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Ein hochaktueller Essay über ein großes Menschheitsthema: Opfer von Krieg und Gewalt sind in den Medien allgegenwärtig, ob als Bilder von verstümmelten Soldaten, von verängstigten Kindern oder leidenden Zivilisten. Doch wer gilt eigentlich wann und warum als Opfer? Die Historikerin Svenja Goltermann erzählt, wie das Bild des Opfers, das wir heute kennen, sich erst seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet hat: Mit den modernen Gesellschaften entstand das Bedürfnis, die Verluste zu zählen und die Toten zu identifizieren. Zugleich sollte der Krieg humanisiert, Kriegsversehrte sollten versorgt,…mehr

Produktbeschreibung
Ein hochaktueller Essay über ein großes Menschheitsthema: Opfer von Krieg und Gewalt sind in den Medien allgegenwärtig, ob als Bilder von verstümmelten Soldaten, von verängstigten Kindern oder leidenden Zivilisten. Doch wer gilt eigentlich wann und warum als Opfer?
Die Historikerin Svenja Goltermann erzählt, wie das Bild des Opfers, das wir heute kennen, sich erst seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet hat: Mit den modernen Gesellschaften entstand das Bedürfnis, die Verluste zu zählen und die Toten zu identifizieren. Zugleich sollte der Krieg humanisiert, Kriegsversehrte sollten versorgt, Überlebende und Hinterbliebene entschädigt werden. So wurde der Begriff des Opfers nach und nach ausgeweitet, von Soldaten auf die zivile Bevölkerung, von körperlichen Verletzungen bis zur Anerkennung des Traumas als seelische Wunde.
Wer jedoch als Opfer überhaupt benannt und anerkannt wird, war und ist eine Frage von Hierarchien und Macht - und damit ein eminent politisches Problem.
Nominiert für den Bayerischen Buchpreis 2018.
Autorenporträt
Svenja Goltermann, geboren 1965, ist Professorin für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich und Direktorin des dortigen 'Zentrum Geschichte des Wissens'. Sie studierte in Konstanz und Bielefeld, habilitierte sich an der Universität Bremen und war Dozentin an der Universität Freiburg. Ihr Buch 'Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg' erschien 2009 und wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem renommierten Historikerpreis (2008) und als Historisches Buch 2010 der Zeitschrift 'Damals'. Sie ist Mitbegründerin der Online-Plattform www.geschichtedergegenwart.de
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.12.2017

