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"Moses der Ägypter" ist ein Text von Hans Blumenberg, in dem dieser sich mit zwei prägenden Figuren der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigt: Sigmund Freud und Hannah Arendt. Entstanden Ende der 1980er Jahre, aufbewahrt in der Mappe "Unerlaubte Fragmente", gehört er zu den vielleicht spektakulärsten Stücken aus dem Nachlass des Philosophen.
Blumenberg setzt ein mit Freuds im Jahr 1939 publiziertem Alterswerk Der Mann Moses und die monotheistische Religion, das er als dessen "große und letzte Kränkung der Menschheit in Gestalt ihrer Leidendsten" bezeichnet, und geht dann über
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Produktbeschreibung
"Moses der Ägypter" ist ein Text von Hans Blumenberg, in dem dieser sich mit zwei prägenden Figuren der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigt: Sigmund Freud und Hannah Arendt. Entstanden Ende der 1980er Jahre, aufbewahrt in der Mappe "Unerlaubte Fragmente", gehört er zu den vielleicht spektakulärsten Stücken aus dem Nachlass des Philosophen.

Blumenberg setzt ein mit Freuds im Jahr 1939 publiziertem Alterswerk Der Mann Moses und die monotheistische Religion, das er als dessen "große und letzte Kränkung der Menschheit in Gestalt ihrer Leidendsten" bezeichnet, und geht dann über zu einer an Schärfe kaum zu überbietenden Auseinandersetzung mit Arendt und ihrem Buch Eichmann in Jerusalem. Sowohl bei Freud als auch bei Arendt sieht Blumenberg einen Rigorismus am Werk, der im Namen der Wahrheit auftritt, aber in Rücksichtslosigkeit umschlägt, weil er blind macht für das Politische und taub für das Unfassliche.

"Wie Freud den Mann Moses seinem Volk genommen hatte, nimmt Hannah Arendt Adolf Eichmann dem Staat Israel" - so lautet eine der vielen bemerkenswerten Schlussfolgerungen in diesem dichten Text, der auch etwas von Blumenbergs Haltung zum Judentum und zum Zionismus preisgibt. "Moses der Ägypter" wird hier erstmals vollständig publiziert - versehen mit Kommentaren des Herausgebers und ergänzt um weitere Texte aus dem Nachlass zu diesem Themenfeld.
Autorenporträt
Blumenberg, HansHans Blumenberg wurde am 13. Juli 1920 in Lübeck geboren und starb am 28. März 1996 in Altenberge bei Münster. Nach seinem Abitur im Jahr 1939 durfte er keine reguläre Hochschule besuchen. Er galt trotz seiner katholischen Taufe als 'Halbjude'. Folglich studierte Blumenberg zwischen 1939 und 1947 mit Unterbrechungen Philosophie, Germanistik und klassische Philosophie in Paderborn, Frankfurt am Main, Hamburg und Kiel. 1947 wurde Blumenberg mit seiner Dissertation Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel promoviert. Hier habilitierte er sich 1950 mit der Studie Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls. Sein Lehrer während dieser Zeit war Ludwig Landgrebe. Im Jahr 1958 wurde Blumenberg in Hamburg außerordentlicher Professor für Philosophie und 1960 in Gießen ordentlicher Professor für Philosophie. 1965 wechselte er als ordentliche

r Professor für Philosophie nach Bochum und ging im Jahr 1970 an die Westfälische Wilhelms-Universität Münster, wo er 1985 emeritiert wurde. Blumenberg war Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz (seit 1960), des Senats der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Mitgründer der 1963 ins Leben gerufenen Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik«.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Lothar Müller nimmt sich den kaum 12 Seiten langen Essay des Philosophen Hans Blumenberg vor und stellt fest, dass der von Ahlrich Meyer aus dem Nachlass publizierte, wie er findet, aufschlussreich kommentierte und mit Exzerpten und Vorarbeiten angereicherte Text den Doppelangriff Blumenbergs auf Freuds "Mann Moses" und Arendts "Eichmann in Jerusalem" zwar in seiner ganzen Schärfe dokumentiert, aber auch seine Schwächen offenbart. Etwa dahingehend, dass sichtbar wird, wie wenig Blumenberg sich mit der eher geringen Wirkung von Freuds Schrift befasst oder mit der Kontroverse, die Arendts Text auslöste. Müller untersucht die Parallele zwischen Freud und Arendt und kommt zu dem Schluss, dass der Autor zwar seine Mythisierung der Geschichte verteidigen kann, indem er Arents Eichmann-Bild kritisiert, die Analyse des Gesamtkomplexes darunter jedoch letztlich leidet.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.02.2015

