20,00 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Sofort lieferbar
payback
0 °P sammeln
  • Gebundenes Buch

1 Kundenbewertung

Ein großartiges, anarchistisches Sprachereignis: Yade Önders Romandebüt.
Schon immer haben drei Bestandteile ausgereicht, um die Welt neu zu erschaffen und zurück ins Chaos zu stürzen: Vater, Mutter, Kind. Yade Yasemin Önder bringt diese Akteure so virtuos auf Kollisionskurs, dass einem die Luft wegbleibt: ein im schönsten Sinne atemberaubendes Debüt.
Im Jahr nach Tschernobyl wird die Ich-Erzählerin geboren, irgendwo in der Westdeutschen Provinz, als »Mischling aus meiner Mutter und meinem Vater«, wie es heißt. Doch die intakte Kernfamilie währt nicht lange: Der türkische Vater (so
…mehr

Produktbeschreibung
Ein großartiges, anarchistisches Sprachereignis: Yade Önders Romandebüt.

Schon immer haben drei Bestandteile ausgereicht, um die Welt neu zu erschaffen und zurück ins Chaos zu stürzen: Vater, Mutter, Kind. Yade Yasemin Önder bringt diese Akteure so virtuos auf Kollisionskurs, dass einem die Luft wegbleibt: ein im schönsten Sinne atemberaubendes Debüt.

Im Jahr nach Tschernobyl wird die Ich-Erzählerin geboren, irgendwo in der Westdeutschen Provinz, als »Mischling aus meiner Mutter und meinem Vater«, wie es heißt. Doch die intakte Kernfamilie währt nicht lange: Der türkische Vater (so übergewichtig, dass man »fast nichts mit ihm machen kann, was mit Schwerkraft zu tun hat«) stirbt. Alleingelassen ergeben Tochter und Mutter eine toxische Mischung. Der Roman erzählt, wie ein Mädchen hinausfindet aus einer beschädigten Familienaufstellung hinein in eine düster-funkelnde BRD. Er erzählt von einem Großvater mit Loch im Hals, von Sommern in Istanbul, die nach zu heißen Elektrogeräten riechen und nach Anis; von Dingen und Menschen, die auf Nimmerwiedersehen aus dem Fenster fliegen. Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die sich immer wieder verliert und wiederfindet, auseinanderfällt und neu zusammensetzt. Bei alldem bleibt der Vater ein Wiedergänger, der deutlich macht: Auch jemand, der fehlt, kann zu viel sein.

Önders Debüt ist ein wilder Roman über den Körper, über Fremdheit und Ankommen, über Identität und Differenz, der durch seine Kühnheit immer wieder verblüfft: schnell und klug und bei aller Düsterkeit irrsinnig komisch.
Autorenporträt
Yade Yasemin Önder studierte (nach dem Abitur auf zweitem Bildungsweg) Literatur- und Erziehungswissenschaften an der HU Berlin, Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. Ihr erstes Theaterstück 'Kartonage' wurde zu den Autorentheatertagen 2017 eingeladen und am Wiener Burgtheater uraufgeführt. 2018 war sie Gewinnerin des open mike in der Kategorie Prosa, 2019 Preisträgerin des Martha-Saalfeld-Förderpreises, 2020 erhielt sie das Arbeitsstipendium Literatur des Berliner Senats und eine Einladung zum Heidelberger Stückemarkt. 2021 ist sie Stipendiatin der Kulturakademie Tarabya Istanbul.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Rezensent Carsten Otte wird schlicht umgehauen von Yade Yasemin Önders Debütroman. Vom Aufwachsen mit Migrationshintergrund in der alten Bundesrepublik hat der Kritiker schon öfter gelesen, aber definitiv nicht so. In einem temporeichen, geradezu "surreal" sarkastischen Mix aus Familiendrama und Coming-of-Age-Story erzählt ihm Önder von einer bulimischen Teenagerin, deren übergriffiger deutscher Mutter und dem fettsüchtigen kurdischen Vater, der sich versehentlich mit der Säge umbringt. Allein die Schilderung der Beerdigung, bei der die Kulturen zu "Torte und Frikadellen" aufeinandertreffen und die Deutschen die "orientalische" Familie wie im Zoo betrachten, verschlägt dem Rezensenten die Sprache. Die Sexszenen des promiskuitiven Teenagers, die mitunter auch gewaltsam ausfallen, stehen dem in nichts nach, fährt Otte fort. Vor allem aber ist es Önders Sprache, tastend, oft "rotzig", witzig und laut, gelegentlich still, die bei dem Rezensenten lange nachhallt: Sätze wie "expressionistische Gedichtzeilen" liest er hier.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.05.2022

