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Menschenliebe, Schlitzohrigkeit und Weltuntergang: neue Erzählungen des bulgarischen Melancholikers: In Georgi Gospodinovs Erzählungen begegnen wir hinterwäldlerischen Dorfbewohnern auf dem südlichen Balkan, einem Kind, das nacheinander verschiedene Väter adoptiert, einem Autor, der ganz Lissabon nach einer unbekannten Schönen absucht, und zahlreichen simplen oder auch raffinierten Ehebrüchen; einige Geschichten werfen Blicke in die kommunistische Vergangenheit des Landes und andere in die Zukunft der Menschheit. Wie in der Titelgeschichte die Zeit, die das Licht von der Sonne zur Erde…mehr

Produktbeschreibung
Menschenliebe, Schlitzohrigkeit und Weltuntergang: neue Erzählungen des bulgarischen Melancholikers:
In Georgi Gospodinovs Erzählungen begegnen wir hinterwäldlerischen Dorfbewohnern
auf dem südlichen Balkan, einem Kind, das nacheinander verschiedene Väter adoptiert,
einem Autor, der ganz Lissabon nach einer unbekannten Schönen absucht, und
zahlreichen simplen oder auch raffinierten Ehebrüchen; einige Geschichten werfen
Blicke in die kommunistische Vergangenheit des Landes und andere in die Zukunft der
Menschheit.
Wie in der Titelgeschichte die Zeit, die das Licht von der Sonne zur Erde braucht,
gerade das bisschen Zeit ist, die der Autor dem Leser zur Lektüre des Textes einräumt,
so lauern in vielen Texten Gospodinovs Weltuntergangsgedanken, Sorgen und Trauer
um die Unzuverlässigkeit der Menschen.
Verspielt, elegant und mit allen Wassern der Postmoderne gewaschen, breitet Gospodinov eine Welt vor uns aus, wie wir sie aus seinen beiden Romanen schon kennen - eine Welt, die zwar detailgenau und oft sehr komisch diesseitig ist, aber dennoch mehr den Einfällen und Eskapaden der Phantasie als den Gesetzen der Realität folgt.
Autorenporträt
Georgi Gospodinov wurde 1968 in Jambol in Bulgarien geboren, studierte Bulgarische Philologie in Sofia, redigierte eine Literaturzeitung und arbeitet am Literaturinstitut der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften. 1992 debütierte Gospodinov mit dem Lyrikband "Lapidarium"; eine Auswahl aus seinen Gedichtbänden ist 2010 auf deutsch erschienen, "Kleines morgendliches Verbrechen". Er veröffentlichte Erzählungen, Drehbücher, Essays und eine graphic novel; von seinem "Natürlichen Roman" (1999) liegen mittlerweileÜbersetzungen in 23 Sprachen vor (deutsch bei Droschl 2007), und über seinen zweiten Roman "Physik der Schwermut" (Droschl 2014) schrieb die NZZ: »Gospodinow katapultiert sich selbst in die erste Liga europäischer Autoren mit einem Buch, dessen ebenso komplexer wie komischer ¿Teilchenphysik der Trauer¿ kaum mehr mit Kritik, sondern nur noch mit Begeisterung beizukommen ist.« Gospodinov war Gastautor des Berliner Künstlerprogramms des DAAD 2008, Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin (2012) und hatte im Sommersemester 2015 die Siegfried Unseld Gastprofessur an der Humboldt-Universität inne.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Insa Wilke feiert vor allem eine der hier versammelten Erzählungen des bulgarischen Autors Georgi Gospodinov. "Das Ritual", ein Text, der laut Wilke gekonnt zwischen Literatur und Leben vermittelt, sticht für sie klar heraus durch Klugheit, Witz und genaues Gefühl. Ein Meisterstück inmitten von Etüden, findet sie. Den altmodischen, an "Empathie und Trost" orientierten Literaturbegriff des Autors als selbstgenügsam kann Wilke augenzwinkernd akzeptieren. In den anderen Texten lernt sie das Lebensgefühl der Krise in Parabeln kennen. Fingerübungen von der Rückseite der A-Seite der Geschichten, meint sie. Lauter Ursituationen der Literatur, verpasste Gelegenheiten, Begegnungen, Deja-vus, gruppiert um das Herzstück des Bandes.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.04.2016

Einsamkeit ist ein klebriger Stoff
Tarnung hinter der Imkerzeitung: Georgi Gospodinovs fesselnder Erzählband "8 Minuten und 19 Sekunden"