Sie hätte dieses Buch nie schreiben dürfen
Eichmann und die Folgen: In einer heute aus dem Nachlass publizierten Schrift geht der Philosoph Hans Blumenberg scharf mit Freud und Hannah Arendt ins Gericht

Einem Volkstum den Mann abzusprechen, den es als den größten unter seinen Söhnen rühmt, ist nichts, was man gern oder leichthin unternehmen wird, zumal wenn man selbst diesem Volke angehört. Aber man wird sich durch kein Beispiel bewegen lassen, die Wahrheit zugunsten vermeintlicher nationaler Interessen zurückzusetzen ..." - So beginnt "Der Mann Moses und die monotheistische Religion", Sigmund Freuds später Versuch, den besonderen Charakter des Judentums vor dem Hintergrund seiner psychoanalytischen Deutung des Phänomens Religion zu erhellen.

Moses muss dafür zum ägyptischen hohen Beamten, Priester oder Prinzen werden, der dem jüdischen Volk in strenger Wüstenerziehung einen strikten Monotheismus nach dem Vorbild des in Ägypten schnell wieder beiseitegeräumten Aton-Kults auferlegte. Eine Geschichte, die mit der Tötung des Moses durch die überforderten Juden nicht etwa endet, sondern erst wirklich beginnt: Denn erst dieser Mord sorgte dafür, dass der Mechanismus von Verdrängung, Latenz und Wiederkehr ausgelöst wurde, den Freud im Innersten aller Religionen am Werk sehen wollte.

Im Fall des jüdischen Volks sogar auf eine hervorstechende Weise, weil hier der traumatisierende Mord an der Stifterfigur Moses noch einmal wiederholt und verstärkt, was die Tötung des Urhordenvaters durch seine Söhne in urgeschichtlicher Frühe als religiös fortwirkenden Schuldkomplex grundgelegt hatte.

Freud veröffentlichte den "Mann Moses" als Buch 1939 im Londoner Exil, weil er zuvor in Wien befürchtet hatte, die in ihm steckende Religionstheorie könnte die katholische Kirche, an die er noch Hoffnungen als Schutzmacht gegen die Nationalsozialisten knüpfte, zu Angriffen auf die Psychoanalyse reizen. Nach dem Anschluss, dem auch die Kirche nichts entgegenzusetzen hatte, fiel dieser Beweggrund weg, während Rücksichtnahmen auf vielleicht verletzte jüdische Gefühle Freud ohnehin kaum bewegt zu haben scheinen. Als er Arnold Zweig im Sommer 1938 von der brieflichen Bitte eines jungen amerikanischen Juden berichtete, den unglücklichen Volksgenossen doch nicht "den einzigen Trost zu rauben", setzte er das als schlichte Überschätzung einer möglichen Wirkung des Buches beiseite.

Gerade dies aber, "auf dem Höhepunkt von Hitlers Macht" dieses Buch veröffentlicht zu haben, macht Freud ein Text zum Vorwurf, der Ende der achtziger Jahre geschrieben wurde, aber der erst jetzt an die Öffentlichkeit kommt. Er stammt aus dem umfangreichen Nachlass Hans Blumenbergs, erschlossen vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach, aus dem in den letzten Jahren eine Reihe von Büchern ediert wurde. Dass sich in ihm einiges zu Freud findet - Typoskripte und Einträge im riesigen Registerwerk der Karteikarten, auf deren Grundlage Blumenberg seine Texte komponierte -, verwundert nicht. Metaphern und Mythologemen, mit denen Freud Bedeutsamkeit und Anspruch seiner Theorien ins rechte Licht zu rücken suchte, hat sich der Interpret Blumenberg in zu Lebzeiten veröffentlichten Büchern gewidmet.

An Distanz gegenüber diesen Ansprüchen mangelte es dabei nicht. Aber der nun samt Vorarbeiten und thematisch zugehörigen Aufzeichnungen aus dem Nachlass publizierte Text sticht durch seine Schärfe hervor. Dass Freud das Jahr 1939 nicht als "den falschesten Augenblick" für die Veröffentlichung des "Mann Moses" erkannt habe, nimmt Blumenberg als Beleg für Freuds Willen, an seiner Wahrheit festzuhalten, ohne sich um die rings um ihn einstürzende Welt zu kümmern, als "unerschrockener Mann", wie ihn Horaz in einer seiner Oden evoziert.