Twix, Nutella
und ich
Zusammen sind sie drei.
Bulimie als Metapher in Yade Yasemin Önders
erstaunlich heiterem Debütroman
„Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron“
VON MIRYAM SCHELLBACH
Gleich am Anfang dieses Debütromans stirbt ein Vater einen spektakulären Tod. Er, der vierhundert Kilo gewogen haben soll, war so schwer, dass die Wiese, auf der er zum Zeitpunkt seines Todes stand, „sich konkav ins Erdreich bog, so schwer, „mit ihm konnte man fast nichts machen, was mit einer Schwerkraft zu tun hatte“, also nichts. Beim Versuch, sich des Walnussbaums im Garten zu entledigen, sägt sich ebendieser Vater in den Körper und verblutet. Die herbeigeeilte Tochter-Erzählerin fasst das Bild etwas apathisch so zusammen: „Blut, überall Blut, es sah aus wie in einem Menschenschlachthaus.“ Dann aber, so heißt es an anderer Stelle, könnte jener Vater auch im Schwimmbad ertrunken sein oder auch einfach nur verschwunden.
Zu den unzähligen Toden des Vaters kommen in Yade Yasemin Önders Roman „Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron“ noch weitere Leuchtfeuer im Konjunktiv: die lebensbedrohliche Essstörung der etwa 30-jährigen Erzählerin und auch ein One-Night-Stand, der unaufgelöst zwischen konsensuellem Gewaltakt und Vergewaltigung flimmert. Schon eines dieser Elemente gäbe genug her für eine psychologische Tiefenbohrung. Zumal sich ja alles recht schön ineinanderfalten ließe. Ein schwergewichtiger Vater, dazu eine Tochter, der von Verwandten wenig subtil geraten wird, besser aufs Essen zu achten, während sie sich vollstopft, um sich dann auf der Toilette den Finger in den Hals zu stecken. Aber nein, dieser Roman ist alles andere als Psychoanalyse-Couch-Geschichte, sondern ein eigensinniger Fundus an Assoziativprosa, etwas grotesk, vor allem aber durchgehend heiter und zugleich ein wenig morbide.
Alle Geschehnisse in dieser Geschichte können so oder auch anders gewesen sein. Die Bulimie, so heißt es frei nach Susan Sontag im Klappentext, soll hier auch Metapher sein. Dazu mag gehören, dass die unzuverlässige Erzählerin mit ihren fabulierenden Mehrfachanläufen die Leserin in einen Zustand durchgehender Skepsis versetzt. So ist es eben mit der Essstörung, bei der nicht nur Freunde und Familie getäuscht werden. In erster Linie belügt die Betroffene sich selbst.
Bulimie als Formprinzip heißt bei Önder auch, dass es eine starke Rhythmisierung des Textes gibt, Ruhe- und Aufregungsphasen, ähnlich denen der Nahrungsaufnahme und -abgabe. Die Aufregung: Prinzipien werden rigoros übertreten („du kannst nichts mehr dagegen tun und fällst in den Teller rein“) und Speisen großzügig zu Freunden erklärt („Pute und Pommes, Twix und Nutella. Zusammen sind wir fünf“). Die Beruhigung: „das Schließen einer Tür und dann, dumpfer, ein Platschen, ein Stöhnen, die Spülung“.
Erbricht sich die Erzählerin, nennt sie das „die sogenannten gegenregulatorischen Maßnahmen“ ergreifen. Damit die Nachbarn nichts mitkriegen, stellt sie Staubsauger und Radio an, zu Beginn der Nahrungsaufnahme kommt außerdem erst das Gesunde, dann das Süße. So bleibt am Ende wenigstens die Salatgrundlage im Magen, wenn alles andere in der Toilette verschwunden ist. Die Verpackungen der Speisen müssen freilich gut im Müll versteckt, die Zunge und das Bad hinterher geputzt werden.
Beschrieben ist diese Banalität der Bulimie im Idiom der Nüchternheit und der irritierenden Klarheit eines Beipackzettels: „Je nach Feuchtigkeitsanteil der zu verspeisenden Speise sollte abgewogen werden, wie viel Flüssigkeit zwischen dem Schlucken getrunken wird. Es empfiehlt sich, im Magen einen Brei herzustellen, der weder zu fest noch zu flüssig ist. Das Entledigen geschieht so auf die sanfteste Weise.“
Yade Yasemin Önder, die bisher vor allem Drehbücher geschrieben hat, wurde 1985 in Wiesbaden geboren. Sie hat als Zeitzeugin erlebt, wie der weibliche Körper zum Diskussionsgegenstand wurde. Sie wüsste davon zu berichten, wie erst Kate Moss in den Neunzigern, dann Heidi Klum in den Nullerjahren das magere Schönheitsideal von jungen Frauen prägten und Anorexie zur Modekrankheit wurde. Oder davon, wie 2017 junge Aktivistinnen unter dem Hashtag „Me Too“ der Öffentlichkeit die Scheuklappen wegtwitterten und das Recht auf den eigenen Körper weg von den Paragrafen in die Lebensrealität karrierebewusster Frauen trugen.