Ein Blick in den Himmel ist immer auch eine Reise in die Vergangenheit. Denn das Licht braucht Zeit, um das Weltall zu durchqueren, von der Sonne bis zur Erde sind es mehr als acht Minuten. Es könnte also sein, wie Georgi Gospodinov in der Titelgeschichte seines neuen Erzählbandes annimmt, dass die Sonne zum jetzigen Zeitpunkt bereits erloschen ist, wir dies jedoch nicht wissen. Weil das Licht noch unterwegs ist. "Dir bleiben noch 8 Minuten und 19 Sekunden, bis dich die Nachricht von ihrem Tod erreicht." Was wäre nun aber zu tun in diesen Minuten, ehe es dunkel wird? Die wichtigsten Dinge zusammenpacken? Ein letztes Mal von der Lieblingsspeise naschen? Mit Freunden und der Familie telefonieren? Sie zu treffen, dafür wäre es zu spät. Aber dann sind acht Minuten vergangen, und es ist noch immer hell. Wir sind mit Gospodinov noch einmal um die Apokalypse herumgekommen und können seine Geschichte getrost zu Ende lesen, was, wie der Autor verspricht, nicht länger als acht Minuten und neunzehn Sekunden dauert.

Die unter diesem Titel versammelten neunzehn Geschichten des 1968 im bulgarischen Jambol geborenen Schriftstellers schauen mal mit Verzweiflung, mal mit leichtfüßigem Humor in eine düstere Zukunft. Und wie jener Experte für Sonnenuntergänge aus der Titelgeschichte, der sich in dieser herunterkommenen Welt auf den letzten kosmischen Vorhang vorbereitet, machen sich alle darin ihre je eigenen Gedanken über den Untergang. Wobei es sich nicht zwangsläufig um eine globale Katastrophe mit Reitern und Engelsposaunen handeln muss. Wie schon in Gospodinovs Theaterstück "Die Apokalypse kommt um 6 Uhr abends" kann das Ende der Welt auch "etwas sehr Persönliches" sein.

Sein ganz privates Erdbeben etwa hat in "Treffen mit einem Floralier" ein Vater schon hinter sich. Es ereignete sich acht Jahre zuvor, als die sechzehnjährige Tochter verschwand. Seither sucht er sie, und da in seiner Gegenwart Verkehrsmittel nicht mehr existieren, wandert er zu Fuß durch eine Welt, die aus den Fugen geraten ist. In einer anderen, preisgekrönten Erzählung Gospodinovs versucht ein sterbender Vater von seinem Sohn Abschied zu nehmen. Auch hier wird ein zeitliches Vakuum zum Dilemma, denn die väterliche Videobotschaft wird den Sohn, der auf einem fernen Planeten lebt, erst Wochen später erreichen, zu einem Zeitpunkt, da der Vater längst beerdigt ist - auf dem Mond. In "Die Gesichter der letzten Tage" wiederum sieht ein Akkordeonspieler dem Treiben um sich herum zu und begreift wie der Geschichtensammler, den er beobachtet: Im Erzählen liegt die Chance.

Das ist nicht weniger als der Nukleus der Literatur von Georgi Gospodinov. Denn so experimentierfreudig sich das Werk dieses Autors zeigt, das Lyrik, Romane, Theaterstücke, Drehbücher und Opernlibretti umfasst, so ist Gospodinov doch vor allem eines: ein grandioser Geschichtenerzähler und -sammler. Die wichtigste Regel beim Anlocken von Geschichten sei, "dass man keinesfalls wie ein Jäger wirken darf", erläutert er in einer Geschichte mit dem vielsagenden Titel "O, Henry", einer Verbeugung vor dem gleichnamigen großen amerikanischen Kurzgeschichtenautor. Darin tarnt sich der Erzähler mit der "greisenhaft gutmütigen" Imkerzeitung "Biene und Schwarm", während er im Café sitzt und wartet. Auf keinen Fall dürfe man als Schriftsteller erscheinen: "Die Geschichten wittern die Falle sofort." Hier geht es gut aus. Prompt geht ihm ein Fang ins Netz.

Seit seinem auf Anhieb international erfolgreichen Debüt "Natürlicher Roman", das aus der Perspektive eines Fliegenauges geschrieben wurde und im Jahr 2007 auf Deutsch erschien, zählt Georgi Gospodinov mit Übersetzungen in mehr als zwanzig Sprachen zu einem der meistrezipierten Vertreter der zeitgenössischen bulgarischen Literatur. Auch sein letzter Roman, "Physik der Schwermut" von 2011, ist gespickt mit Bildern, Dokumenten und erzählerischen Miniaturen, die nicht anders als die Erzählungen dazu einladen, sich in den Gängen und Fluchten der Gospodinov'schen Gedankenwelt zu bewegen.