Wobei Blumenberg diesen "vir impavidus" des Horaz, den selbst die herabfallenden Trümmer des Himmels nicht schrecken könnten, einzig deshalb ins Spiel bringt, weil Freud solchen Stoizismus einmal als typische Haltung eines Narzissten hinstellt. Die Rückanwendung auf Freud lässt dessen "Rigorismus der Wahrheit" unter sein eigenes Verdikt fallen: Ausdruck des Narzissmus eines Autors zu sein, der, den nahen Tod vor Augen, sich bloß noch um seinen eigene Angelegenheit sorgte. Im Zeichen einer Wahrheit, von der er wusste, dass sie nicht tragfähig war und mit der Spekulation über die Geschichte des ägyptischen Moses auf tönernen Füßen stand.

Kein mildernder Umstand wird von Blumenberg für diesen Rigorismus Freuds beigebracht, der seinem Volk eine Analyse anbot, "nicht weil die Wahrheit es frei machen würde, sondern weil der Forscher Freud seit je seine Patienten mit seiner eigenen theoretischen Neugierde identifizierte, auf sie bedenkenlos übertrug, sie hätten die Wahrheit zu lieben und ihr zu dienen". Es wird vielmehr ein Motiv genannt, das nicht gehabt zu haben, obwohl es doch vom Typus seiner Erklärung der Eigenart des Judentums her möglich gewesen wäre, den Vorwurf noch verschärft: Freud habe "nicht einmal an den Mechanismus der Wiederholung [geglaubt], in der nochmals ein Fremder, der vom Wahn des Blutes Besessene, die sublimierenden Züchtigungen der Wüste erneuern und im wildesten Autismus doch nur das Geschichtsinteresse der Gezüchtigten betreiben würde".

Kein Zweifel, dass dieser Fremde Hitler ist, dessen versuchte Auslöschung der Juden hier parallelgeführt wird mit den Züchtigungen der Juden durch einen anderen Fremden, den ägyptischen Moses. Die Passage lässt erkennen, wie weit Blumenberg mit seiner Kritik zu gehen bereit war - bis zur Feststellung, dass letztlich nur noch ein zionistisch als Initiator eines jüdischen Nationalstaats verstandener Hitler als Rechtfertigung für die Publikation des "Mann Moses" im Jahr 1939 hätte gelten können.

Von Freuds "Mann Moses" nimmt Blumenberg den Übergang zu Hannah Arendt und ihrem Buch über den Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem im Jahr 1961. Denn eine "impavida" war auch Arendt in Blumenbergs Augen, die an einer schalen Wahrheit festhielt und nicht sehen wollte, was sie doch hätte sehen müssen - dass der Prozess gegen Eichmann zu Recht kein übliches, nach juristischen Normen ablaufendes Verfahren war. Ein solches Verfahren gar nicht sein konnte, weil singulär war, was in ihm inszeniert werden musste: das als Staatsakt vollzogene Todesurteil über einen Organisator des Genozids, der hingerichtet wurde, um "im Nationalmythos als der bezwungene notwendige Feind aufzugehen, der zwar die Opfer gefordert, zugleich damit ihrem Opfer den einzig noch möglichen Sinn aufgezwungen hatte".

Was Arendt nicht begriffen habe, ist diese mythische Notwendigkeit, an die kein universaler Moralismus, keine Analyse und erst recht kein apolitischer Soziologismus heranreiche, von dem Blumenberg "Die Banalität des Bösen" gezeichnet sah. Nie hätte Arendt dieses Buch schreiben dürfen.

Das ist mehr und anderes, als Arendt ihre Ausführungen über die Rolle der Judenräte und den ausgebliebenen jüdischen Widerstand vorzuhalten. Arendt wollte mit dem Zionismus abrechnen, Blumenberg tritt dem "Nationalmythos" bedingungslos zur Seite. Dessen Prägnanz verlangte, Eichmann nicht als Hanswurst hinzustellen, selbst wenn er das - jenseits seiner Vertretungsfunktion als Feind schlechthin - sogar gewesen wäre. Denn es "gibt den negativen Nationalhelden. Er muss getötet werden wie Moses, obwohl er die Bedingungen der Möglichkeit dieser nationalen Existenz geschaffen hat."