„Ein weites Dach für viele Tote“
Die Historikerin Svenja Goltermann hat ein bemerkenswertes Buch darüber geschrieben, wie die Figur des Opfers in der Moderne
entstand und sich durchsetzte. Und darüber, wie sich der Umgang mit Kriegsfolgen verändert hat
VON ISABELL TROMMER
Das religiöse Opfer ist ein alter Hut. In der Thora oder im Alten Testament etwa ist es eine häufig beschriebene Praxis: die Geschichte von Abraham, der seinen Sohn Isaak opfern soll, Speiseopfer, Schuldopfer, Gaben, um den Zorn Gottes zu mildern. Das Konzept des Kriegs- oder Gewaltopfers hingegen entstand erst viel später. Obwohl der Begriff heute so eine breite Bedeutung hat, war es in Europa bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus nicht üblich, Menschen, die Gewalt ausgesetzt waren oder Schaden erlitten, als Opfer zu bezeichnen. Die in Zürich lehrende Historikerin Svenja Goltermann hat nun eine Abhandlung über die Figur des Opfers vorgelegt, über einen Begriff, „der mittlerweile“, wie sie schreibt, „ein weites Dach für viele Tote abgibt“.
Das Buch diskutiert nicht – oder nur am Rande – den flexiblen Umfang mit dem Begriff Opfer in der Gegenwart, kritisiert oder bejubelt nicht die sogenannte Opferkonjunktur oder das in Mode gekommene Schimpfwort („Du Opfer“). Es handelt sich in erster Linie um eine historische Studie, in der die Autorin zeigt, wie die Figur des Opfers in der Moderne entstand und sich durchsetzte.
Von 1818 bis 1822 forschte der einstige Leutnant Heinrich Meyer im Auftrag der preußischen Regierung in Russland nach den 16 000 vermissten Soldaten, die vom Russlandfeldzug 1812 nicht zurückgekehrt waren. Ein preußisches Hilfskorps hatte damals zunächst an der Seite von Napoleons Grande Armée gekämpft, bevor Preußen eine Allianz mit Russland einging. Die nach dem Krieg erstellten „Meyer’schen Listen“ konnten in zahlreichen Fällen darüber aufklären, wer verstorben und wer noch am Leben war.
Das ist eine erstaunliche Begebenheit, weil sich erst Anfang des 19. Jahrhunderts Praktiken zu etablieren begannen, mit denen sich Wissen über den Tod von Soldaten gewinnen ließ. Solche Praktiken, so Goltermann, seien Teil einer Wahrnehmungsverschiebung gewesen. 1870 etwa führte Preußen Identifikationsmarken für Soldaten ein. Sie waren, wenn sie ums Leben kamen, nicht mehr bloß Tote, sondern tote Individuen. Oder ein anders gelagertes Beispiel: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erprobten Ärzte die Wirkung von Schusswaffen, so wurden bald sogenannte Dumdumgeschosse verboten. Dabei ging es letztlich um Regeln, nicht darum, den Krieg an sich infrage zu stellen. Goltermann spricht von „Bemühungen um eine ‚Zivilisierung‘ des Krieges“; die Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Gewalt entstand. Das geschah im Zuge völkerrechtlicher Entwicklungen wie jenen, die zur Genfer Konvention von 1864 und den Haager Konventionen von 1899 und 1907 führten. Von „Kriegsverbrechen“ sei dann explizit erst nach dem Ersten Weltkrieg die Rede gewesen, als sich belgische, französische, britische und amerikanische Juristen auf die Ahndung der „deutschen Gräuel“ verständigten. Mit dem Ersten Weltkrieg habe man begonnen, Fürsorge für Kriegsgeschädigte zu organisieren. Ansprüche und Forderungen gegen den Staat wurden artikuliert, Kriegsgeschädigte verwiesen auf die Opfer, die sie gebracht hatten. Wenn man heute in der Frankfurter Taunusanlage an einem 1920 eingeweihten Mahnmal vorbeikommt, das eine trauernde Frau zeigt, wundert man sich wenig über den Schriftzug „Den Opfern“. Damals jedoch war die Bezeichnung vergleichsweise neu.
Nach dem Krieg ging es jedoch nicht länger allein um die Opfer der Soldaten, also um die Opfer, die sie für etwas erbracht hatten. Frauen und Kinder als Leidtragende gerieten ebenfalls in den Blick, Menschen, die Opfer von etwas geworden waren. (Die deutsche Sprache hat im Gegensatz zum Englischen keine begriffliche Unterscheidung zu bieten wie die zwischen „sacrifice“ und „victim“.) Ein Artikel in der Zeitung Daily News and Leader über deutsche Luftangriffe auf englische Städte war 1915 mit „The Baby Victim“ überschrieben. Die „unschuldigen zivilen Opfer“ wurden nun also zu einer eigenständigen Kategorie, die sich bald auch beim Roten Kreuz etabliert habe. Das alles sei natürlich keine ungebrochene Fortschrittsgeschichte, darauf weist die Autorin nachdrücklich hin, wurden die Regelungen doch stetig unterlaufen und gebrochen.