Hier wie dort springt er zwischen den Zeiten hin und her, so dass sich neben den dystopischen Skizzen Geschichten finden, die weit zurückreichen in die kommunistische Vergangenheit Bulgariens. Alltag und Abenteuer stehen in diesen wundersamen Fabeln ganz nah beieinander. Da wartet ein Mann vor einem Hotel in Sofia auf seine erste große Liebe, mit der er einst eine Nacht im "Bulgaria" verbrachte. Damals verabredeten sie, ehe sie auseinandergingen, sich am selben Ort vierzig Jahre später wiederzutreffen. Doch dann tritt vor dem Hotel nicht etwa eine ältere Dame auf ihn zu, sondern ein fremder Mann, der dem Wartenden einen folgenreichen Brief übergibt.

Auch in der Fado-Geschichte "Auf der Suche nach Carla in Lissabon" fahndet der Erzähler nach einer Frau. Er sucht sie in der ganzen Stadt, obwohl er weiß, dass er sie niemals treffen darf, um nicht Gefahr zu laufen, die Erinnerung durch eine andere Wirklichkeit zu überschreiben. Auf der Suche ist auch ein kleiner Junge, der während der Stalin-Zeit in einem Kinderheim untergebracht ist und weiß, dass er niemals von neuen Eltern abgeholt werden wird. Doch erst als er gegen sein Schicksal aufbegehrt, in dem er sich den Vater, den er nicht hat, adoptiert, erfährt er, was Verlust bedeutet.

Manche der Erzählungen sind auf Anregungen von außen entstanden, "Tee aus Kirschen" etwa ist eine Fortschreibung von Tagebuchnotizen Tschechows. Auf eine Begegnung Gospodinovs mit einem Fotografen geht die Erzählung "Fotografie" zurück. Dieser hatte Gospodiniv eingeladen, für eine Porträtsitzung auf einen kleinen Friedhof im Südosten Bulgariens zu gehen, den der Autor das letzte Mal mit seiner Großmutter als Neunjähriger besucht hatte. Als er Jahrzehnte später wieder auf dem ausgebleichten Gras zwischen den steinernen Kreuzen steht und das Grabmal seiner Großmutter entdeckt, schiebt sich mit einem Mal die Vergangenheit einer ganzen untergegangenen Epoche vor sein inneres Auge.

Es sind Geschichten wie diese, die zurück in die bulgarische Geschichte führen und die Erfahrung von Auf- und Zusammenbrüchen, Melancholien und Absurditäten jener Jahre aufgreifen, die faszinieren. Weil die Erzählungen wie geöffnete Zeitkaspeln auf uns kommen. Sie verhandeln die Zeit - und beobachten sie beim Vergehen.

SANDRA KEGEL

Georgi Gospodinov: "8 Minuten und 19 Sekunden". Erzählungen.

Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann. Droschl Verlag, Graz 2016. 144 S., geb., 19,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.05.2016