Er sei seinerseits gefasst auf Empörungen, schrieb Blumenberg, wenn er auf Gemeinsamkeiten der Bücher Freuds und Arendts hinweise. Und darauf, dass Arendt Adolf Eichmann dem Staat Israel genommen habe so wie Freud den Mann Moses seinem Volk. Blumenberg, der selbst als "Halbjude" sein Studium der katholischen Theologie abbrechen musste und die letzten Kriegswochen nach vorübergehender Internierung versteckt überlebte, hatte diese Jahre fast nie direkt angesprochen, dem leisesten Verdacht aus dem Weg gehend, seine Biographie könnte ihn zu Urteilen privilegieren; eher noch zu schneidenden Worten neigend, wenn es sich kritische Zeitgenossen mit moralischen Aburteilungen intellektueller Mitschuld oder mangelnden Widerstands im Rückblick zu einfach machten.

Der nun publizierte Text, von Ahlrich Meyer vorbildlich ediert und kommentiert, zeigt einen Blumenberg, der sich nicht ohne weiteres erraten ließ. Von dem man zwar den Nachweis gewohnt war, dass mythisch gestiftete Bedeutsamkeiten nicht einfach im klaren Licht der diskursiven Vernunft zerstäuben, aber doch kaum die unbedingte Verteidigung einer mythischen Notwendigkeit auf letztlich politischem Feld erwartete. Im Extremfall war für ihn darum offenbar nicht herumzukommen. Wenn das Äußerste berührt wurde, ging es nicht mehr um die Arbeit am Mythos, sondern um die strenge Mahnung, ihn nicht anzutasten.

HELMUT MAYER

Hans Blumenberg: "Rigorismus der Wahrheit". "Moses der Ägypter" und weitere Texte zu Freud und Arendt. Hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort von Ahlrich Meyer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 133 S., br., 14,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.03.2015