„Me Too“ war eine politische Bewegung. Frauen berichteten von sexuellen Übergriffen und versuchten, sie in einen größeren Rahmen zu stellen, indem sie auch die Machtgefälle thematisierten, die Missbrauch begünstigen. Die Literatur liefert dazu einen anti-analytischen Beitrag. Sie erzählt davon, dass sich manches, und dazu mag der sexuelle Missbrauch oder, im anderen Fall, die kommentierende Aneignung des weiblichen Körpers gehören, zunächst vage anfühlen könne und erst später falsch.
Den Startschuss zu dieser jüngeren Welle eines Erzählens, das toleranter ist gegenüber Mehrdeutigkeit, gab Kristen Roupenian mit ihrer 2017 im New Yorker veröffentlichten Kurzgeschichte „Cat Person“ über einen unglücklichen, von einem Machtgefälle geprägten One-Night-Stand. Die Amerikanerin Roupenian wurde damit über Nacht und Dank Twitter & Co. zum Literaturstar, vielleicht, weil es wohl längst überfällig war, dass auch von sexuellen Grauzonen erzählt wird.
Auch Yade Yasemin Önder leuchtet diese Ambiguität weiblicher Erfahrung von Wehrlosigkeit und Selbstnormierung aus. Manchmal tut das beim Lesen zu weh. Zum Beispiel, als die Erzählerin gewollt-ungewollt mit einem sehr alten, sehr fremden Mann schläft: „Ich weine und eine Träne tropft auf den Penis und perlt ab“.
Ein anderer One-Night-Stand mit einem Unbekannten wird in acht Varianten erzählt, knapp oder ausufernd, mechanisch oder prosaisch, mit vielen Ausrufezeichen oder wie in einem Polizeibericht, der über die Dauer des Aktes („4 Minuten und 3 Sekunden“) genauso unterrichtet wie darüber, dass „4 Milliliter Ejakulat“ und also „102 Millionen Spermien“ am Geschehen beteiligt waren. In jeder der Versionen stellt sich am Ende und also viel zu spät die Frage „So hast du das gewollt?“ Das betreffende Kapitel trägt den Namen „Hymen als Hindernis“. Er ist ein gutes Beispiel dafür, dass ziemlich vielen Formulierungen Önders etwas gelingt, was man vielleicht den Tocotronic-Zauber der Neunzigerjahre nennen könnte: Manches wirkt bemüht verrätselt, aber das stört einen überhaupt nicht, weil es so extrem fein ausgedacht und zusammengebaut ist. Dazu liegt über allem ein Hauch subkultureller Intensität.
Mit den Perspektivwechseln, den mehrfachen Erzählanläufen zur immergleichen Szene nähert sich Önder, die als Drehbuchautorin spürbar große Erfahrung mit atmosphärisch dichten Szenen hat, ihrem literarischen Vorbild, dem auch im Buch erwähnten französischen Schriftsteller Raymond Queneau an. Der hatte in seinen „Stilübungen“ 1947 auf 99 verschiedene Arten die Geschichte einer ganz gewöhnlichen Begegnung zweier Männer in der Pariser Metro erzählt und damit den Beweis geführt, dass gute Literatur ihren Charakter nicht zwingend aus dem Inhalt bezieht. Was natürlich nicht gegen eine gute Story spricht.
Yade Yasemin Önder hat mit Teilen des Romans 2018 den – für den literarischen Nachwuchs wichtigen – Open-Mike-Wettbewerb gewonnen. Damals hieß ihre Geschichte „Bulimieminiaturen“ und glücklicherweise ist auf dem Weg zum Roman das Miniaturenhafte nicht verloren gegangen. „Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron“ ist ein formal herausforderndes, angenehm verstiegenes Buch mit lauter schweren Zeichen, wie Bulimie, Gewalt, und überhaupt, dem ganzen furchtbaren Prozess des Reinwachsens in die ewig unerreichbare Schönheitsnorm.
Man möchte es all jenen als Gegenbeweis verordnen, die meinen, die junge Gegenwartsliteratur sei müde in der Form und erschöpft im Inhalt.
Das Buch ist der Beweis, dass alle,
die die junge Gegenwartsliteratur
für erschöpft halten, falschliegen
Yade Yasmin Önder leuchtet die Ambiguität weiblicher Erfahrung
von Wehrlosigkeit und Selbstnormierung aus.
Foto: Carolin Saage/Kiwi
Yade Yasemin Önder:
Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron.
Roman. Kiepenheuer
& Witsch, 2022.
256 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr
»Yade Yasemin Önder lässt es scheppern, versteht sich aber auch auf die leisen Töne. Sie kann Sätze formulieren, die sich wie expressionistische Gedichtzeilen lesen. Und sie hat ein Gespür für literarische Komik, die nicht nur die Lesenden, sondern eben auch die leidenden Figuren brauchen. Was ein vielversprechender Debütroman.« Carsten Otte taz 20220517