Der aufrecht lesende Mensch
Längst ist der bulgarische Autor Georgi Gospodinov auch außerhalb seiner Heimat ein Star: In seinem neuen Erzählband
„8 Minuten und 19 Sekunden“ sind die herausragenden Meisterstücke von leichten Scherzen und augenzwinkernden Fingerübungen umgeben
VON INSA WILKE
Saßen Sie schon einmal neben einer bulgarischen Saisonarbeiterin mittleren Alters, die Ihnen an zwei Abenden die fünf ermüdend lange Stunden dauernden Videos der Hochzeitsfeierlichkeiten ihres Sohnes zeigt, eine Hochzeit, für die wohl die gesamten Ersparnisse der Familie draufgegangen sind? Auch Sie hätten da nach anfänglich geheucheltem Interesse mit schwindender Geduld und zunehmendem Widerwillen gesessen, um heute jedes Mal Scham zu empfinden, wenn Sie an die Tränen in den Augen der Frau denken und daran, wie sie vertrauensvoll Stolz und Glück mit Ihnen teilen wollte. Wird aus einer solchen Szene Kino?
  „Aus so etwas wird Kino“, denkt in Georgi Gospodinovs Erzählung „Das Ritual“ eine junge Regisseurin und sucht den Kameramann, als sie beobachtet, wie ihre Hauptdarstellerin am Set aus der Rolle fällt: Die Schauspielerin neigt sich in der Drehpause wie eine echte Tochter dem Mütterchen zärtlich zu, das als Statistin an ihrer Seite auftreten sollte. Es ist diese Erzählung, die alle anderen in Gospodinovs Buch „8 Minuten und 19 Sekunden“ belanglos erscheinen lässt. Wie hier durch Klugheit, Witz und Gefühl Literatur ins Leben wechselt, erinnert einen daran, worum es beim Erzählen geht. „Das Ritual“ handelt von den Dreharbeiten zu einem Film. Der Film erzählt die Geschichte einer Hochzeit ohne Brautpaar. Das Brautpaar arbeitet und lebt in Kanada. Die bulgarische Familie kann nicht anreisen, denn das Geld fehlt. Und so beschließt die Familie ohne das Brautpaar ein großes Fest zu feiern, in einem Dorf, in dem nur noch alte Leute leben und einige Kinder, die bei den Großeltern aufwachsen. So die Story, so das Leben.
  Die Regisseurin arbeitet mit echten Dorfbewohnern, es treffen Welten aufeinander. Als die Statisten, wie befohlen, in ihren besten Kleidern zum ersten Drehtag erscheinen, empört sich der Kameramann: „Wir drehen keinen Beitrag über eine Epoche, verflucht, wir machen keinen Film über das Jahr 63 oder 72, wir filmen im Jahr 2007.“ Immer wieder unterbricht das „Stooopp!“ des Filmteams die Dreharbeiten, wenn einer der Alten empört den „Schnaps“ ausspuckt, weil er sich mit Wasser betrogen sieht, oder ein anderer den Lammbraten angebissen hat, obwohl der für den nächsten Drehtag herhalten sollte, oder wenn sich das Dorf mitreißen lässt von seiner Trauer, denn eine „Hochzeit ohne Brautpaar ist ein wahres Begräbnis“.
  Was ist es, das diese Geschichte so besonders macht? Die fliegende Kamera des Erzählers, die mal an jenem Nebenschauplatz, mal in diesem Kopf halt macht und aus den Mosaiksteinchen die epochale Momentaufnahme einer ganzen Gesellschaft zusammenfügt. Die Diskrepanz zwischen dem ökonomischen Denken der filmenden Kreativbranche und der Fähigkeit dieser Dörfler, das Wesen des Films zu erfassen. Das „irgendwie aufrichtige Mitleid mit sich selbst“, das einige Filmleute ergreift, und die „irgendwie“ echte Trauer über die Verhältnisse, die sich bei den Lesern einstellt, als schließlich die letzte Klappe fällt. „Das lebendige Bild rührt sich, lärmt los und zerfällt“ und so die Erzählung.
  Als Georgi Gospodinov, drei Jahre nachdem er die Arbeit an diesem Erzählungsband abgeschlossen hatte, 2015 an der Berliner Humboldt-Universität seine Poetikvorlesung hielt, sprach er über die heilenden, verbindenden Kräfte der Literatur, über Empathie, Trost und Gedächtnis. Er sprach darüber vor dem Hintergrund einer bulgarischen Realität, in der noch das Bild der mit den Werken der bulgarischen Literatur bewehrten Demonstranten lebendig war, die sich 2013 in Sofia einer Phalanx von Polizisten gegenüber sahen.
  Einer Realität, in die Deutschland keine Geflüchteten mehr „rücküberführen“ mochte, wie es eigentlich nach „Dublin II“ vorgesehen war. Und einer Realität, in der zwei bulgarische Generationen im deutschen Dienstleistungssektor arbeiten, in der sich das deutsche Publikum aber wenig für bulgarische Verhältnisse interessiert. Dieser trostlose Untergrund prägt Gospodinovs Romane und Erzählungen.