Einen Hanswurst muss man nicht töten
Aus dem Nachlass des Philosophen Hans Blumenberg wird der Entwurf „Moses der Ägypter“ publiziert. Er enthält eine deutliche Kritik
an Sigmund Freud und an Hannah Arendt, das Schicksals der Juden betreffend. Plausibel aber ist er nicht
VON LOTHAR MÜLLER
Einen großen Karrieresprung tat Adolf Eichmann, als er nach dem Anschluss Österreichs im März 1938 nach Wien geschickt wurde und dort an die Spitze der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ trat. Zu den 45 000 österreichischen Juden, deren „legale Ausreise“ bis September 1938 abgewickelt zu haben er sich rühmte, gehörte Sigmund Freud. Als dieser Anfang Juni aus Wien nach London emigrierte, hatte er im Gepäck das Manuskript des dritten Teils von „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“. Im März 1939 erschien die in London fertiggestellte Buchfassung in Amsterdam.
  Der Philosoph Hans Blumenberg, 1920 in Lübeck geboren, im nationalsozialistischen Deutschland als „Halbjude“ klassifiziert, durfte, obwohl Jahrgangsbester, im Frühjahr 1939 nicht die Abiturientenrede im Lübecker Katharineum halten. Das Studium der Philosophie und Katholischen Theologie musste er 1941 abbrechen. Als „wehrunwürdig“ eingestuft, wurde er 1942 zum Arbeitsdienst eingezogen, Anfang 1945 verhaftet und im Konzentrationslager Zerbst interniert. Er konnte fliehen und bei der Familie seiner künftigen Frau untertauchen, blieb aber bis zum Kriegsende gefährdet.
  Im Jahr 1946 exzerpierte Blumenberg aus Hannah Arendts Essay „Organisierte Schuld“ in der Zeitschrift Die Wandlung die Schlüsselpassage über Heinrich Himmler als „die eigentümliche Figur dessen, der sich rühmen kann, das organisatorische Genie des Mordes zu sein“. Himmler, anders als Goebbels und Hitler ein Spießer durch und durch, habe für die Bedienung der Vernichtungsmaschinerie nicht auf Fanatiker, Abenteurer und Sadisten, sondern auf „jobholders und gute Familienväter“ gesetzt. Arendts frühe Skizze zum Typus des Funktionärs war einer der Ausgangspunkte sowohl für ihre Studie „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ (1955) wie für ihre große Gerichtsreportage „Eichmann in Jerusalem“, deren Buchfassung 1963 erschien.
  Blumenberg hat zwischen 1975 und 1982 Notizen und Exzerpte zu Freuds „Mann Moses“ erstellt. Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“ hat er erst 1978, drei Jahre nach dem Tod der Verfasserin intensiv gelesen und kritisch kommentiert. Aus beiden Konvoluten speist sich der im Nachlass erhaltene Essay-Entwurf „Moses der Ägypter“, den Ahlrich Meyer nun publiziert, aufschlussreich kommentiert und mit Exzerpten und Vorarbeiten angereichert hat. Der schmale, nur mit Mühe auf Buchlänge gestreckte Band (der Haupttext umfasst kaum mehr als 12 Druckseiten) dokumentiert Blumenbergs Projekt eines scharfen Doppelangriffs auf Sigmund Freuds „Mann Moses“ und Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“.
  Der Vorwurf gegen Freud: zur Unzeit vorgenommene, bedenkenlose Publikation einer Enthüllungsschrift, die Moses dem Judentum entführte, zu einem Ägypter und Verächter der Juden machte, zum Heros, den sie ermorden mussten, um sein Erbe, die Befreiung vom Götzendienst, annehmen zu müssen. Der Vorwurf gegen Hannah Arendt: Gefährdung der aus dem Exzess der Verfolgung hervorgegangenen Staatsgründung der Juden durch die Fehldeutung Eichmanns, den der Staat Israel zu Recht zum Hauptschuldigen der Judenvernichtung machte, um sich durch eine negative Gründungsfigur zu stabilisieren.
  „Gefaßt meinerseits auf Empörung, bin ich bestürzt über die tiefliegenden Gemeinsamkeiten des ,Mann Moses’ und des ,Eichmann in Jerusalem’. Gemeinsamkeiten, die sich schon an der Äquivalenz der Wirkungen erfassen lassen. Wie Freud den Mann Moses seinem Volk genommen hatte, so nimmt Hannah Arendt Adolf Eichmann dem Staate Israel.“ Warum tun die beiden das? Blumenberg hält sich mit dem Tatmotiv nicht lange auf. Es steckt in der Formel „Rigorismus der Wahrheit“ (eine Steigerung von „Absolutismus der Wahrheit“). Das Motiv ist, hier wie dort: Narzissmus, so wie ihn Freud selbst an den Versen des Horaz über die Figur des Stoikers im Weltuntergang abgelesen hatte: „. . . und stürzte der Himmel hernieder, ihn schreckten nicht fallend die Trümmer.“
  Blumenberg bereitete, als seine Lektüren von Freud und Arendt sich überlagerten, die Studie „Schiffbruch mit Zuschauer“ (1979) vor. In „Moses der Ägypter“ rücken Freud und Arendt in eine vergleichbare Konfiguration ein. Zugleich aber rücken sie aus der Realgeschichte heraus. Die „Äquivalenz der Wirkungen“, an der sich die Gemeinsamkeit von Freuds „Moses“ und Arendts „Eichmann“ erfassen lasse, behauptet Blumenberg nur. Weder untersucht er die Wirkung der Schrift Freuds (um die es nach der Publikation keine große Aufregung gab) noch befasst er sich – was auffallen muss – mit der Kontroverse um Hannah Arendts Prozessbericht.