Der Begriff Kriegsopfer sei von den Nationalsozialisten in Deutschland institutionell durchgesetzt worden, unter anderem, indem sie die Kriegsbeschädigtenverbände in der Wohlfahrtseinrichtung Nationalsozialistische Kriegsopferversorgung (NSKOV) gleichschalteten. Nach dem Zweiten Weltkrieg war zwar in Deutschland weniger von soldatischen Kriegsopfern die Rede, doch den Opfern des Nationalsozialismus schenkte man erst seit den Sechzigerjahren und dann nur zögerlich Gehör. In den Achtzigerjahren sei es schließlich zu einem kulturgeschichtlichen Wandel gekommen, im Zuge dessen auch die Zeugenschaft und die Erinnerung von Opfern aufgewertet wurden. Aber auch soziale Bewegungen wie die Arbeiter- und die Frauenbewegung oder die wissenschaftliche Disziplin Viktimologie haben zur Etablierung und Ausweitung des Opferbegriffs beigetragen.
Letztlich nennt Svenja Goltermann zwei zentrale Punkte, mit denen sie „den Aufstieg der Figur des Opfers“ erklärt: Zum einen habe die Etablierung der Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Gewalt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Rechtsvorstellungen verändert, eine Entwicklung, aus der unter anderem die völkerrechtlich anerkannte Figur des Zivilisten hervorging. Zweitens nennt die Autorin die Entstehung eines neuen Traumakonzepts. Psychische Leiden wurden von nun an mit Bezug auf äußere Ereignisse oder Erlebnisse erklärt. Ein Beispiel dafür sei die posttraumatische Belastungsstörung, die im Zuge des Vietnamkrieges identifiziert und 1980 offiziell als Diagnose anerkannt wurde.
Svenja Goltermann hat ein bemerkenswert interessantes, erhellendes und gut zu lesendes Buch geschrieben, das erstaunliche Befunde zutage fördert. Man liest es mit Gewinn, weil es gerade nicht den Erwartungen folgt, die sich einstellen mögen, wenn man den Haupttitel „Opfer“ sieht. Das hat auch damit zu tun, dass sich die Historikerin zunächst den Vorbedingungen widmet. Es ist keine Begriffsgeschichte, sondern ein thematisch weit gespanntes Buch, das Versuche, den Krieg zu „zivilisieren“, darstellt und zeigt, wie sich der Umgang mit Kriegsfolgen verändert hat, welche Rolle Individualisierung, medizinische und psychologische Forschung und juristische Entwicklungen gespielt haben. Die Stärke der Studie liegt in den ausgewählten historischen Momenten und in dem Ansatz, den Goltermann verfolgt. Sie beschreibt die Verbreitung und Durchsetzung von Wissen und verliert sich nicht in einer kleinteiligen Darstellung. So bringt es der Zugriff der Autorin freilich mit sich, dass manche Teile des Buches eher lose miteinander verdrahtet sind.
Die Historikerin sieht den Begriff des Opfers letztlich ambivalent, legt er die von Gewalt betroffenen Menschen doch oft auf eine Position der Schwäche fest. Er kann eben auch schlichtweg ein Stigma sein. Sie erinnert aber zugleich daran, dass es der Begriff des Opfers ermöglicht, Kritik an Unrecht und Gewalt zu üben. So ist es am Ende eben nicht nur ein historisches Buch, da es die politische Dimension des Begriffs fest im Blick hat: Nach wie vor hänge es von Machtkonstellationen ab, wer als Opfer anerkannt werde. Machtkonstellationen wiederum können durch die Zeugnisse von Geschädigten ins Wanken geraten – wenn man ihnen denn Gehör schenkt.
Isabell Trommer ist Politikwissenschaftlerin. Zuletzt erschien von ihr: „Rechtfertigung und Entlastung. Albert Speer in der Bundesrepublik“.
Erst im Ersten Weltkrieg
nahm man Frauen und Kinder
als Opfer wahr
Psychische Leiden wurden
erst in der Mitte des
20. Jahrhunderts anerkannt
Svenja Goltermann:
Opfer – Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne. Fischer-Verlag München 2017, 336 Seiten, 23 Euro. E-Book: 19,99 Euro.
Die Neue Wache in Berlin ist Deutschlands zentrale Gedenkstätte für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft; zu Besuch Queen Elizabeth.
Foto: MARKUS SCHREIBER / AP
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.03.2018