  Empathie und Trost: Georgi Gospodinov vertritt ein altmodisches Literaturverständnis. Erzählungen wie „Das Ritual“ führen vor, wie großartig der „aufrecht lesende Mensch“ wirken kann. Bei aller Plausibilität der Maxime „Der Mensch wird zum Menschen, wenn er eine Geschichte hat“, die Gospodinov in seiner Vorlesung beschwört, schwingt aber doch etwas Selbstgenügsames mit, wenn die Literatur das unempathische Gemüt ihrer Leser durchlässig machen soll. Diese unzeitgemäße Selbstgenügsamkeit der Literatur erklärt vielleicht, warum einige von Gospodinovs Erzählungen so schwach erscheinen.
  Benannt ist der Band nicht nach dem Highlight „Das Ritual“, sondern nach der ersten Erzählung, die uns Lesern auch die Haltung vorgibt, die wir beim Lesen einnehmen sollen: „8 Minuten und 19 Sekunden“. Diese Zeitspanne bleibt, bis die Welt untergeht. Alle Erzählungen pendeln zwischen der Euphorie über den endlich belebten Augenblick und der Melancholie des Endes hin und her, sind also geprägt von einem Vitalismus, wie man ihn aus der Literatur der Vorkriegszeiten Anfang des 20. Jahrhunderts kennt. Gospodinov gibt diesem Lebensgefühl der Krise in seinen 19 Erzählungen sehr unterschiedliche Gestalten. Mal als ironische Science-Fiction-Miniatur über einen Sonnenuntergangsexperten, der noch rasch Profit schlägt aus dem Apokalypse-Ranking seiner Endzeit. Mal als kühle Liebesgeschichte der verpassten Gelegenheit mit französischem Flair, als hoffnungslose Betrachtung eines verlassenen Jungen und immer wieder als absurde poetologische Parabel im Geiste seiner literarischen Vorgänger Fernando Pessoa, Kafka, Borges.
  Es sind Erzählungen, die sich wie Traumtexte lesen, als würde ihr Autor uns nur das Gerippe der Geschichte präsentieren, ihre B- oder Rückseite, die er uns als das Eigentliche präsentiert und zugleich auf Lücke erzählt. Zum Beispiel, wenn in der Hotel-Erzählung „Do not disturb“ die Anschläge auf die Twin Towers einen geradezu glücklich vorbereiteten Selbstmord vorerst verhindern. Nicht das Außergewöhnliche, sondern die Dinge, die sich in seinem Schatten abspielen, versucht Gospodinov zu erzählen: „Der erste Januar ist immer schwer zu überstehen, du musst mit all der Unbestimmtheit von etwas zurechtkommen, das den Anspruch erhebt, ein Anfang zu sein, in Wirklichkeit aber ein ganz gewöhnlicher öder Nachmittag nach einer schweren Nacht ist.“
  Manchmal kippt genau das in hübsche Harmlosigkeit, wie in „Das Alphabet der Frauen“, einer Erzählung, in der die Erotik der Kunst wörtlich genommen und damit unterlaufen wird. Solche effektvollen, aber doch belanglosen Spiele haben etwas von Fingerübungen, von erzählerischen Scherzen für kundige Leser, denen Gospodinov durch Variation von Ursituationen aus Literatur und Film, wie der Begegnung im Zug, der verpassten Gelegenheit und so weiter, Déjà-vus verschafft. Die Erzählungen dieses Genres wirken wie Kulissen für die bedeutenden Herzstücke des Buchs, zu denen neben „Das Ritual“ auch eine Passage aus „Der Floralier“ gehört, in der Gospodinov uns als „Clochard der letzten Tage“ eine Giacometti-Silhouette in der „Pose eines Menschen, der mit jeder vergangenen Sekunde verlassen wird“ vor den Sonnenuntergang stellt. Gospodinov schreibt: „Und die Trauer des Verlassenen wuchs mit derselben Geschwindigkeit, Zentimeter für Zentimeter und Sekunde für Sekunde. Als wagte er es nicht, schlagartig traurig zu werden, die Schleuse seiner Trauer zu öffnen, die Flüsse des Weinens strömen zu lassen, um nicht seinerseits das Weggehende traurig zu stimmen.“ Das ist pathetisch, und das ist genau die Wahrheit, in diesem Fall über das Wesen der Trauer, wie sie nur ein literarisches Bild zu transportieren vermag.
  Georgi Gospodinov macht aus Lesern Menschen. Er gehört schon zu den Fixsternen der Weltliteratur, er darf es sich erlauben, seine Meisterstücke in das weiche Bett von Etüden zu setzen, wo sie vielleicht auch erst richtig glänzen können. Es ist die gelassene und stille Autorität eines Erzählens mit großem Herzen und genauem Gefühl, das diesen Autor auszeichnet.
Zwischen Melancholie und
Euphorie pendeln viele
Erzählungen in diesem Band
  
    
Georgi Gospodinov:
8 Minuten und 19 Sekunden. Erzählungen. Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzman. Literaturverlag Droschl, Graz und Wien 2016. 114 Seiten, 19 Euro. E-Book 14,99 Euro.
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