm selbst gefeierten Hybridität, dem uneindeutig Schillernden doch nicht ganz über den Weg trauen, propagiert er ein schön übersichtliches, manichäisches Weltbild, in dem sich die gute von der bösen Appropriation sauber unterscheiden lässt.
Dabei stimmt sie doch selten, die Standardgleichung Aneignung gleich Enteignung, vielmehr müssen in jedem Einzelfall Ambivalenzen betrachtet werden, muss abgewogen werden, was überwiegt: die Ausbeutung des Appropriierten oder seine Sichtbarmachung? Ja, keine weiße Band hat so viel Geld mit der Adaption schwarzer Musiken verdient wie die Rolling Stones, die alte R&B-Coverband, wie Paul McCartney sie elegant zu beleidigen pflegt. Aber ebenfalls ja, die Stones haben darauf bestanden, dass ihre schwarzen Vorbilder mit ihnen in TV-Shows auftreten, sie haben dem Blues-Veteranen Howlin’ Wolf mit ihrem Album „London Sessions“ eine Plattform geboten.
Ambivalent eben – wie „Renaissance“, das neue Beyoncé-Album, ein Prachtexemplar für die Kulturtechnik: Appropriation als Hommage. Das Halbnackt-auf-Pferd-Cover beispielsweise kann als Verbeugung vor Bianca Jagger gelesen werden, die 1977 auf einem Schimmel ins Studio 54 einritt – ein Geschenk ihres Gatten Mick. Das Bild wurde über Nacht ikonisch, es war die Hochblüte von Disco, und unter den diversen Renaissancen, die Beyoncé auf „Renaissance“ zelebriert, spielt Disco eine wichtige Rolle. Queen Bey legt die Hommage-Karten demonstrativ auf den Tisch, wenn sie Donna Summers Disco-Monolithen „I feel love“ sampelt, adaptiert, appropriiert und den Song auch noch „Summer Renaissance“ tauft. Übrigens nicht Beyoncé erste Summer Renaissance, 2003 hatte sie „Love to love you baby“, den anderen Megahit des Discostars, auf ähnliche Art für „Naughty Girl“ recycelt, quasi eine Auto-Appropriation.
Eine heikle dazu, denn unklar bleibt: Cui bono? Wer nützt wem? Beutet Beyoncé ihre – verstorbene – Kollegin aus? Oder profitieren Summers Nachkommen von dieser Aneignung? Anders als in seinem Buch spricht Jens Balzer Beyoncés Kulturtechnik Appropriation als Hommage in einem Artikel der Zeit an: „Renaissance lässt sich im weitesten Sinne als Potpourri tanzmusikalischer Stile von den 70er-Jahren bis heute beschreiben. Das kann man als schöne Hommage an die schwarze und queere Clubkultur von Disco über House bis zur aktuellen Elektronik-Avantgarde beschreiben oder als hässliche Ausbeutung von subkulturellen Erzeugnissen durch eine Pop-Milliardärin.“
Abgesehen davon, dass es sich bei den hier „ausgebeuteten“ Welthits von Donna Summer oder Robin S. um alles andere als subkulturelle Erzeugnisse handelt, könnte man Balzers Entweder-oder durch ein Sowohl-als-auch ersetzen und käme der hybriden Wahrheit näher. Dann wäre „Renaissance“ beides: schöne Hommage und hässliche Ausbeutung. So bleibt das spürbare Unbehagen des Kritikers an der Ambivalenz der wunde Punkt seiner „Ethik der Appropriation“.
Die Gesetze des Pop
haben oft ihren ganz
eigenen Humor
Balzers Hauptanliegen ist die
„Unterscheidung zwischen guten
und schlechten Appropriationen“
„Renaissance“, Beyoncés neues
Album, ist ein Musterbeispiel
für Aneignung als Hommage
Jens-Balzer:
Ethik der Appropriation. Matthes & Seitz,
Berlin 2022.
87 Seiten, 10 Euro.
Laut Eigenauskunft zu einem Sechzehntel Cherokee: Cher im Jahr 1977.
Foto: Harry Langdon/Getty
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