  Er attackiert wie viele vor ihm Arendts These, ohne die Zusammenarbeit der Judenräte mit der Vernichtungsmaschinerie wäre die Zahl der jüdischen Opfer weit geringer gewesen. Aber er zieht keine der historischen Untersuchungen über die Judenräte heran. Sein Essay ist vor allem eine nachträgliche Expertise für den Leitenden Staatsanwalt Gideon Hausner, der im Eichmann-Prozess den Angeklagten als Hauptverantwortlichen der „Endlösung“ erscheinen ließ. Gegen das „Ungeheuer“, das Hausner zur Strecke bringen wollte, hatte Arendt ihr Porträt Eichmanns als Verwaltungsmassenmörder und Funktionär der Vernichtung gesetzt.
  Dass ihre Rede von der „Banalität des Bösen“ nicht mit der Banalisierung der Untaten dieses neuen, spezifisch modernen Tätertyps verknüpft ist, konnte Blumenberg nicht übersehen. Seine Anklageschrift setzt denn auch tiefer an. Er wirft Arendt – und zwar dezidiert der Politologin – vor, in ihrer „juridischen“ Berufung auf universelle, institutionelle und rechtliche Werte die entscheidende Dimension des Eichmann-Prozess verkannt zu haben: die politische. Diese politische Bedeutung aber sei an den mythischen Charakter des Prozesses gebunden, an die Verwandlung Eichmanns in den „negativen Nationalhelden als Staatsgründer“.
  Aus dieser Formel geht Blumenbergs Parallelisierung der Schriften von Freud und Arendt hervor: „Er muss getötet werden wie Moses, obwohl er die Bedingungen der Möglichkeit dieser nationalen Existenz geschaffen hat.“ Im Parallelogramm aber steckt die Opposition. Freud rückt aus der Angeklagten-Position heraus und wird zum Zeugen der Anklage gegen Hannah Arendt. Er wird zu Blumenbergs Wunschautor des Buches, das Hannah Arendt hätte schreiben müssen, aber nicht schreiben konnte und wollte. „Was Freud, noch dies erlebend gedacht, auf den ersten Blick verstanden hätte, wäre die mythische Dimension der Tötung des negativen Staatshelden gewesen.“
  Nicht die Parallele Freud-Arendt ist die tragende rhetorische Achse in Blumenbergs Essay, sondern die Opposition von „Sündenbock“ und „Hanswurst“. Den Begriff „Sündenbock“ hatte Eichmanns Verteidiger in seiner Kritik der Staatsanwaltschaft ins Spiel gebracht. Bei Blumenberg ist der Prozess gerade deshalb gerechtfertigt, weil er Eichmann als „Sündenbock“ zur Strecke brachte. Hannah Arendt hatte die „surrealistische“ Kombination von Komik und Grauen in den Äußerungen des Angeklagten beschrieben, seine Aufschneidereien und Lügen, sein Sich-Verschanzen hinter Klischees. Das „Dilemma zwischen dem namenlosen Entsetzen vor seinen Taten und der unbestreitbaren Lächerlichkeit des Mannes, der sie begangen hatte“, sei für jedermann sichtbar gewesen. Ihren Befund „dass dieser Mann kein ‚Ungeheuer’ war“, ergänzte Arendt durch den – unheimlichen! – Verdacht, „dass man es mit einem Hanswurst zu tun hatte“.
  Ein Hanswurst ist mythenuntauglich. Darum muss Blumenberg ihn austreiben – als Gegenfigur seiner Mythisierung der Geschichte wie des Rechts. Sie besagt, „dass der Mörder eines Volkes, der Organisator eines Genozids, dadurch der Gründe eines Staates geworden ist und in einer Art Staatsakt getötet werden muss, wie der biblische Sündenbock getötet wurde.“ Die Legitimität des Prozesses aber wurzelt in einem „Ausnahmezustand“, der nicht nur von fern an Carl Schmitt erinnert. Der Eichmann-Prozess war „ein einziger kriegerischer Akt, die symbolische Tötung eines Feindes – nicht eines Angeklagten“.   
  Ahlrich Meyer schreibt, Blumenbergs Polemik gegen Arendt folge „einem entschieden zionistischen Narrativ“. Blumenberg selbst spricht von zwei Wurzeln des jüdischen Staates: „Zionismus + Eichmann!!“ Der Zionismus erscheint bei ihm als die säkulare politische Kraft, die das mythische Element benötigte, um staatsgründend zu wirken. Blumenberg weiß, dass er mit der – notfalls kontrafaktischen – Identifizierung Eichmanns als des „Hauptschuldigen“ dem Entlastungsbedürfnis vieler Mittäter entgegenkommt. Im Prinzip teilt er Hannah Arendts Kritik an diesem Entlastungsmechanismus. Aber wichtiger ist ihm „der mythische Akt“, der sich „auf eine Figur konzentrieren“ muss, „weil er sonst die Anschaulichkeit nicht erreichen kann, deren jede Begründung von Legitimität bedarf“.
  Selten hat eine Nachlass-Publikation Blumenbergs so plausibel gemacht, warum ihr Autor auf die Fertigstellung oder gar Publikation eines Entwurfs verzichtete. „Man kann nicht beides zugleich haben: die Analyse und den Mythos.“ Der Satz, den Blumenberg gegen Hannah Arendt richtete, gilt auch für ihn selbst.
Hinter dem unbedingten
Verlangen nach Wahrheit soll
ein Narzissmus walten
Eine politische Kraft braucht
den Mythos, um staatsgründend
wirken zu können
          
Hans Blumenberg: Rigorismus der Wahrheit – „Moses der Ägypter“ und weitere Texte zu Freud und Arendt. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort
von Ahlrich Meyer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 134 Seiten, 14 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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»Dem nun bei Suhrkamp erschienenen Band Rigorismus der Wahrheit hat der Herausgeber Ahlrich Meyer viel Sorgfalt angedeihen lassen. Das ist gut so, denn er behandelt ein heikles Thema und konfrontiert den Leser in Bezug auf Blumenberg mit Unerwartetem.« Jürgen Busche der Freitag 20150326