Wenn Schwäche als Unfähigkeit gewertet wird

Wir erkennen heute "Opfer", wo frühere Generationen nicht auf die Idee kamen, dieses Wort zu verwenden: Svenja Goltermann erklärt, welche Rolle Recht und Medizin dabei spielten.

Opfer" zu sein ist ein sehr ambivalenter Status. Im Wort klingt die Erfahrung von einer Verletzung, womöglich von erlittenem Unrecht an. Die Schwäche des Opfers kann Reaktionen von Mitleid und Herabsetzung auslösen. Auf jedem Pausenhof verständlich ist das Schüler-Schimpfwort "Du Opfa!" Zugleich kann die Opferposition aber auch Rechte begründen: Opfer können moralisch, politisch und juristisch in sehr machtvollen Stellungen sein, sie können - wie die Terroropfer vom Breitscheidplatz - Forderungen stellen. Manchem sind sie gerade deswegen suspekt. Die Züricher Historikerin Svenja Goltermann hat ein faszinierendes Buch geschrieben, das diesen Aufstieg des Opfers erklärt und schließlich als politischen Fortschritt verteidigt.

Erstaunlicherweise ist es eine jüngere Entwicklung, in so vielen und verschiedenen Zusammenhängen von "Opfern" zu reden: "Kriegsopfer" und Opfer von Gewalt bilden die wichtigsten Gruppen. Zu Recht macht Goltermann immer wieder auf diese historische Wahrnehmungsverschiebung aufmerksam: Wir erkennen heute "Opfer", wo frühere Generationen kaum auf die Idee gekommen wären, dieses Wort zu verwenden. Politiker, Journalisten und Wissenschaftler sahen nur Tote, Vermisste oder Verletzte. Goltermann bringt sehr plausible Belege für den quantitativen Aufstieg in der Sprache. Womöglich hätten hier aber die "digital humanities" und speziell die "Distant Reading"-Methode des italienischen Literaturwissenschaftlers Franco Moretti noch präzisere Befunde geliefert.

Den roten Faden des Buches bilden Dokumente und Diskurse zu den Gewalt- und Leidenserfahrungen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Goltermann erinnert in ihrer Einleitung daran, dass es keinen Deutungsautomatismus gibt, wie Menschen solche extremen Erfahrungen interpretieren. Dies gilt gerade auch für die Auswirkungen von Kriegsgewalt. Aber auch in zivilen Verhältnissen haben sich die Opferzuschreibungen dramatisch vermehrt. Goltermanns interessante These ist, dass überall neues juristisches und medizinisches Wissen ausschlaggebend war. Vielfach hat man den Eindruck, dass die Rede vom "Opfer" die Ausübung illegitimer Gewalt voraussetzt. Weil Letztere sich wiederum nach den Maßstäben des Rechts bemisst, könnte man die Karriere des Opfers als Produkt der Verrechtlichung unserer Lebenswelt begreifen.

Das schlanke Buch erzählt anschaulich von solchen Interpretationsveränderungen. Goltermann verbindet dabei historische Praktiken mit zeitgenössischen Theorien, ihr Schwerpunkt liegt auf Textquellen wissenschaftlicher, rechtlicher oder administrativer Natur. Gelegentlich assoziiert die Autorin Bilder oder eindrückliche Erzählungen aus Romanen oder Filmen. Zu Recht, denn beide Medien haben die Vorstellungskraft tiefgreifend geprägt.

Schon Goltermanns Ausführungen über den Krieg des neunzehnten Jahrhunderts verdeutlichen einen Wandel. Zunehmend interessierte sich die staatliche Verwaltung für den im Ausland verstorbenen Soldaten. Regierungen versuchten, über den Verbleib ihrer Soldaten Rechenschaft abzulegen und Leichen zu identifizieren. Die Erfassung der Toten und der Todesursachen war wichtig für das Militärversorgungs- und Fürsorgewesen. Preußen führte 1870 die Identifizierungsmarke für Soldaten ein. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war es bereits die Norm, dass ein toter Soldat namentlich identifiziert werden musste. Kaum zu unterschätzen ist dabei die normierende Rolle des Völkerrechts in seinen Bestrebungen, den Krieg zu "zivilisieren". Hier wurden neue Standards der Kriegführung verabredet, die legitime von illegitimer Gewaltausübung trennten. Eine solche erschien nun als "Hinschlachten Wehrloser", als Barbarei, und sie erleichterte die Zuschreibung als passives "Opfer". Die Redeweise von "Opfern" beschwor - in oft diffuser Weise - die Schuld und Verantwortung von "Tätern". Zugleich kam die Zivilbevölkerung in den Blick der Theoretiker des Kriegsrechts wie der Aktivisten vom Roten Kreuz. Eine Ausweitung von Opferzuschreibungen wurde in Gang gesetzt, die sich im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts beschleunigte.

Ursächlich dafür war der Ausbau des Sozialstaates mit seinen Versorgungsleistungen und -ansprüchen. Versehrte Soldaten konnten Rentenanträge stellen. Die Erwartung, die damit verknüpft war, ging auf Anerkennung ihres Opfers im Krieg für die Nation. Besser als in ihren Passagen über das neunzehnte Jahrhundert gelingt Goltermann hier für die Zwischenkriegszeit eine überzeugende Verbindung von politisch-militärischen Vorgängen und dem Wandel in der Sprache. Die Nationalsozialisten verherrlichten nicht nur das Opfer, sondern auch wieder den Krieg als solchen. Hier schien nochmals ein Opferverständnis auf, das besondere Nähe zur Figur des religiös-politischen Märtyrers hatte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war in Deutschland eine Heroisierung des soldatischen Opfers diskreditiert. Anders die Sichtweise der Sieger: die Sowjetunion sprach offiziell nur von "Helden" (über die außereuropäische Welt erfährt man in diesem Abschnitt wie auch sonst leider zu wenig). Auch im zivilen Leben blieben die Verhältnisse schwierig. Immer noch war es aber in Europa und den Vereinigten Staaten keineswegs moralisch vorteilhaft, sich als "Opfer" zu bezeichnen.

Es gehört zu den interessantesten Passagen des Buches, wenn Goltermann nachzeichnet, wie sich in den Jahrzehnten nach 1945 die Figur des passiven, unschuldigen Opfers in der kollektiven Wahrnehmung durchsetzte. Zuvor dominierten Zuschreibungen einer wie auch immer gearteten Mitschuld das moralische Feld. In geradezu schockierender Weise wurde manchen Verbrechensopfern automatisch Minderwertigkeiten, Verfehlungen und Makel zugeschrieben, und manches davon hat sich bis heute gehalten.

Dass Verbrechensopfer Entschädigungen beantragen können, liegt erst wenige Jahrzehnte zurück. Heute ist die Opferentschädigung immer dort, wo sie eingeführt wird, ein heißes politisches Eisen. Nach Kriegen und Diktaturen sind die Nöte groß, und entsprechend haben die Kriege in Vietnam und zuletzt Jugoslawien auch unsere Vorstellungen über Opfer, Traumata und Opferrechte medizinisch, moralisch und juristisch gewandelt. Dass Opfer zudem oft unbequeme Mitmenschen sind, ja manchmal zugleich Täter sein können, kommt in dem Buch leider zu kurz.

Neuerdings weht heute jenen, die sich als Opfer bezeichnen, wieder ein kalter Wind ins Gesicht. Die Ausweitung des Opfer-Begriffs mag schon ihren Zenit überschritten haben, mutmaßt Goltermann. Deutlicher als zuvor tritt die Schwäche des Opfers hervor, die als Unfähigkeit interpretiert wird. In rauhen Zeiten wird stattdessen einseitig "Resilienz" gepredigt, die Fähigkeit, Belastungen zu überwinden. Die Autorin erinnert uns hingegen, dass der Opfer-Begriff "die Möglichkeit bereithielt, Kritik an Unrecht und Gewalt zu äußern". Opfer anzuerkennen ist ein notwendiger Luxus, den sich alle Gesellschaften leisten sollten. Wie man gesellschaftliche Narrative von Opfern gestalten kann, ohne zugleich Inferiorität der Betroffenen zu postulieren, bleibt eine Herausforderung.

MILOS VEC.

Svenja Goltermann: "Opfer". Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne.

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017. 333 S., geb., 23,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Rezensent Gottlieb F. Höbli lernt die problematische Geschichte des Begriffs "Opfer" kennen in diesem Buch der Historikerin Svenja Goltermann. Anhand von Einblicken in Medizin, Kriegs- und humanitäres Völkerrecht kann ihm die Autorin anschaulich und faktengesättigt vermitteln, wie sich durch eine veränderte Wahrnehmung von Krieg und Gewalt der Begriff vom "Krüppel zum Kriegsopfer" wandelte und soldatische Opfer in Folge Anerkennung statt Mitleid verlangten. Interessiert liest der Kritiker hier auch nach, wie mit den US-amerikanischen Heimkehrern aus dem Korea- und Vietnamkrieg auch die Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung aufgenommen wurde.  Und auch wenn Höbli Goltermanns Einwänden zur Kritik an einer gegenwärtigen "Opferkultur" und einer "Konjunktur des Opfers" nicht anschließen möchte, kann er die Lektüre dieser lehrreichen Studie unbedingt empfehlen.

© Perlentaucher Medien GmbH
ein Musterbeispiel an Gelehrtheit und Sachkundigkeit. Peter Strasser Die Presse 20180310